Der Glastisch

Er steht heute im Dunkel in meinem Keller,
   der Glastisch, um den mein Vater und ich
herumstrichen, als es um alles ging, mein
   Aufbegehren, seine Gewalt, letztendlich
um Worte, um Selbstbestimmung, was ich
   und was er war und was er da spürbar
nicht länger hat zusammenballen können.

Mein Onkel will einmal seine Verlobte O.
   derart gereizt haben, dass sie ihn hilflos
auf den Glastisch schleuderte, worauf der
   zerbrach. Die gläserne Platte erneuert,
schoss mein Onkel die Frau zum Mond,
   wollte sie nicht mehr, gab den Glastisch
mir und will seither nichts von ihm wissen.

Ich saß an dem Glastisch, hatte Stapel von
   Steuerunterlagen vor mir, im Raum tobte
die Rasselbande, und es liefen Erik Saties
   Descriptions automatiques. Für die Frau
meines Lebens seinerzeit sei das, sagt sie,
   der eine Moment, in dem alles zerplatzte,
unser Leben, die Familie und ihre Zukunft.

Ein Junge war ich noch, immer unterwegs,
   ich stieg in die Bäume, um alles zu lesen,
und einmal, durstig, sah ich durchs Fenster,
   wie der Freund meiner Mutter geklammert
an den Glastisch zusammenbrach und starb.
   Tot lag er auf der Couch neben dem Tisch,
ums Kinn ein Geschirrtuch, das ich kannte.

Ich kenne das Möbelgeschäft am Isarufer
   von Tölz, aus dem der Glastisch stammt.
Ich weiß um seine Noblesse, weiß, er blitzt
   in einem Zimmer, das ewig leblos scheint.
Chrombeine hat er, immer kalt, absolut glatt.
   Er ist wie ein Fabeltier, das ausgerechnet
von meinem Leben alles mitangesehen hat.

Für Klaus Johannes Thies

Nur der Schatten einer Lokomotive

Die Luft – als würde es (endlich) schneien. Als wüsste – ja – die Luft, wann es (endlich) Zeit ist zu schneien. (11.10.)

Tage-, nächte-, wochenlang redet die Nachbarin ununterbrochen auf jemanden ein – wen? Jedenfalls auch auf mich.

Gott, las ich irgendwo, sei ein Eichhörnchen – wo? Vergessen.

In einer Pause steht der junge Gerüstbauer vor meinem Fenster auf dem schmalen Rasenstreifen und besieht sich sein Werk, die Einschanzung meines Ausgucks. Dabei betastet er gedankenversunken einen Rosenzweig, drückt die herbstlichen Blätter sanft. Sag von niemandem, er sei stumpf. (13.10., Barmbek)

„Schockhaft“ im Duden „liefert keine Ergebnisse. Wir haben stattdessen nach ,Scheckheft‘ gesucht.“

Am Fischmarkt sechs stämmige, bärtige, dunkle Typen vor den Kühlern ihrer Luxussportkarossen. Sie unterhalten sich miteinander in Gebärdensprache und lachen einander von Herzen zu. (Altona, 17.10.)

Elefant terrible.

Spiegelungen: Ich komme zum Fleet und sehe die Häuser gegenüber unter Wasser. Ich trete an die Haustür und sehe das Baugerüst im Treppenhaus.

Ihre Fragen konnte ich nur bestaunen. Sie rückten mich in eine wohltuende Distanz zu mir selbst.

Genesis – … and then there were three …

Nur der Schatten einer Lokomotive fährt vorbei. (Berlin-Spandau, 29.10.)

Bei Bitterfeld ist der aufgegebene Güterbahnhof von Wolfen vollkommen von Efeu überwachsen – Gleise, Zäune, Waggons, Lokomotiven, Gebäude, Laternen, versunken im grauen Grün des Laubs. Du fährst im Zug vorbei, und hinter dem Zug her jagt der Efeu, fast erreicht er das Zugende. Steig nicht aus in Wolfen!

Crosby, Stills & Nash – CSN

Durch die auf Kipp stehenden Fenster – draußen ein warmer Novembertag – rieselt weißlich-grau der feine Staub des Mauerwerks herein, den die Bauarbeiter von der Haswand flexen. In der hohlen Hand erstaunt seine pudrige Weichheit. Der Staub erscheint wie eine Botschaft – nur wovon? Wessen? (3.11.)

Besonders erzürnt scheinen die Krähen nachts, wenn sie unvermittelt aneinandergeraten.

Bodenschatz: die dutzenden Münzen in ihrer Handtasche.

Keine Schonung

Umzug, Umzug, Karneval im leeren Regal.
Diebisch lachen die Freunde diese Nacht,
komische Vögel. Ich trage das Faxgerät,
Geschenk einer Giraffe von Galeristin,
bei der ich zwischen lauter Kartons las,
für die Trödeljäger auf die Straße. Zack,
und weg. Im neuen Garten der Goldregen,
soll giftig sein. Werde ich, irgendwie, testen.
Keine Schonung, ein verwildertes Wäldchen
liegt hinterm Haus für die Zeit unter Kindern.

Gott ist ein Eichhörnchen

Die zugenähten Taschen am Hosengesäß – als gäbe es darin, sobald man nur den Verschlussfaden entfernt, ein Geheimnis zu entdecken. Doch immer ist darin – alles.

In der Nachtluft hing plötzlich ein feinster Dunst, wie von künftigem Schnee.

Crosby, Stills & Nash – CSN

Der Liebe den Zahn des Krebses ziehen: keine Ironie! Kein Antizipieren! Sich-zurückziehen-Können! Sagenkönnen: Hier bitte stop! Um dir die Dauer bewusster zu machen, sag statt „immer“ lieber „unentwegt“.

Jede Blume ist eine Aufgabe.

„Gott ist ein Eichhörnchen“, las ich kürzlich – nur wo? Vergessen.

Unwirklichkeit gibt es nicht. Es gibt nur Unwirklichkeitsempfinden – das sehr real ist. Es entsteht im Versuch des Abgleichs von Erinnerung (oder auch Wunsch) und vermeintlicher (als vermeintlich empfundener) Realität. Mit seinem Unwirklichkeitsempfinden versucht dein Gemüt, den fehlenden Abgleich (wieder)herzustellen. Aber das kann nicht gelingen – letztendlich ist das Dilemma des Unwirklichkeitsempfindens ein übersetzerisches Problem.

Genesis – Nursery Cryme
Genesis – Trespass

Zwei Stunden lang spricht das Paar in deinem Abteil kein Wort miteinander – da sie jede Antwort verweigert. Sobald er hinausgeht, schließt sie die Augen. Aber kehrt er zurück, beobachten ihre dunklen Blicke jede seiner Regungen – und scheinen sich ihrer bei dir zu versichern. Ist sie taubstumm? Oder steht etwa die Sprache zwischen ihnen? Ihnen zufolge gibt es keine Sprache. (Im Zug nach Dresden, 24.9.)

Das Kind hat vier Arme, vier Hände, vier Beine, vier Füße, vier Ohren und vier Augen. Mit zwei Mündern sagt es: „Ich.“

Die junge Frau mit dem Kleinkind auf dem Arm spricht unentwegt in ihr Headset. Ob das Kind wohl denkt, seine Mutter rede in einem fort mit ihm und erkläre ihm die Welt? (30.9.)

Crosby, Stills, Nash & Young – So far

„Alle Möglichkeiten im Leben“, sagt ein Junge im Vorbeigehen, mitten im Getümmel des Bahnhofs.

„Hoffnung ist verbunden mit dem Gefühl der Komplizenschaft mit anderen, unzähligen anderen: mit den Lebenden, den noch Ungeborenen und den Toten, die alle gleichermaßen anwesend sind.“ John Berger