Licht über dem Fluss

Die einzige „Wirkliche Alternative für Deutschland“ (WAfD): endlich Schluss zu machen mit der Hartherzigkeit, der Habgier und dem angstgesteuerten Zerstören. (8. Mai.)

Wundervoll und im besten Sinn eigentümlich, Lars Gustafssons poetischer Witz: „Mitten in den Hochsommernächten kann man das unbeschreibliche Schluchzen des Luchses von der anderen Seite des Tales hören. (In der Nacht, als die ersten Astronauten den Mond betraten, übertönten die entsetzlichen Klagelaute des Luchses vom Waldrand her die rasselnden metallischen Radiostimmen aus einer anderen Welt.)“

Wenn ein Paar über Jahre zuverlässiger Stiefel kaputtgeht, was geschieht mit den Wegen und Strecken, die sie an deinen Füßen zurückgelegt haben? Nichts, natürlich. Glaubst du das? Ist es müßig, darüber nachzudenken? Ja, müßig, und wie!

Die Grausamkeit so vieler Frauen, oft älterer, im Gespräch untereinander oder, deutlich, mit jüngeren. Konversation, um vor den Kopf zu stoßen. Sieh mich an, was aus mir geworden ist – so wirst auch du aussehen! (Mundsburg, 9.5.)

Der neue Roman, so wird er heißen, ich habe es Gryphius zu verdanken: „Lichter als der Tag“.

André Heller erzählt, wie er John Lennon über den Wiener Zentralfriedhof führte, 1968. Am Grab von Franz Schubert habe Lennon einen Schnürsenkel aus dem Schuh gezogen und ihn auf Schuberts Grabplatte gelegt. Zusammengerollt? Oder wie eine Schlange?

„What would you be without wishful thinking?“ Wilco

Im Licht über dem Fluss spielen die Jungs Kanu-Wasserball. Auf ihren Rollern preschen die Mädchen durch den goldenen Wald. Überall Säuglinge und Dalmatiner.

Jacques Hnizdovsky. Keats on Board the Maria Crowther, September 1820 (1985) Im Zuge des Schreibens an deinem Keats-Vortrag – so viele Erinnerungen, viele Tränen. Keine Sätze außer denen Trakls haben dich so bewegt, beschäftigt und geprägt. Die Briefe, die Gedichte. Bis in die Silben hinein. Die unermesslichen Bilder. Suchst du nicht seither nach nur im Ansatz ähnlich inniger Lektüre?

Bild: Jacques Hnizdovsky, „Keats an Bord der Maria Crowther, September 1820“ (Holzschnitt, 1985)

Wach’ auff mein Hertz!

An Bord der „Kruzenshtern“ im Hamburger Hafen – wie lange hast du dir das schon gewünscht! Fast scheint es so, als hättest du als Junge in irgendwelchen nichtswürdigen Modellbausatzläden gewusst, es kommt ein Tag, in 40 Jahren, da stehst du staunend unter diesem Mast. „Spassibo!“, sagst du zu einem jungen Matrosen, einem Schlaks aus Murmansk oder Omsk, und er blickt dich an mit müden Lidern: „Do swidanja.“

Aus dem Nebeneingang der Videothek kommen ein Fettwanst und zwei schmale Dalmatiner an seiner Leine. Pornografie?

Auch – gerade – ein vergesslicher, ein dementer Tyrann bleibt ein Despot. Vergib ihm. Aber vergiss nie. (7.5.)

Hans Küng schreibt in seiner so anschaulichen Prosa über Andreas Gryphius: „Mitten in einer Orientierungskrise großen Stils, in der alle Maßstäbe und der Sinn des Lebens abhanden zu kommen drohen, will dieser vielseitige Mann praktischer Politik als engagierter, gelehrter Dichter ohne Lamento und falsches Pathos in hochpoetischer Form eine christliche Orientierungshilfe bieten: nicht neue theologische Theorien, sondern einen neuen Sinn, neue Maßstäbe, eine in christlichem Glauben verankerte Praxis: was Nachfolge Jesu Christi auch in einer Notzeit ganz praktisch bedeutet.“ Küng zieht Vergleiche zu seiner Zeit, der Aufsatz „Religion im Bann der Reformation“ erschien 1985, doch scheint sich mir kaum etwas Wesentliches seither gewandelt zu haben, auch wenn sich das neue Paradigma, von dem Küng spricht, mittlerweile durchgesetzt und etabliert hat, Globalisierung und Internet nämlich: „Vielleicht ist es diese merkwürdige Mischung aus Krisenwahrnehmung und unerschütterbarem Gottvertrauen, was uns, die wir in einer ähnlichen Krise des Übergangs zu einem neuen Paradigma stecken, diesen Gryphius nah und fern zugleich macht, was in uns zugleich Zustimmung und Distanz wachruft. Ja, Zustimmung immer wieder – liest man die Texte – zur Beschreibung der ganze Ungesichertheit unseres Lebens, all der Angst, Furcht und Sorge. Zustimmung zur Beschreibung der Krisen der Zeit. Zustimmung zur Benennung der Tatsache, daß unser Leben vor Gott letztlich eitel ist, vergänglich, verwehen wird wie Rauch vor starken Winden. Zustimmung also dazu, daß die Gryphiussche Gläubigkeit mit der Wahrnehmung von Krisen zusammengeht und nicht unter Absehen von all den tausendfältigen Bedrohungen zu denken und zu leben ist. Hier ist dieser Mann uns nahe, weil auch wir wieder in einem ,Zeitalter der Angst‘ leben und den apokalyptischen Untergang sogar als technische Möglichkeit kennengelernt haben. – Zustimmung, ja, und doch auch Distanz. Distanz dazu, daß die Krisendiagnose, die Angstwahrnehmung und Bedrohungsanalyse des Gryphius nur mit radikaler Weltabwertung zusammengeht, daß die Hoffnung auf Gott mit der Düsterkeit gegenüber der Welt erkauft werden muß.“

Andreas Gryphius
Vanitas! Vanitatum Vanitas!

1. Die Herrlikeit der Erden
Mus rauch aschen werden/
Kein fels/ kein ärtz kan stehn.
Dis was vns kan ergetzen/
Was wir für ewig schätzen/
Wirdt als ein leichter traum vergehn.

2. Was sindt doch alle sachen/
Die vns ein hertze machen/
Als schlechte nichtikeit?
Waß ist der Menschen leben/
Der immer vmb mus schweben/
Als eine phantasie der zeit.

3. Der ruhm nach dem wir trachtẽ/
Den wir vnsterblich achten/
Ist nur ein falscher wahn.
So baldt der geist gewichen:
Vnd dieser mundt erblichen:
Fragt keiner/ was man hier gethan.

4. Es hilfft kein weises wissen/
Wir werden hingerissen/
Ohn einen vnterscheidt/
Was nützt der schlösser menge/
Dem hie die Welt zu enge/
Dem wird ein enges grab zu weitt.

5. Dis alles wirdt zerrinnen/
Was müh‘ vnd fleis gewinnen
Vndt sawrer schweis erwirbt:
Was Menschen hier besitzen/
Kan für den todt nicht nützen/
Dis alles stirbt vns/ wen man stirbt.

6. Was sindt die kurtzen frewden/
Die stets/ ach! leidt/ vnd leiden/
Vnd hertzens angst beschwert.
Das süsse jubiliren/
Das hohe triumphiren
Wirdt oft in hohn vnd schmach verkehrt.

7. Du must vom ehre throne
Weill keine macht noch krone
Kan vnvergänglich sein.
Es mag vom Todten reyen/
Kein Scepter dich befreyen.
Kein purpur/ gold/ noch edler stein.

8. Wie eine Rose blühet/
Wen man die Sonne sihet/
Begrüssen diese Welt:
Die ehr der tag sich neiget/
Ehr sich der abendt zeiget/
Verwelckt/ vnd vnversehns abfält.

9. So wachsen wir auff erden
Vnd dencken gros zu werden/
Vnd schmertz/ vnd sorgenfrey.
Doch ehr wir zugenommen/
Vnd recht zur blütte kommen/
Bricht vns des todes sturm entzwey.

10. Wir rechnen jahr auff jahre/
In dessen wirdt die bahre
Vns für die thüre bracht:
Drauff müssen wir von hinnen/
Vnd ehr wir vns besinnen
Der erden sagen gutte nacht.

11. Weil uns die lust ergetzet:
Vnd stärcke freye schätzet;
Vnd jugendt sicher macht/
Hatt vns der todt gefangen/
Vnd jugendt/ stärck vnd prangen/
Vndt standt/ vndt kunst/ vndt gunst verlacht!

12. Wie viel sindt schon vergangen/
Wie viell lieb-reicher wangen/
Sindt diesen tag erblast?
Die lange räitung machten/
Vnd nicht einmahl bedachten/
Das ihn ihr recht so kurtz verfast.

13. Wach‘ auff mein Hertz vndt dencke;
Das dieser zeitt geschencke/
Sey kaum ein augenblick/
Was du zu vor genossen/
Ist als ein strom verschossen
Der keinmahl wider fält zu rück.

14. Verlache welt vnd ehre.
Furcht/ hoffen/ gunst vndt lehre/
Vndt fleuch den Herren an/
Der immer könig bleibet:
Den keine zeitt vertreibet:
Der einig ewig machen kan.

15. Woll dem der auff ihn trawett!
Er hat recht fest gebawett/
Vndt ob er hier gleich fält:
Wirdt er doch dort bestehen
Vndt nimmermehr vergehen
Weil ihn die stärcke selbst erhält.

(1650)

Der arme Teufel auf der Anhöhe

Alle 53 Minuten tötet sich in meinem Land ein Mensch selbst. Ich weiß, warum ich den Begriff „Gesellschaft“ so lange schon für verlogen halte.

Zum Glück ist das Meiste nicht von Goethe.

Ein Rüsselkäfer auf deiner Hand. „Na, wohin des Wegs, du blaue Schönheit?“ (Duvenstedt, 1. Mai)

„Everybody wants a piece of you, a piece of you to burn.“ Gun Club

Ein Hemd aus dem Hause Dornenbusch.

Eine der abgründigsten und zugleich bewegendsten Romanpassagen las ich kürzlich in Elisabeth Edls Neuübersetzung der „Madame Bovary“. Flaubert beschreibt Emma Bovarys Kutschfahrten nach Rouen, wo sie ihren Liebhaber trifft, in Wirklichkeit aber aus der verhassten Enge ihres Lebens oder ihrer Existenz hinauszureisen versucht. Auf einer Anhöhe lässt man die Pferde rasten, und dort, zwischen den Postkutschen, drückt sich „ein armer Teufel“ herum, mit einem tellergroßen Biberfellhut, der notdürftig verbirgt, dass der Alte blind ist und „anstelle der Lider zwei klaffende blutige Höhlen“ hat. „Das Fleisch franste in roten Fetzen; und Flüssigkeiten sickerten heraus, die als geronnene grüne Krätze bis zur Nase reichten, und die schwarzen Löcher schnieften krampfhaft.“ Der Arme Teufel singt ein Liedchen, während er den Kutschen nachrennt: „Wenn erst die heißen Tage kommen, träumt manch Maid von Liebeswonnen.“ Alles gerät in Bewegung. Die berühmte Droschkenfahrt, auf der Emma und Léon hinter zugezogenen Vorhängen sich stundenlang durch Rouen fahren lassen und der Vorstellung des Lesers und der Leserin überlassen bleibt, was zum Teufel sie dort im Dunkeln so lange machen, wird gespiegelt und zersplittert, wenn Flaubert beschreibt, wie Emma in der über das platte Land jagenden Postkutsche sitzt und mit einem Mal der Arme Teufel auf das Trittbrett springt und sich heulend außen festklammert: „Seine Stimme, anfangs schwach und wimmernd, wurde schrill. Sie gellte durch die Nacht wie das unbestimmte Wehklagen einer dunklen Verzweiflung; und durch das Gebimmel der Schellen, das Gesäusel der Bäume und das Gedröhn des hohlen Kastens bekam sie etwas Fernes, das Emma verstörte. Es drang tief hinab in ihre Seele, wie ein Wirbelwind in einen Abgrund, und trug sie fort zu den Weiten grenzenloser Melancholie.“

Hinter dem Haus, am Bahndamm, steht in der Sonne der Imker und schreibt in sein Bienenheft.

Diese prächtigen Mai-Tage, die linde Wärme, das volle Licht – so ist das Wetter der Erinnerung.

Umarmen sollten wir einander, immer von neuem, bei jeder Gelegenheit, umarmen, umarmen, umarmen. „Sei umarmt!“ – „Ah, lass dich umarmen!“ – „In meine Arme!“ Jeden. Ohne Ausnahme. Würde nicht der Tod sterben?