Lass die Enttäuschung

Solche Tage nehmen deinem Leben
   Jahre. Mülltonne Tag. Ewigkeiten
Nieselregen, in denen du die dunkle
   Wohnung durchquerst. Du starrst
ins Innenhofgrau, blickst über deine
   Straße hinüber zum Goldbarren der
letzten Bäckerei der Welt, deren Licht
   am Mittag erlischt. Pourtant, lass sie,
diese Enttäuschung, nicht so ein Herz
   in der Brust zu haben, wie sie sagen,
jeder müsste es. Also bist du schlecht?
   Bah, du kennst Eine, die geht täglich
an den schlimmsten Gräben spazieren,
   während du, ja, einkaufst, skrupellos
lachst du hinauf in Krankenhausfenster,
   wo die Alten sitzen und dich ansehen.
Schlapper Rebell! Du müsstest, und so
   müssten wir, aber was? Überall sein.
Lieben, was uns zu lieben ist geblieben.
   Könnte ich eine Wahrheit formulieren,
Getrommel, dass sie durchs Blut pochte,
   vielem gerecht wäre und übrigem etwa
etwas Zuspruch verschaffte. Was soll es,
   am Ende ein Könner zu sein auf einem
winzigen, anderen gar nicht mitteilbaren
   Gebiet? Auch darüber, lass sie, deine
Enttäuschung. Widerstand, ja vielleicht
   muss er unformulierbar sein, Gedicht,
während er in deiner wilden Liebe lebt.

Das sickernde Haus

Nirgendwo. Nirgendwo fühlt sich einer wie du verlorener als auf einem Spielplatz voller Kinder und deren Eltern im Frühling oder, noch schlimmer, Sommer. Warum ist das so, hm? Vielleicht weil das Empfinden einfach keine Pose ist und auch nicht sein will? Wurzeln (Psychologie)? Schuldgefühl (Psychologie)? Ohnmacht! Ohnmacht wohl. Du stehst ohnmächtig vor deiner Unfähigkeit, von dir abzusehen. Ein elender Egoist auf einem Kinderspielplatz. Echt? Oder du bist selber noch immer ein Kind, weigerst dich, erwachsen (geworden) zu sein. Du Elender. Du elendiges ewiges Kind. Das Entscheidende ist die Liebe zu den Kleinen, die Liebe auch zu allen ihren so wundervoll unnützen Spielen. Spiel mit. (25.3.)

Ein uraltes, ein Ur-Bild meines Schreibens: das sickernde Haus. Es war nie am Versickern, immer aber sickerte es. Das bewegliche Haus. Die in den Grund einsickernde Bleibe. Das Feststehende, das sich auf und davon macht. In den Untergrund! Das sickernde Haus. (Woher wusste ich das alles, als ich meine Gedichte so nennen wollte, 1987, vor dreißig Jahren?)

Gib dir einen Straßennamen.

„Wir müssen uns immer wieder klar machen, daß es wichtiger ist, dem Anderen gegenüber menschlich zu handeln, als irgendwelche Berufspflichten, oder nationale Pflichten oder politische Pflichten zu erfüllen. Auch das lauteste Getöse großer Ideale darf uns nicht verwirren und nicht hindern, den einen leisen Ton zu hören, auf den alles ankommt.“ Werner Heisenberg, 1942

Schallen

„Jetzt kenne ich Sie von innen“, sagt dein Arzt zu dir nach 18 Jahren, die ihr euch kennt. Ultraschalluntersuchungen sollen größtenteils abgeschafft werden, sie rentieren sich nicht mehr, heißt es. Der Patient muss sich lohnen, nein hat sich zu lohnen, anderenfalls – bitte der Nächste, der sich lohnt. Dein Arzt schallt dich, er bedient eigenhändig sein mittelalterliches Ultraschallgerät. Er lacht dabei. „Gott!“, sagt er. „Dass ich das noch mal erleben darf!“ (Bergedorf, 14.3.)

„Le vrai, l’autre visage.“ Christian Bobin

Zwei Postkarten von Werner Heisenberg:

„In jedem Fall bemißt sich der Wert einer wissenschaftlichen Leistung nicht nach dem Gegenstand, d. h. nicht nach der menschlichen Bedeutung des zu ordnenden Materials, erst recht nicht nach irgendeinem ,praktischen Nutzen‘, sondern nur nach der Schönheit und nach der fruchtbaren Kraft der ausgesprochenen Strukturen. Immer wieder setzt uns ja in der Wissenschaft das Phänomen in Verwunderung, daß an eine Struktur sich wie von selbst neue Strukturen angliedern und daß dieses Netz von Strukturen schließlich ein großes Gebiet überdeckt, auf das sich die erste Struktur garnicht bezogen hatte. Diese formbildende Kraft einer ausgesprochenen Struktur macht das eigentliche Wesen einer wissenschaftlichen Erkenntnis aus, und an dieser Stelle tritt die enge Verwandtschaft von Wissenschaft und Kunst wieder aufs deutlichste in Erscheinung.“

„Von der Wahrheit wird nicht mehr gefordert, daß sie objektiv, sondern daß sie für alle verbindlich sei.“

Ein ramponierter alter Garten bist du – aber ein wilder immerhin, deinetwegen immer öfter auch gern ein vergessener. Begrüßt wird hier jede verfluchte Krähe.

„I’m no one’s puppet, I’m no one’s fucking puppet.“ Mark Kozelek

Seltsam, wie vertraut nach wenigen Stunden ihrer Vorführungen Akrobaten erscheinen, Clowns und das andere Manegenvolk. „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ – Alexander Kluges Filmtitel wirkt deshalb so zeitlos, weil er auch ein Bild für die Familie an sich darstellt.