Schlafende Mitbewohner

Im Treppenhaus ein roter, klebriger Fleck auf dem Linoleum, und ich sage zu dem Kind: „Guck, da ist eine Marmelade gestorben.“ Das Kind hält inne, besieht sich lange den Fleck und findet kaum heraus aus seiner Verwunderung. Erst ein Stockwerk tiefer lachen wir, boxen und boxen uns.

Die Mitbewohner sind zurück, nach dreißig Jahren Schlaf.

Es hält nicht, nicht einmal das, was es verspricht, das morsche Gebälk der Erinnerung.

Depeche Mode – Ultra

„Dein Hemd hat dasselbe Muster, dasselbe Hellblau wie der Grund meines Lieblingsschwimmbades.“ (22.7.)

An einem der heißesten Tage des Sommers am Nachmittag im Kino, um noch einmal – zum letzten Mal – „2001 – A Space Odyssey“ zu sehen. 25 Leute in dem raumschiffartigen Saal. Hinter mir ein alter Kerl vom Planeten Schnarch Alpha keucht und keucht und schläft ein. Nach drei Stunden müder Applaus. Ich hatte längere, aufwühlendere Diskussionen mit dem rebellischen Bordcomputer HAL in Erinnerung. Unverändert bombastisch, unpassend und geschmacklos die Musik von Strauß und Strauss. (27.7.)

Nachtigallen-Petition vor dem Roten Rathaus übergeben!

In der kleinen Nische der Reinigung und Änderungsschneiderei des Supermarktneubaus hat der persische Schneider eine Decke unter die elektrische Kleiderbügelstange voller daran aufgehängter Hemden, Mäntel und Hosen gebreitet und schläft dort, im kühlen Schatten auf dem weißen Kachelfußboden.

Brinkmann in Westerstede

Den Opel eines Mitschülers hatte er
in Ocholt gegen einen Poller gesetzt,
keinen Muckser mehr tat der Rekord,
und ein Dichter kannte sich nicht gut
mit Autos aus, so wenig wie in Ocholt,
aber am Bahnhof sah er, die Schmal-
spurbahn fuhr zu der Stadt, wo Hardy
Frerichs wohnte, Westerstede, Brink-
mann war dort die ganzen Jahre nie
gewesen, jetzt sah er auch, weshalb,
die Gleise, die Lok, die Waggons, so
grotesk, am besten wegrennen, weg,
aber das hätte Hardys Kutsche kaum
heilgemacht, außerdem hatte er Kohl-
dampf, zuletzt ja am Morgen in Vechta
ein Schinkenbrot auf die Hand gehabt,
er dachte an die Küche, das Licht und
den Güllegeruch seiner Jugend, Gülle
for ever, o Jesus, zum Glück bald over
and out, er würde Essener sein, dachte
Rolf Dieter Brinkmann, als der lachhafte
Zug ihn durch Westerstede gondelte und
er dieselben stillen Straßen an dem Sonn-
tagmittag sah und dieselben paar people
wie im Schweinezüchterparadies Vechta.
Standen im Nieseln da und sahen ihn an.
Gespenst aus dem Dampf enger Träume.

Rebellion gegen die Würdelosigkeit

Immer mehr meiner Artgenossen und Mitmenschen gleichen Indianern: tätowierten, trunkenen und traurigen Schoschonen oder Komantschen, denen alles geraubt wurde, die dir im Handumdrehen den Skalp rasieren und die verzweifeln an ihrer resignierten Rebellion gegen die Würdelosigkeit. (Essen, 15.7.)

In einer Wolke aus Insekten gegessen. Alle scheinen sie in den Aachener Hitzesommer abgewandert zu sein. Kein Regen seit drei Wochen. (Aachen, 15.7.)

In jedem Garten, an den ich mich erinnere, wuchsen Johannisbeersträucher. Es muss eine Verbindung geben zwischen Erinnerungen und Johannisbeeren.

Gläser gibt es, die sind erst wirklich (auf der Welt), wenn du sie nicht oder nur um ein Haar hast fallen lassen. Dann hältst du sie in der Hand, und sie erwachen. Gewinnt ihre Wirklichkeit Gestalt.

„Grausamer als der April ist die Natter der Zeit.“ Thomas Wolfe

Der Goldstuhl

Wie eine Hand mit acht Fingern
sitzt die Spinne an der Zimmerdecke,
reglos, kopfunter, mit lachendem Scheitel.

Das Kind steigt auf seinen Goldstuhl,
es greift sie, steckt sie sich in die Tasche
und läuft damit in den Garten, den Regen.
Dort erfindet es mit der Spinne Spiele.

Warum hat es so gar keine Angst?
Doch, sagt das Kind, schreckliche.
Ich habe Angst vor nichts, das es gibt,
bloß Angst vor allem, das unsichtbar ist,

dem Wind, dem Herzen und den Gedanken.

Eine Zumutung

„Ein voller Geschmack vom Ende geht dem Gedicht voran. Anfang.“ Jannis Ritsos

Die Supermarkthilfe weiß nicht, was Popcorn ist. „Poppkorn?“ Jemand sagt: „Kino, Essen.“ Da nickt sie, und ihr Gesicht hellt sich auf. (7.7.)

Ich bin eine Zumutung, und ich will auch eine sein. Das ist mein Posten: eine Zumutung.

Die Morgengeräusche im Viertel, Tag für Tag neu, als würde der Tag in dieser nicht blauen, in einer Blaumann-Stunde fertiggestellt, zu Wasser gelassen, als würde in der Frühe die Takelung des Tages aufgezogen und geprüft werden, ob es losgehen kann. (12. Juli)

Sei Baum. Freu dir einen Ast.