Auf Schriften

Auf dem Kombi des Plakatanklebers steht die Wahrheit: INFINITY. Sie klebt und klebt und klebt er an die Wände des Supermarktparkplatzes. (Burg auf Fehmarn, 15.10.)

In der Nacht, als du aufwachst, brennt nirgends ein Licht, in der grauen Ferne über den Feldern ein einziges Schwarz. Mach das Licht an, und es ist Leuchtfeuer. So stellte man Jahrhunderte lang eine brennende Kerze ins Fenster.

Beide Nachbarn tragen schwarze T-Shirts mit weißer Aufschrift. Der eine: „See you in Walhalla“, der andere: „Everything louder than everything else“.

„Here it all is – comprehensible, lovely, a sort of paradise. That this will be taken quite as swiftly as it has been given is difficult to remember.“ John Cheever

Nach zwei Jahren die Lektüre von John Cheevers Tagebuchauszügen beendet – und glücklich darüber, dass er am Schluss der Einträge zwar schwer krebskrank ist, doch lebt: „Ich reiße mir die Kleider vom Leib, lasse sie in einem Haufen auf dem Boden liegen, mache das Licht aus und falle ins Bett.“ Cheever starb wenige Tage später, am 18. Juni 1982, für mich aber lebt er noch heute und begleitet mich durch mein Leben. Großes Glück Johnny Cheever.

Zum ersten Mal seit an die zwanzig Jahren Blumenkohl gegessen, unter Tränen, wie als Kind, nein wieder als Kind.

Das Kind weint einem Stein nach, den es ins Meer geworfen hat, bevor ihm einfiel, dass er dadurch für immer verloren ist. „Er war rosa“, sagt das Kind, „und karamellbunt. Aber seine echten Farben konnte man nicht sehen. Aber ich habe sie gesehen.“

Das Pferd frisst die auf dem Erdboden liegenden, schon roten Ahornblätter. Wie erstaunt es ist, als ich ihm noch immer grüne reiche!

Riesenbubi wird leider zerquetscht. An der Supermarktkasse drängt sich ein junger Typ mit leuchtend blauen Turnschuhen in der Schlange vor und glotzt mich herausfordernd an, ob Widerspruch von mir zu erwarten ist. Ich lächle freundlich, und das verstört ihn, er tappt verstört voran, zahlt niedergeschlagen, verschwindet wie ein Schatten im Licht, und draußen höre ich schon den Schulbus, der ihn gleich überfahren wird. (Burg, 17.10.)

Vor 31 Jahren habe ich mir an diesem Oktobertag meinen schwarzen Alfa Romeo gekauft, Baujahr 1978, eine schrottreife Giulietta, die ich „Satan“ nannte, die ich drei Jahre lang Stück für Stück restaurieren ließ und die ich meiner Stiefschwester lieh, während ich in die Ferien reiste. Einen Schrotthaufen erhielt ich seinerzeit zurück, Ramona aber bliebt unverletzt bei dem Unfall auf der Harburger Brücke, beinahe so unverletzt wie ich.

In den Windböen segelt die Gartenhängematte. Sie will weg.

Die Finken in den Heckenknickbüschen am Ufer des Fehmarnsunds bei Staberhuk, grün, flink, flatternd, tschilpende, umherschwirrende Blätter.

Der parfümierte, stets ganz in Schwarz gekleidete Junge, der von morgens bis abends in sich gekehrt durch den Garten streift. Er könnte ein Dichter sein. Nur liest er nicht, nicht in Büchern jedenfalls. Aber Dichter müssen auch nicht in Büchern lesen. Hauptsache, sie lesen irgendetwas! Bäume zum Beispiel. Oder das Gras.

Die Tippelschritte

Die Tippelschritte der Alten, die ohne Rollator oder Gehhilfe unterwegs sind, voller Vorsicht, voller Zuversicht, voller Vorahnung. (Barmbek, 8.10.18)

Nach zwölf Jahren versuche ich, Notizen und Abkürzungen zu einem seinerzeit aufgegebenen, nein auf Eis gelegten Roman wiederzuentziffern: „AK 464“? – Anna Karenina, S. 464! Ich lese bei Tolstoi nach und finde die berückende, die überbrückende Beschreibung eines alten Gutsbesitzers und Verfechters der Leibeigenschaft.

Auf dem Schreibtisch hat das Kind eine Sammlung von Postkarten mit Motiven von Raoul Dufy liegen.

Nach dem trubeligen Jahrmarkt mit unsichtbaren Karussells in den Messehallen, nach den unzähligen Besuchern in deinem Gesicht, den besuchten Gesichtern, den eingedampften Gesprächen, den Entmutigungen, Enttäuschungen, Erwiderungen auf so viel Gleichgültigkeit – gehen wir in den Park, bestaunen die Vögel und das Wasser und spazieren an den gelben Mauern hin durch die Sonne. Unter einer Trauerbuche liegt auf einer eisernen Bank ein Mann und weint. (Frankfurt am Main, 12.10.18)

„Jetzt aber schwang das wilde Gestöber zwischen den Bergen seine Windpeitschen, die mich trafen, wo ich stand und zusah. Angesichts ihrer Gewalt konnte ich mich bald kaum noch auf den Beinen halten. Und auf dem Wind segelten feinste Disteldaunen aus Schnee, bloße Gazefädchen. Substanzlos wie Luft, nahm ihre Zerbrechlichkeit eine Schwere und Festigkeit des Schnees vorweg, die viele Wochen lang auf dem Land liegen würde.“ Nan Shepherd

„Ich habe geträumt, ich bin ein Pferd“, sagt das Kind.

The Cure – Disintegration

Landgang, der fünfzehnte und letzte

Im Prinzenpalais bleibe ich stehen – ja, wie angewurzelt – vor den berückenden Gemälden des Butjadingers Georg Müller vom Siel, der genau hundert Jahre vor mir zur Welt kam und in Oldenburg aufwuchs. Müller benannte sich nach dem Örtchen Hohensiel und reiste schon als junger Mann nach Amerika und quer durch Europa. Er erlernte sein Handwerk in München, Antwerpen, Berlin. In Paris wurde er Hofmaler von Großherzog Peter II. von Oldenburg. Doch der vielbewunderte junge Landschaftsmaler litt an Niedergeschlagenheit und Halluzinationen. Er glaubte, ein Rennpferd zu sein. „In Paris konsultierte er den berühmten Nervenspezialisten Jolly“, erinnert sich ein Freund. „Schon damals war es ihm, als hätte er Lokomotiven im Ohr.“
Was mich sofort anspricht an den Gemälden Müllers, sind die scharfen Konturen, die Bäume und Wälder, die Gehöfte und Mühlen vor dem Licht über der Weite.
Aber auch die Motivwahl ist eine besondere, die Bescheidenheit, die seltsam ortsgebundene Phantasie. Immer wieder malt Müller vom Siel die Hunte, ja er ist vielleicht der eigentliche Maler der Hunte, wie sie vor hundert Jahren war und wohl nie wieder sein wird.
Auf einer Wanderung durch die Wildeshauser Geest kommt der Anfang Dreißigjährige durch Dötlingen, ein abgelegenes Dorf auf halbem Weg zwischen Delmenhorst und Cloppenburg in von der Hunte durchflossenem Hügelland. Hier findet Müller das ländliche Licht und die Nähe zu dem ihm lieben Fluss, nach denen er gesucht hat, aber wohl ebenso die Stille und Muße, die sein strapaziertes Gemüt nötig haben. Das Bauerndorf Dötlingen wird durch Georg Müller vom Siel nach Worpswede und Dangast zur dritten überregional bekannten Künstlerkolonie im Norden.
Die letzten Jahre vor Ausbruch seiner Verwirrtheit wirkt Müller vom Siel in Dötlingen als Maler und Mallehrer vor allem von kunstinteressierten Frauen, denen nach kaiserlichem Gesetz verboten ist, an Kunstakademien zu studieren. Anna List, Anna Feldhusen, Marie Stumpe, Marie Stein-Ranke, Gertrud von Schimmelmann, Louise Droste-Roggemann, Emy Rogge und andere Malerinnen sowie zahlreiche Maler schließen sich der Künstlerkolonie an der Hunte unter Leitung von Georg Müller vom Siel an.
Für den Maler selbst aber gibt es keine Rettung. 1909, er ist Mitte 40, wird Müller vom Siel in die Nervenheilanstalt Wehnen bei Bad Zwischenahn eingeliefert, wo er für den Rest seines Lebens, bis 1939, lebt.
Er malt, tuscht, aquarelliert noch bis 1930, für bizarr und geisteskrank erklärte Zeichnungen von vermeintlich fiktiven Landschaften, scheinbar autobiografischen Begebenheiten und, schockierenderweise, sexuellen und fäkalen Erlebnissen. Penisse. Penisse in Dötlingen. Penisse in Oldenburg. Penisse in Bremen. Kothaufen. Die grenzenlose Erleichterung nach dem Beischlaf, der in Erfüllung gegangenen Liebe, „Koith“, nennt sie Müller vom Siel, was wie eine Neuschöpfung aus „Koitus“, „keusch“ und „Gott“ klingt. Seine Bilder verknüpfen innigstes Erfahren, Comicstrip-artige Verfahren, ein feines Schriftbild und komplexeste, nach wie vor tabuisierte Bereiche.
Die ganze Kraft und Schönheit seines Blicks kennzeichnet allerdings bereits seine Gemälde von den abgeschiedenen Wäldern über den Huntetälern – die nicht vergessen werden dürfen. Im Oldenburger Prinzenpalais öffnen die Gemälde von Georg Müller vom Siel die Räume, und die Weite kommt zum Vorschein.

Ich komme zum Ende, das heißt komme zurück zum Anfang. Denn wie stets ist das Ende nur ein neuer Anfang. Wir geben nicht auf. Wir fangen stattdessen von vorne an!

Es ist 42 Jahre her, seit mein Bruder und ich gemeinsam mit meiner Großmutter nach Oldenburg fuhren. Am Hunte-Ufer stand das Haus, in dem mein Großonkel wohnte, einen Garten hatte er, der zum Ufer des Flüsschens hinunterführte, groß und in meiner Erinnerung braun war das Haus, der Garten voller Gemüse- und Kräuterbeete, und am Ufer der Hunte, die unterhalb des Hauses gerade mal zehn Meter breit gewesen sein mag, stand ein Holzsteg, der war der Mittelpunkt unseres Oldenburger Sommernachmittags.
In der Stadt, in Oldenburg, habe ich seither bestimmt drei Dutzend Leute gefragt, wo dieses Haus, dieser Garten und dieser Steg gewesen sein könnten. Aber eine schlüssige Antwort habe ich nicht erhalten.
Erst durch meinen Landgang-Aufenthalt in Oldenburg wurde mir klar, dass dieser unvergessene Nachmittag von vor über vierzig Jahren vor den Toren der Stadt stattgefunden haben muss, dort nämlich, wo die Hunte noch ursprünglich anmutet, wo es noch eine Ahnung von der Weite gibt, die 1977 vielleicht noch eine wirkliche war.

Ich schließe mit einem Gedicht über den Hundsmühlener Hunteweg, der heute eine Siedlung ist wie zigtausende in Deutschland. Dort stand das Haus, das es nicht mehr gibt. Dort war der Garten, durch den wir liefen. Nur der Fluss, in den wir Jungs sprangen, ist noch immer derselbe.
Meine Großmutter sagte: „Kommt, los, fahren wir nach Oldenburg zu Kurt!“ Der war ihr ältester Bruder. Von ihm habe ich kaum etwas in Erinnerung behalten. Umso mehr aber davon, wie es war, gemeinsam mit meinem eigenen Bruder in der Hunte zu schwimmen.

Sommertag in Hundsmühlen

Schreiend liefen wir zum Fluss hinunter.
In meiner Erinnerung stößt der Rasen ans Ufer,
und da war ein Steg. Wir rannten
durch den Garten
auf die Planken und sprangen
aus der Sommerhitze in das kalte Wasser.
Es war braun. War stark und schnell.
Die Hunte griff uns um die Beine.
Ich weiß noch, meine Arme,
das Rudern, um am Steg zu bleiben.
Und er zog an mir, der Fluss drückte mich
weg, in das späte Sommerlicht hinein. Aber
schreiend lief ich wieder hinunter zur Hunte.
Und neben mir schneller rannte mein Bruder.
Da war das Gras. Und ich spüre es noch.
Der Fluss der Freund den Nachmittag.
Die Magnolien da. Ein Duft nach Majoran.
Immer wieder schwamm ich zu dem Steg zurück.
Und unsere Großmutter kam und saß mit uns im Gras.

Für Stephan Bonné

*

Abbildungen: Georg Müller vom Siel, Huntelandschaft bei Dötlingen, Öl auf Leinwand 1874 (1); Marie Stein-Ranke, Georg Müller vom Siel, Federzeichnung 1903 (2); Georg Müller vom Siel, Ohne Titel, Tusche auf Papier, ohne Jahr (3); Steg am Hunteweg (2019) (4); Juliette Aubert, Gegenlicht am Hunteweg (2019) (5)