Ein Zwillingstag

Der Tag war morgens kühl, erwärmte sich rasch, war mittags sommerlich und wurde nachmittags zum Regen-, zum Unwettertag, ehe abends noch einmal die Wärme zurückkehrte, ein rosiges Licht, ein stiller Abend im Nieseln. Und der Tag darauf – genau gleich, nicht derselbe, doch, wenn es das gibt, ein Zwillingstag.

„Ich muss das Gras nähen“, versprach sie sich.

Vor drei Tagen, in der Trockenheit des Maisonnentags, sah ich eine verendete Weinbergschnecke, deren Schleimspur die Steinplatten der Stufen hinaufführte, wo aber auch bloß steinerne Wände und Zementboden waren: kein Ausweg aus der sengenden Sonne. Heute Morgen wachte ich auf und sah im Spiegel, aus den Augenwinkeln führte mir der Schleimspurschimmer zweier Schnecken über die Schläfen (9.5.).

Durch den 360. Stock

„Wie alt ist eigentlich die älteste Blume geworden?“, fragt das Kind im schweren Regen (7. Mai).

Die Augenglanzbestimmung!

Mit dem Fahrstuhl hinauf durchs erste, zweite, dritte und vierte Geschoss, weiter durch die fünfte Etage und hinauf, immer weiter durch die sechste, die sechzehnte, sechzigste, hundert-, dreihundertsechzigste und schon unsichtbare. Im aus der Haut gefahreren Aufzug durchbrechen ins Freie: Lift ins Licht.

Das Pendlerbesteck!

Das Salettl

Der erste Satz, den der ältere Dichter sagt, als ich ihn um einen Beitrag zur Trakl-Anthologie bitte: „Ich lehne alles ab.“

Die Ideenbörse!

Die Zukunftswerkstatt!

Die Psychohygiene!

Der Strategieworkshop!

Die Ehrgeizlosigkeit!

Ein Unwetter in Nauen

Später sagt der Dichter: „Das Gartenhaus der Trakls, das Salettl, wissen Sie, wer das entdeckt hat? Ich.“

Die Lahn

Im Frühsommerlicht, bei leichtem Wind, an der schönen grünen Lahn entlang. Unter den Bäumen strömt der Fluss vorbei, Enten, knapp überm Wasser, folgen hastig den Biegungen und Geraden des Flusslaufs, und am Ufer weiden Kühe, und selbst das sandige Schwemmmuster an einem Böschungshang erscheint bedeutsam (Marburg, 5. Mai).

Aus den Notizen zu einem Selbstbildnis

Haare aufsammeln, schimmernde, rotbraun und silbern
aus Ordnungswut, einer Liebe, einer Angst
um alles was von dir stirbt zu bewahren
vorm Hygienewahn der Hinfälligkeit

Romantik pur Novalis pur Bekümmerung na klar
Bahndammschotter und Wacholderdrossel
Gras Tod Nein Ja, wennschon, dennschon pur
Zweifel Verlorenheit Aufbegehren ganz und gar

Zu Tränen gerührt von rauschenden Eschen
knospenden Hecken an Eisenbahnergärten
ich mit meinen Besserwisserallüren
und innigen Wünschen für jeden Dreck

Die Toten gaukeln, die Lebenden träumen
tags also bin ich gestorben und lebe nachts
oder träume mich gaukelnd durch die Jahre
wie Wochen, ein Sommer, Sommernachmittag

In den Gärten

Die Wunderlandnahme!

In den Gärten die gelben Bälle der Forsythiensträucher: stummer, still im kühl und leichten Wind stehender Vogelgesang. Singen dann die Amseln, blüht die Luft.

Das Heimwehkrankenhaus!

Möglichkeiten

Der Park, ein freundlicher Ort.

Die Möglichkeit, das Grün von den Bäumen zu kratzen – nicht gegeben. Es geht ein leises Gefühl durch alle Anwesenheit: meine Liebe zu den Farben. Zu dir in diesem Licht. Zum Ausdruck in deinen Augen: Seele ist Park.

Der Park, ein freundschaftlicher Ort.

Versuch’s

Versuch’s: Geh mit dem Licht die Böschung hinauf. Was du da oben findest, und wärst es du selbst, für den Augenblick gehört es dir. Eigentümlich sein – das ist ja das Herrlichste! Hier zu den Bäumen gehen, irgendwie selber, gehender, Baum. Unter einer grünen Krone steht immer mindestens einer. Vielleicht wenn du regnen könntest, würde die Rotbuche auf dich warten. Doch wenn du achtgibst, dann staunt sie. Und gibt dir das Gefühl, unerwartet zu sein.

Wie das Wildentenpaar durch die Straßenschlucht fliegt, hinein in den Park: wild. Als wären wir nur da, um Angst zu machen vor uns. Als gäb es uns gar nicht (29.4.).

Alles herausposaunend

Die Ulme weiß alles und erzählt nichts. Und ebenso weiß sie nichts und erzählt alles. Während ich hier vor der Ulme stehe und alles weiß und alles herausposaune, nichts erzählend, wissend nichts. Die Ulme. Der Baum. Das Grün.

Tier aus Schatten

Zwischen den Büschen und Sträuchern saß oft am späten Nachmittag das Tier aus Schatten: schwarze Katze mit schwarzen Augen. Verscheuchen ließ es sich nur vom lautlosen Licht. Das schlich sich an im Hellen. Das verbarg sich hinter sich selbst.

Der Park – aus Licht und Schatten, aus Bäumen und Gras, ein Gemälde, in das ich hineingehen und das ich wieder verlassen kann. Um es zu betrachten von jenseits des Zauns.

Die Gedächtnisküste

Je weiter du unter die Bäume hineingehst, umso näher kommst du dem Meer. Dort warten die Vögel, die weite Schattensee, das Wogen der Wipfel. Komm, übers Gras! Fahr hinaus, in dein Gedächtnis.
Jochen Hein. Nordsee
Ich ging unter den Bäumen hindurch und fühlte an den Knöcheln und Schienbeinen bis zu den Knien das Gras. Ich dachte an das Mädchen und glaubte, ja, dass es Miriam gewesen war, an den Augenblick dachte ich wieder, als sie hinter mir herging, ich mich umdrehte und sie im selben Moment sagte: „Geh. Warum bin ich eigentlich mit dir hier?“ Wie wir später in der Sonne lagen. Ihre Haut. Wie die Wärme dieselbe war auf ihren Armen und auf den Halmen, wo mit den Schatten  kleine schwarz und grün schillernde Fliegen wanderten.

© Bild: Jochen Hein, „Nordsee“, Acryl auf Jute, 2003

Ineinsgewoben

Die Sonne
an dem Sommertag
die Schatten
eines Schattentags
Tag und Nacht in einem
übereinandergelegt
ineinsgewoben
und so auch mein Blick
auf mich, auf dich
schattiger
lichtdurchschossener
Erinnerungspark.

„Ich will mir das Ohr durchstechen“, sagt das Kind. – „Und wieso?“ – „Weil es schön ist.“ – „Und wo?“ – „Im Diamantenladen!“

Beschatten. Belichten

Und die großen alten Bäume, die hier standen, als die großen alten Bäume, die jetzt hier stehen, winzig waren, fingerhoch, noch Setzlinge, Tännlinge, Lindlinge, nur der Duft, war der Duft nicht schon immer nicht der gleiche, sondern derselbe? Du, der Duft!

Die Schattenmorellen. Die Lichtmorellen.
Schattierung. Lichtung.
Das Schattenkabinett. Das Lichtkabinett.
Erblickte den Schatten der Welt.
Lichtdasein.
Beschatten. Belichten.

Was dich berührt

Hier stand ich als Kind. Da ist noch der alte Brunnen. Meine Augen ruhten darauf, und ich blickte hinunter mit dem Licht, bis es sich zerstreute im Übergangsschatten und im Schwarzen verlor. Dann ging ich, und ich nahm den Brunnen mit, das zerfasernde Licht, das Einschwärzen, die glucksende Nacht. Und blicke an meinem Rand stehend hinunter.

Tagelang kannst du mit bestimmten Sätzen leben. Sie stehen dir vor Augen, wie Bäume. Sie klingen in den Ohren, wie Melodien, Stücke von Melodien. Du scheinst sie anfassen zu können – während nur sie es sind, die dich berühren (25.4.).

Das Parkschloss

Wo die Felder ausfransen und das Getreide vergisst, Früchte zu tragen. Wo der Roggen sich zu erinnern beginnt, dass er Gras ist, im Dunkel unter den alten Bäumen, in den schwarzen Räumen. Wo mein Schatten an einem überwachsenen Zaun lehnt.

Der Schlosspark – der Park des Schlosses, das Schloss des Parks. Der Park ein Schloss, das Schloss ein Park. Das Schloss. Der Park. Das Parkschloss.

Ein J

Ich seh dir ins Gesicht und sehe: Du bist schön. Ich seh dir ins Gesicht und sehe: Ich lebe.

Als ein buntes und zugleich erdfarbenes J sitzt der Häher im Baum und ruft es heraus: „Seht mich an! Himmel und Baum – kein Unterschied.“

Der Maler

„Die Erinnerung an die Schatten“, sagt der Maler, „und die Erinnerung an das Licht. Die Farben kommen später.“

„Manchmal male ich einen schwarzen Fleck auf weißem Grund, zerkratze ihn, kratze ihn zu Blättern – und erinnere mich an ein Gebüsch im Husumer Schlosspark, als ich ein Junge war und an Mädchen dachte. Doch da waren nur Bäume und Gräser und dieses Gebüsch.“

„Die Erinnerung malen, das Licht der Erinnerung und das Dunkel des Gedächtnisses.“ (Hohenfelde, 23.4.)

Gute Neuigkeit

Immer wollte ich mit den Schatten reden
aber sie, die schwarzen Spiegel, sagten nichts
raunten bloß. Und waren wild und grün

Unter den Bäumen, die Schatten
und über den Schatten, die Zweige
dazwischen vielleicht
im Licht
ich

„Gute Neuigkeit“, sagt das Mädchen. „Alle Bäume sind aufgeplatzt.“

Ein Brief

An Leonard G. Sanford, Esq.
22. Juni 1886, New York, E. 26 St., No. 104

Geehrter Herr: Ihr Schreiben ist mit Verzögerung eingetroffen, da es mir von der Post aus Pittsburgh hierher nachgesandt wurde. – Nein, ich habe 1863 keine Reise um die Welt gemacht. – Die Cyclopaedien sind nicht unfehlbar, jedenfalls nicht unfehlbarer als der Papst.
Es freut mich, daß einige der Bücher Ihnen gefallen haben.
Ich erlaube mir, Ihnen zu gratulieren, daß Sie in Ihrer Jugend selbst einmal die Ehre hatten, auf einem Walfänger zu fahren.

Ihr sehr ergebener
Herman Melville

Fassungslos starrte ich auf das Foto von der „Großhandlung Heinrich Alles“.

Lupinen überprüft: Sie duften.