Ich habe diese ganzen Erinnerungen

Dichtung, nach der glücklicherweise unmaßgeblichen Ansicht Dieter M. Graefs, der über Rainer René Müller schreibt, diene der Wahrheitsfindung – was ein Schrott. Unwahrheitsfindung, das vielleicht. Wirklichkeitsfindung, schön wär’s. Unwirklichkeitsfindung – ja. Ja! Und daher: Widerstand. Poetischer Untergrund.

Ich bin mein eigenes Durchhalteradio.

Heute vor acht Jahren, am 29. November 2007 – liefst du durch Buenos Aires.

„Taumel, Taumel. Taumel, Taumel“, sagt die Waschmaschine im Abpumpgang, „Taumel, Taumel. Taumel, Taumel …“

Ein Pulk Pfadfinder stürmt in die S-Bahn. „Werft die Affen dorthin!“, ruft der Anführer, der etwas älter ist als die Jungs, und die schnallen ihre Rucksäcke ab und stapeln sie im Gang. (Barmbek, 29.11.)

„Check mal unsere LED-Acryl-Rentiere!“

Der Olympische Gedanke? Klei mi an‘ mors …! Auch Hamburgs Nein beim Referendum zur Olympia-Bewerbung für die Spiele 2024 ist ein Zeichen der Angst. Wie eh und je öffnet sich die Hansestadt nur dem Handel. Hamburgs Offenheit ist eine rein merkantile. Dabei wissen es die Leute besser, so offenherzig sie sind gegenüber jedem, der es erst geschafft hat ins Herz der Pfeffersack-City.

„I have all these memories I don’t know what for / I have them and I can’t help’em / some overflow and spill out like waves / some I will harbour for all of my days / I burnt like oil / you blew like a flower …“ Mark Kozelek, „Like A River“

Blasse Blumen

Von der „totalen Solidarität“ schwadroniert der us-amerikanische Präsident gegenüber dem französischen. (24.11.)

Schlagzeile: „Obama begnadigt Truthähne.“

Erinnere dich an die Weihnachtsstollen, die stets in der Adventzeit aus dem Osten kamen, aus Karl-Marx-Stadt und Dresden, und immer waren sie in der Mitte durchgebrochen. Blasse Blumen auf dem Pappkarton, der seltsam dünn war. Und damit der Stollen auch ja kam, schickte deine Großmutter Geschenkpakete los, nach Dresden, nach Langburkersdorf. „Müssen im Gespräch bleiben“, hieß das bei ihr.

Die Flüchtlinge, glaubst du wirklich, du kannst sie erkennen an den neuen Turnschuhen und den viel zu alten Handys, an dem dunklen Teint und dem großen Staunen?

Alte Familienerzählung: Einem zwar gelungenen Essen fehle dennoch „das Gewürz der Seligen“ – nämlich das der (wer weiß wann?) Verstorbenen im Reigen der Toten, die stets das Essen anbrennen ließ.

Was ich noch weiß

Meine Zweifel – so eine Art Peschmerga-Miliz in der Wüste rings um die Oasen meines Gemüts.

Auf dem abendlich dunklen Parkplatz steht ein Mann im Nieselregen, er hat einen Deckel im Pflasterboden hochgeklappt und leuchtet dort hinein, während irgendwo aus einem Auto der Singsang eines Muezzins ertönt. (Fuhlsbüttel, 17.11.)

Das Kind gibt zu: „Hamlet ist ein fantastisches Stück. Denn es handelt ja eigentlich vom Leben heute.“ Und das Kind erklärt dir: „Alles Wichtige, was zu sagen ist, wird bei jeder Aussage mit den ersten beiden Sätzen gesagt. Der Rest ist Schmuck.“

„Es gibt Geschichten, die Jörn schon erzählt hat. Wenn er sie noch mal erzählt, sind es nicht mehr dieselben Geschichten. Eine Geschichte, sagt er, besteht ja auch aus dem, was man nicht gesagt, was man weggelassen, verschwiegen oder vergessen hat zu erzählen. Wann ist eine Geschichte wirklich einmal vollständig und abgeschlossen, wo sie doch von Erfahrungen, Geschehnissen und Erinnerungen lebt, die einen unendlichen Hintergrund haben, einen Raum voller Leben und Zeit, die kein Aufhören kennt. Also immer aufs neue, immer weitererzählen … nein, sagt Jörn, darum geht es mir nicht. Um was geht es dir denn? Es gibt kein Konzept, sagt er, aber ich möchte herausfinden, was ich noch sagen kann, was ich noch weiß.“ Jürgen Becker

Das Kind wünscht sich, in eine Aufführung von Romeo und Julia zu gehen.

„So langsam ich lebe, sagt Jörn, und dabei merkt er, wie sich im Alter zunehmend die Binsenweisheiten einstellen, so schnell zieht das Leben weiter.“ Jürgen Becker

Erster Nachtfrost – erster Schnee.

Hasse nicht!

Helmut Schmidt ist gestorben, im Alter von 96 Jahren, in Hamburg, das ihm mehr verdankt, als sich sagen ließe – im Unterschied zur Bundesrepublik und dem Selbstverständnis ihrer Bewohner. Von Langenhorn, wo er immer lebte, bis zur Elbe will er in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 in acht Minuten gefahren sein, vollkommen unmöglich, auch wenn er sich als Bürgermeister gegen die Sturmflut stemmte. Ich war nie ein Anhänger oder gar Bewunderer Schmidts. Der Lotse? „Ihr Punker werdet’s auch noch lernen!“, rief er uns auf dem Rathausmarkt zu – und sprach „Punker“ aus wie „Bunker“. Adieu, alter Mann. Grüß Loki.

12. November: Zwei Wespen – Geschwister vielleicht – verirrten sich ins Wohnzimmer. Ich brachte sie ins Freie, wo sie erzürnt, mit zuckendem Hinterleib in die Luft stechend – wundervoll! – davonflogen. Und ich wusste: Sie sind wie wir.

Die zweiten Terroranschläge in Paris in diesem verfluchten Jahr (eines der schönsten meines Lebens). Deutlich wird nicht, dass wir uns im Krieg befinden, sondern dass der Krieg, den sie uns vor langer Zeit aufoktroyiert haben, ohne uns davon in Kenntnis zu setzen, endgültig Mitteleuropa erreicht hat. Glaub den Politikern nichts, nie wieder. Dennoch, die Kinder sind alt genug, um Freunde zu haben, die in Paris dabeiwaren und ihr Leben lang diese Nacht nicht vergessen werden. Stell dich gegen den Hass – hasse nicht!

Das Kind liest Shakespeare. In der Buchhandlung im Hauptbahnhof will es keinen Manga, sondern Hamlet. Auf dem Bahnsteig lacht es über Shakespeares alte Sprache. Aber das Kind liest, und liest, und liest weiter. „Nice“ findet es ihn, Hamlet!

Heute vor vier Jahrzehnten: Ich war zehn und kam hier an, in Hamburg. Erst Meckelfeld, dann Curslack, Bergedorf, Dulsberg, Barmbek, St. Pauli, Eppendorf. Dann Hoheluft. Holstenplatz. Portugiesenviertel. Dann Eimsbüttel. Und Klein Borstel. In Hamburg sagt man „tschüss“. In Hamburg sagt man: „Mit einem Messer im Rücken gehn wir noch lang nich nach Haus.“ Good old Hamburch, hier bin ich zu Haus. (15.11.2015)

Das Gegenteil von Blumen

„Ich zeig dir die Angst in einer Handvoll Staub.“ T. S. Eliot

Die Bürgerinitiave „Lebenswertes Dorf“ hat die geplante Unterkunft für Flüchtlinge im Stadtteil per Gerichtsentscheid stoppen lassen. Am Friedhofrand wird nun nicht länger gebaut. Es kann alles weiter totgeschwiegen werden.

Wanderung von Eckernförde nach Kiel, im weiten Morgenlicht Richtung Süden. Die Stille! Die Glätte der See! Die gelben Wälder und Hohlwege! Und wir, die einander erzählen. Von unserem langen Leben. (Kiel, 5.11.)

Ich frage mich: Bin ich ein Mensch mit Bleibeperspektive? Gilt für mich eine Residenzpflicht, und wenn nein: Warum nicht?

„Laub ist das Gegenteil von Blumen“, sagt das Kind.

Der gestrige 7. November war laut Meteorologen der wärmste je gemessene Tag mit diesem Datum in Deutschland. Heute fliegen bei warmer Mittagssonne die Wespen über die Gärten heran. Und auf der Straße sagt jemand: „Morgen werden die gelben Blätter an den Bäumen wieder grün.“

Das „Deutsch-Dominikanisches Finanzbüro S.A.“ legt mir per E-Mail „Kapitalbeschaffung mit finanzielle Hebel- ohne Wenn und Aber“ nahe – danke! Danke, danke!

Venceremos

Auf dem Parkplatz drüben, der Mitte
des grauen Morgens, lehnt eine Frau
mit Wintersonnenbrille an ihrem Auto.
Sie raucht hastig. Sie scheint zu warten.

Nur kommt keiner. Und es wird nicht hell.
Leichter Sprühregen, in dem sie ausharrt,
in die kahlen Wipfel zu den Krähen blickt,
auf ihre Uhr aus Gekrächz und Gekrächz.

Der Augenblick, vorbei. Der Paketdienst
liefert Pakete. Aus einem roten Reisebus
mit spanischem Schlachtruf an der Flanke
steigt ein Blasorchester. Worauf warten?

Such keinen Ausgang, such den Eingang.
Jeden erwartet viel Besseres als Träume!

Bär und Slogans

Auf Futtersuche, wie es heißt, sei im östlichen Sibirien ein ausgewachsener Braunbär in ein Einkaufszentrum eingebrochen und habe sich dort verirrt. Das große Tier. Das Gefährliche. Im Einkaufszentrum. Der Einkauf des Tiers. Im Zentrum. Das Tier, ausgewachsen, eingedrungen ins Zentrum: Bär, der Mensch sein will. Der Bär soll schließlich durch eine Wand gebrochen und so ins Freie zurückgelangt sein (er hat es uns gezeigt), und ich bin mir sicher: Er war erleichtert. Ein Polizist (Putins Onkel vielleicht, oder Putins Sohn, wenn er einen hätte), hat das Tier auf dem Parkplatz abgeknallt.

Das Agentenzentrum!

Slogan: „Fenster machen Häuser.“

Wandspruch an einem Haus mit der Nummer 37: „Merde 37.“

Der Nebel morgens über den Bankentürmen steigt aus den Schluchten des Bahnhofsviertels. (Frankfurt am Main, 19.10.)

Und wieder kommt die Kälte. Du fühlst sie, spürst sie, oder?

Slogan: „PEGIDA nach Aleppo!“

Und die Antwort lautet … nein. Es kommt keine Antwort.

„Ich spende mein Gesicht“, sagt das Kind.

Die drei wichtigsten Wörter: Nein. Doch. Wieso.

Am Morgen blickt das Kind aus dem Fenster und ruft, empört: „Es ist immer noch Herbst!“

Der hässlichste Buchtitel des Monats Oktober wurde gewählt: „Herzrasen kann man nicht mähen.“

Das Kind streichelt die Katze: „Genauso riecht das Pinguingehege im Tierpark.“

Die Poesie wird niemals sterben, aber du.