Trauer

Wir dürfen unser
Leben
nicht beschreiben, wie wir es
gelebt haben
sondern müssen es
so leben
wie wir es erzählen werden:
Mitleid
Trauer und Empörung.

GUNTRAM VESPER
28. Mai 1941 – 22. Oktober 2020

*

Salamanca

Ist sie erregt, spreizt sie
das Stirngefieder ab. Sie fliegt
durch ein Fenster, das zersplittert,
aber spürt nichts. Harpyie! Harpyie!
rufe ich. Du sollst nicht nur zerstören.
Sie hört nicht. Als letzter Punkt an ihr
wird auch ihr Auge wild. Sie fängt sich
einen Terrier, eine Balkontempelkatze,
zerhackt, zerpflückt und verdrückt sie
in ihrem Lieblingsforsythiengebüsch
an der Norweger Straße. Einmal,
da jagte sie einer feindlichen
S-Bahn nach. Sie schreit
nur an Nachmittagen. Sie trinkt
wie Kinder auch mit den Augen. Sie lacht
Harpyie! Harpyie! Aber sie hört nicht. Krallen-
füße voran, stürzt sie in Platanen. Krähen
flüchten stumm verstört. Sie kann sehr
sanft sein. Es gibt z. B. ein Foto,
da sitzt sie auf meiner Schulter
und legt mir lächelnd das Schnabel-
haupt auf den Scheitel. Aus Klanggründen
unterstützt sie die Wolverhampton Wanderers.
Salamanca, sage ich, Salamanca, beruhige dich,
keiner außer mir weiß ja, dass du unsterblich bist.
Ihre Hosen sind spätmittelalterliches Trikot. Feinde
ihrer Freiheit überleben zwei Minuten. Ich streichle sie,
ich füttere sie, ich flüstere ihr Keats’ Oden ins Ohr.
Sie kennt keine Ruhe, weder Schlaf noch Traum
und keine Liebe, nur die wildeste Erregung.

Memphis after Elvis

„Diese Tulpen sind die reinsten Junkies“, sagt die Blumenverkäuferin am Hauptbahnhof.

Häng die Bilder ab, die du nicht mehr siehst. Und häng die an die Wand, die dich bestürzen, verblüffen, nicht schlafen lassen, dir die Augen öffnen, dich auffordern, ein Gespräch anzufangen, mit ihnen, mit dir selbst oder wem immer.

Immer habe ich gedacht, es würde keine Rolle spielen, was ich denke in diesem Zirkus der Eitelkeiten und literarischen Meinungsverschiedenheiten – und merke jetzt, wie wenig es die Leute kümmert, was vor sich geht oder nicht passiert, ganz gleich. Und dieser Literaturtingeltangel, von ihm hat noch kaum jemand Notiz genommen. Es scheint gleich, ob es ihn gibt oder nicht. (17.2.2020)

Eric Satie – Les glosiennes

An der Saale entlang, die Ende Februar noch bräunlich und unwirtlich dahinströmt, ihre Ufer noch ohne die berauschende Mohnschwemme von Mai und Juni.

Leuna. Die gigantischen Fabrikanlagen auf dem platten, grauen Land bei Merseburg, ein Dampfer oder Raumschiff, irrig hier zwischengelandet. Denn der ganze Schrott wird verschwinden, das Gift, der Stahl, die Lacke, die Säuren, die Abertausenden von Röhren und Waggons, alles wird verschwinden unter dem Gras. (20.2.20)

Fährt der Sturmwind in die Kronen der beiden Innenhoffichten, rauschen und schwanken die Bäume derart, dass die darin nistenden Vögel herausfliehen und hinüber auf die Dächer fliegen – aus Angst? Wovor? Dem Wind? Oder ist ihr Antrieb ein ganz anderer? Welcher?

„It feels like Memphis
after Elvis …
there’s nothing going on
God bless the kid …“
The Blue Nile

„(…) mehr als nur die Zeit ,is out of joint‘ durch Claudius’ Mord an Hamlet senior und die überrasche Hochzeit mit Gertrude, dessen Frau“ – schreibt Ulrike Draesner in ihrem „Hamlet“-Nachwort. Und mit einem Mal verstehst du Herkunft und Tiefe des so glatt polierten Begriffs „Überraschung“. (München, 27.2.20)