Blick für die Wege

So funktioniert Kochen mit Insekten!

Die Siedlungswiese, im Herbst vermoort, im Winter überfroren, in diesem Mai ist sie übersät mit Butterblumen und Dotterblumen. Eine einzige Brennnesselschwemme. (Lokstedt, 14.5.)

Der Widerstand gegen die Sowjet-Doktrin begann in Estland Mitte der Achtzigerjahre, als der Kreml beschloss, den baltischen Vasallenstaat zur Phosphor-Abräumhalde umzufunktionieren. Die Liebe vieler Esten zu den so besonderen Landschaften ihres Landes – flache, lichte Weiten voller Gelb und hellem Grund, die Nähe zum Meer, die Seen, das blaue Geflimmer, die Stille der Ufer, der Uferwälder – sie tut sich auf eigentümliche Weise im Belassen kund, auch im Wieder-Instandsetzen. Dieser Widerstand gegen das Zerstörtwerden ist allenthalben so sichtbar wie spürbar.

An einem Flussufer, einem Knick, einem Zaun entlang, durch die Hecken, mit endlos leichtem Schwung um einen leeren Schulhof … Bewahre dir den Blick, bewahre deinen Blick für die Wege.

Der Inder mit den beiden Huskys, der jeden Vormittag unter dem Fenster vorbeigeht. Immer blickt einer der Hunde zu mir herein – was sieht er? Was sieht er hier bei mir nicht mehr? (Barmbek, 18.5.)

Ein Mitarbeiter bitte an die Spargelschälmaschine!

Tere!

Günter Herburger und seine Frau Rosemarie sind auf tragische Weise umgekommen. Sehr traurig. Einige Jahre lang war mir Herburger sehr nah, kamen häufig seine Briefe, lachten wir miteinander das Lachen der Rebellen, die ihren Überzeugungen selbst nicht ganz über den Weg trauen. Am Ende hatte Günter Herburger keinen Verlag mehr, obwohl seine Gedichtbände viel gelobt und besprochen wurden. Man hat ihn zum alten Eisen geworfen, auch wenn er nie eisern war, immer nur, auch im Extremmarathon, sich und der Welt etwas beweisen musste. Mit Günter Herburger ist einer der letzten feinsinnig-bösen Stilisten gestorben. Die Welt ohne ihn ist eine eklatant ärmere. Berlin wird ihn nicht vermissen. Aber ins Allgäu reißt sein Tod einen Krater von der Größe Berlins. Leben Sie wohl, lieber Günter Herburger, bleiben Sie unterwegs! (3.5.)

Woran es so vielen Jungen von heute zu mangeln scheint, ist nicht Mut, Klugheit, Liebe – es ist die Sorgfalt gegenüber den Gegenständen, das Achtsamsein angesichts der Dinge.

„Es ist sehr modern, Unkraut zu essen“, sagt die Estin.

Über den Emajögi fliegen in hellen und dunklen Scharen Vögel, Wolken, Pulks, Formationen. Gänse, Möwen, Krähen, Dohlen, Sperlinge, Tauben über Tauben. Ein Wind aus Flügeln. Sie sitzen auf den Uferböschungen, als würden sie warten. Worauf wartet ihr? (Tartu, 8.5.)

Die Esten, sagt man mir hinter vorgehaltener Hand, küssen einander nicht zur Begrüßung, berühren einander nicht mal, sagen lediglich: „Tere!“

Die großen, seltsam schlanken Uferbäume, die auch halb im Wasser stehen, umgeben von Dutzenden aus dem Fluss ragenden, kniehohen Abkömmlingen. Luftalgen. Moosgehölz. Die Bäume kommen. Die Bäume als Botschafter.

Abends finden rund um das Sadamateater – das Theater im Hafen – und zwischen den alten Marktständen und der Fischauktionshalle Militärübungen statt. Plakate: „Wir sind stolz auf unsere Grenztruppen …“

Tere!

Das Gequake, das du hörst, ist kein Klingelton-Gimmick irgendeines Smartphones. Es stammt von Enten. Da sind Enten auf dem Fluss mitten in der Stadt und quaken.

Ich habe alle meine Grenzsoldaten entlassen.

Der neue Zentrale Omnibusbahnhof, der „Bussijamma“, bloß ein kleiner Kasten im Vergleich mit dem früheren in der Sowjetzeit, sagt die Estin, die uns durch die Stadt führt, als wäre die ein Freilichtmuseum im Frühling. An den großen Kreuzungen die Einkaufszentren und Malls, äußerlich postkommunistisch, im Innern der Flitter, mit dem sie alle hier so wie ich in leere Träume sinken.

Die Schönheit der Ruhr vor Hagen

The Twilight Sad – No One Can Ever Know

Hamburger Frühlingswind, ein Westwind, der die Meeresfeuchte mit sich führt und anreichert mit den Gerüchen des Erdbodens. Algen und Tulpen. Durch die aufgewühlten Lüfte wirbeln rosa die fingernagelgroßen Kirschblüten. Es gibt in diesen wenigen Tagen des Jahres eine staunende Stille auf den Gesichtern, ein Einverständnis mit dem aufs Neue Verheißenem. (30.4.)

Die Schönheit der Ruhr vor Hagen. Der Herdecker Harkortsee. Das satte Grün, das ich immer schon geliebt habe an Bochum.

Am Vormittag, im hellen Licht, die Verkehrsinseln übersät von gelb aufgeblühtem Löwenzahn. Am Abend die letzten Blütenblätter der Wintergerbera auf den Intarsien. Flaum im Handteller. Zweiter Mai. Pusteblume.

Das Kind hat an diesem Tag seine Leidenschaft für Atome entdeckt.

„Halte gegenüber den Anderen, was du allein dir versprochen hast. Da liegt dein Vertrag.“ René Char