Der Stuhl über dem Abgrund

Der junge Mann auf dem sommerlichen Markt scheint in einen leuchtend grünen Telefonhörer zu sprechen – dessen leuchtend grünes Kabel aus seiner Hosentasche kommt. Wichtig wirkt er, im Auftrag scheint er zu sprechen. Du glaubst ihm nicht? Ruf ihn an. Ich verbürge mich für ihn. Wir sprechen täglich. Er ist mein Bruder.

Kurt Vile – Smoke ring for my halo

Die Allee entlang fliegen für einen Kilometer vier Tauben exakt über der Fahrbahn – in Wipfelhöhe der Platanen –, bevor sie unvermittelt abdrehen, wie hinein in die Bäume. (Manosque, 6.8.)

The House of love – The house of love

Mylène Farmer – Blue noir

Patti Smith hat das Rimbaud’sche Anwesen in Roche gekauft – das, was übrig ist von Land und Hof, den kaiserdeutsche Truppen vor ihrem Abzug sprengten. Beschreib nicht, was davon übrig ist. Der Raum des Verlorengegangenen ist der Rimbaud’sche Raum. Patti Smiths Geste bewahrt ihn auf.

Midlake – The courage of others

Christian Bobin schreibt in „Les ruines du ciel“, Pascal habe zeitlebens die Vorstellung gehabt, links von ihm verlaufe ein Abgrund. Des öfteren habe er deshalb unter Schwindelgefühlen gelitten und sei der fixen Idee entgegengetreten, indem er einen Stuhl links neben sich stellte und sich setzte. Pascal wusste, schreibt Bobin, dass seine Bedrängnis eingebildet war, konnte die Empfindung aber nicht verhindern. Das Denken sei ein über einem Abgrund stehender Stuhl. Und darüber: die Ruinen des Himmels. (Volx, 11.8.24)

Im Gefängnis, wo er selbst einsaß und wo er heute Schreibwerkstätten für Häftlinge abhält, habe er gelernt, dass es besser sei, zu leben und zu schreiben statt zu leben und nicht zu schreiben, sagt René Frégni.

Vergiss nicht Rimbauds Klavier, eingeritzt seine Tasten in den mütterlichen Esstisch.

„Das Krokodil“ und „Schattenmund“ nannte Rimbaud seine Mutter, „Loyola“ nannte er Verlaine und „Lumpenpack“ die Menschen einschließlich seiner selbst.

„Ein Pessimist ist ein Individuum, das unter Optimisten lebt.“ Emmanuel Bove

Zu Haus bei einem Gewitter.

Antoinette Flegenheim

Es ist mir unmöglich,
Ihnen mitzuteilen, wie
plötzlich das alles war,
wie unerwartet, erwiderte

die Titanic-Überlebende
Antoinette Flegenheimer,
die sich Flegenheim nannte,
als werde alles immer kürzer,

noch bis zuletzt auf Fragen
zu ihrem Leben und Alltag
nach der Tragödie 1912,
jedes einzelne Begebnis

sei wie ein Blitzeinschlag
an einem helllichten Tag
an der Bockenheimer Warte
oder in Tutbury, Staffordshire.

Madame Tanguy

Die alte Amerikanerin,
die mich ansprach vor
dem Monoprix in Arles,
bat mich um ein pièce,

also gab ich ihr 2 Euro
und fragte sie, woher sie
kam, Drummond, lautete
ihre Antwort, Wisconsin.

Hinter uns, an dem Kreisel,
wo es vom Regionalbahnhof
zwischen zwei Wehrtürmen
hinauf zur Altstadt geht, stand

früher das gelbe Haus, in dem
1888 Vincent van Gogh lebte,
kurz auch mit Gauguin, bevor
der ihn zum Idioten erklärte.

Aber das Haus zerfiel, man
riss es ab und baute es nicht
wieder neu, alle Welt kennt ja
Vincents Zimmer darin, Bett,

Stuhl, Waschtisch, Fenster,
weil er alles malte, denn so
wurde für ihn alles lebendig.
So steht das gelbe Haus da,

wie sie einmal Pianistin war,
die Amerikanerin im grünen
Kleid, mit Silberblick, sie sei
beglückt von unserem kleinen

Gespräch. Nie stattgefunden
habe es, ihr Konzert in Arles.
Aber sie sei geblieben, denn
sie warte. Worauf, fragte ich,

und ob sie immer noch spiele.
Und ob, rief sie, ein Nachbar,
der habe manchmal ein Piano.
Danke Ihnen für den Moment.

Jeden Tag wanderte ich darauf
zu dem Monoprix, aber fand sie
nicht, den Silberblick, das Kleid,
erst in einem Van Gogh-Katalog,

und immer nachts träumte mir,
ich sehe ein Ohr schwimmen
in einem Fläschchen voller
gelbem Pinselterpertin.

Rimbaudnotizen

Gewitter sollte man mieten können.

„Amazone“ – der Dampfer, der Rimbaud 1891 zurückbrachte von Aden nach Marseille.

Der äthiopische Gouverneur von Harar, Ras Makonnen, mit dem Rimbaud bekannt war und verhandelte, ist der Vater des späteren Kaisers Haile Selassie.

Er war schon als Kind ein Forscher. Aber wie sollten sich Ingenieursneugier und Literatur miteinander verbinden? Unmöglich. Das Bindeglied wäre die Liebe gewesen? Ebenso: unmöglich.

Als sie die Fensterläden aufstieß, sagte sie gleich: „Es ist so heiß, dass das Blau des Himmels verbrannt ist.“

Jeder Wasserturm, wie alt oder jung er auch ist, heißt im Französischen chateau d’eau, Wasserschloss.

Die Spatzen überleben die Hitze der Hundstage in Wassernähe – im Ufergras fast vertrockneter Flüsse und Flüsschen, im Gebälk über Tränken, unter Tankstellendächern, von wo sie sich in die Scheibenputzeimer stürzen. Schatten und Wasser brauchen sie tagsüber. Es gibt keine einzige Wespe mehr – alle auf Wassersuche ausgemerzt von den Hornissen und Spatzen.

Oscar Wilde trifft im November 1891 in Paris Paul Verlaine in einem Café. Es ist der Monat, in dem in Marseille Rimbaud stirbt, Verlaines verhasster Liebling. Weiß Verlaine, wie es um Arthur steht? Erzählt er Wilde von Rimbaud? Es gibt dafür keine Hinweise.

1874: War Wilde zu der Zeit, als er in Oxford zu studieren begann, zu Besuch in Reading? Die Stadt, in deren Zuchthaus er 21 Jahre später einsaß, liegt auf halbem Weg zwischen Oxford und London. Warum sollte ein junger Student nach Reading fahren? Rimbaud lebte 1874 dort und gab Französischstunden. Er war 19, vier Tage jünger als Oscar Wilde.

Argent liquide. Flüssigsilber.

„Jeder Mensch ist ein Dichter, der im Hôpital de la Conception von Marseille stirbt.“ Christian Bobin

Der Nektarinentraktor kommt und fährt duftend an dir vorüber. (Manosque, 1.8.)

Der Alte mit den aufgemalten schwarzen Augenbrauen sagt zu seiner Frau, die rotweißes Haar hat: „Mein Leben wird stündlich absurder.“

Einige Städte und Landschaften in Oscar Wildes Märchen erinnern an Beschreibungen in Rimbauds Briefen aus Abessinien.

Kein Tag ohne Tiefschlag. Bitte weiter so! Immer besser scheitern? Wer scheitert denn hier? Ich verfolge meinen Weg, und läuft er auch vor mir davon, ich gehe ihn, solange es geht.

Kleines graues Dreieck, das fliegen kann, Motte, lichtsüchtig, zu welchem Zweck gibt es dich? Keinem. Du vollkommene Antwort. Motte. Winziges Wort. Ja.

Auf dem Weg liegt die Ruine einer Orange.

Rimbauds äthiopische Wahlheimat Harar liegt 1800 m hoch in den Bergen. Colm Tóibín schreibt über Oscar Wilde, auf der Tretmühle im Zuchthaus Reading habe er jeden Tag einen Berg von 1800 m Höhe erklettert.

Die „Amazone“ im Hafen von Marseille, vor 1883.

Aden 1900, die „Sichel“ mit Hafen und Promenade, dort auch Rimbauds bevorzugte Unterkunft, das Hôtel de l’univers, das Hotel Universum.

Arthur und Oscar nach einer durchzechten Nacht, 1874 in Reading. Fotofiktion.

Das Fallana-Tor von Harar, 1885.