Fluss aus Sirup

Die Frau fährt mit dem „SUV“ von der Größe eines Räumpanzers von Laterne zu Laterne und klebt an eine jede ein selbstgestaltetes Suchplakat: Wo bist du? Darunter ein Foto, die Größe, die Farbe, der Name, die Besonderheiten. Ich bleibe vor einer Laterne stehen und erkenne das Gesicht nicht wieder, aber ich sehe den Kummer darin. (Sasel, 10.10.)

Im Fernsehen psalmodiert der Psychologe von der Psyche, und die Psychotherapeutin, seine Tochter, seine Frau, bekennt, so habe sie das Problem noch nie betrachtet, er sei ein Meister, sie habe noch einen weiten Weg vor sich, bis sie die Psyche verstehen werde.

„Frankentrump“ nennt die französische Presse den us-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten der sogenannten Republikaner – und benennt damit das Problem Donald Trump. Keiner will für dessen Demagogie und Sexismus, dessen Dumpfheit und Brandstiftung verantwortlich sein. Ein Monster, aus der Art geschlagen, muss dieser Milliardär sein. Nur ein Mensch, mit Abgründen und Fehlern, darf Donald Trump nicht sein. „Wenn ich nur an Bücher denke, muss ich gähnen“, sagt Trump. Er ist ein ungebildeter Idiot, ein Lügner, ein Widerling, ein Frauen- und Kinderverächter, ein hässlicher Drecksack und Hanswurst, und das ist nur der Beginn. Doch er ist kein Ungeheuer, dem man mit Argumenten und Kritik nicht beikommen kann. Er ist ein Mensch, und ich fürchte, er ist das getreueste Inbild unserer so gottlosen wie lachhaften Zeit.

Sie schwimme jeden Tag durch einen Fluss aus Sirup, sagt die Klavierlehrerin.

„He worships God with ashes.“ This Mortal Coil

Nobelpreis für Bob Dylan. „It’s not dark yet, but it’s gettin’ there.“ Ein gutes Zeichen in dieser furchtbar klanglosen Leere.

Sander Tannen

Zwischen den Plattenbauten von Nettelnburg
umhergaloppieren, und weiter durch den Frost
des frühen Morgens am S-Bahndamm entlang.
Die klirrende Luft. Ich könnte nachsehen, wann
ein Bus zur Schule abfährt, aber zockele lieber
vorbei am Billwerder Billdeich. Dort steht blass,
rot im Dunst, der Giebel eines Vierländer Hofs,
wo vor vierzig Jahren ein Schulfreund wohnte.
Wo bist du, Hakan Akalin! Kahle Äste; Elstern;
grauer Laubschlamm in Grünanlagen. Sander
Tannen — so hieß die Schule meiner Freundin
in der Zeit, als ich mir tags den Kopf zerbrach
über Schreiben, Musik, mich. Tender sun. Adri.
Am Telefon eine mir unbekannte Welt, hoffe ich
Dich zu finden, heißt es bei Sun Kil Moon. Früh
am Abend kachelte ich dann mit der Guilietta
zu Alten in Boberg und Lohbrügge. Eine Blinde
sah immer noch vor sich, wie hell es 1921 war,
und in einer Mansarde lebte eine, die hatte ich
lieb, die konnte nur liegen und rief mich: „Pony!“
Ich rede an der Schule, die längst anders heißt,
mit Schülern, jünger als mein Sohn, über Trakl,
Trakls Schwester, Tabus. Und ich trabe zurück,
durchs Laub, zum Bahnhof. Die Elstern lachen;
und der Nachmittag, so war er immer, ist grau.

Für Mark Kozelek

Morgen ein Kellertag

„Of course I’m a horse.“ Sioux-Wort, vielleicht.

Die Dinge, die sich nicht sagen lassen, gehen in der Stille der Überlegung durch die Wehmut hindurch und verwandeln sich. Das Allermeiste wird zu etwas Regenähnlichem, einem Niederschlag, der im Gemüt versickert. Aber es gibt auch Erkenntnisse, die bleiben, wie Erinnerungen an immense Wolkenschatten an einem lichten Tag. Der Zufall treibt dir Schatten zu, und mit einem Mal kannst du sagen, wie du weiterleben möchtest, weil vom Alten nur ein Unglück übrigblieb. Cheever sagt es in zwei Zeilen: „Am Morgen sage ich also: Springt, mein Herz, mein Geist. Es geht nicht anders. Sie müssen springen.“ (Grindel, 3.10.)

Zu jedem Zeitpunkt stehst du am Ende des Lebens und fängst, wenn möglich, neu an.

Ich ging, das Telefon am Ohr, durch die Siedlung, in den Wald hinein, wir sprachen, über das Glück, über die Gewalt, über das Unglück, über Auswege, und auf einmal lag vor mir, wie ich so lauschend und sprechend ging, ein grünes Tal, Bäume rings an seinen Rändern, die auf mich zukamen, und Leute, entfernte, Spaziergänger, man hörte jedes Wort, ohne es verstehen zu müssen. Wir sprachen über die Liebe, über das Ende der Liebe, über die Kinder, über die Klugheit der Kinder. Das grüne Tal. Die Bäume. Die Weite. Die Enge. Das Ende, die Öffnung der Enge. (6.10.)

Kreuzworträtsellöser im Bus. „Weltmacht mit drei Buchstaben?“ — „Ich.“

Denk an Torberg. Friedrich Torberg und seinen „Schüler Gerber“, den du in der Oberstufe last. Benda hieß der gegen seinen selbstherrlichen Lehrer „Gott Kupfer“ aufbegehrende Schüler, nach dem du dein einziges Pseudonym benannt hast. Vergiss den Namen nicht! … Keiner kennt ihn mehr, nur du. Vergiss Friedrich Torberg nicht!

Morgen ein Kellertag.

Der Staub auf den Gegenständen – der Staub auf den Geschehnissen. Deshalb wird allenthalben Staub gewischt, vorgeblich.

„Ich werde so störrisch sein wie ein Rotkehlchen – in einem Käfig werde ich nicht singen.“ John Keats

Freiräume und Gärten

Den besten Empfang hatte ich unter der roten Krone der Zierkirsche.

Mein Tagebuch – jetzt ausklappbar für eine erweiterte Pumpen-Dokumentation!

„Behandle einen Gast zwei Tage lang als Gast, aber am dritten gib ihm eine Hacke“, lautet eine Swahili-Weisheit, und ich las statt „Hacke“ „Hecke“. Beim Freund zu Gast. Und wirklich, es war, als schenkte er mir eine prächtige Hecke. (Sülldorf, 28.9.)

Im Nachtwind das Rauschen der Bäume, und in einem Vorgarten fünf Wicken, groß wie du, schwankend wie du.

„Darlegen, was ich weiß, ebenso wie was ich zu wissen hoffe. Meinen Alkoholdurst beschreiben, wie er um neun in der Frühe beginnt und manchmal unbeherrschbar wird um halb zwölf. Die Schmach beschreiben, in der Speisekammer einen Drink abzuzweigen – und den aufreibenden Geschmack des Gin; über das Gewicht aus Entmutigung und Verzweiflung schreiben; über ein namenloses Grauen schreiben; über die zermürbenden Krämpfe haltloser Angst schreiben; über den Horror des Scheiterns schreiben. Das Ringen, eine Schärfe an Gefühl zurückzuerlangen, des Gefühls, dass ein Rand dessen, was Hoffnung versprach, weggebrochen ist.“ John Cheever

Ein Lieferwagen fährt langsam vorbei, in dem sechs – 6 – Arbeiter sitzen und rauchen, unrasiert, lachend, guter Dinge aufgrund der Schönheit des Lebens auf dieser Welt. Ihre Firma: FREIRÄUME UND GÄRTEN (Barmbek, 30.9.)

Was ist das Wissen der Welt schon? Das Kind ist fest überzeugt: Meerrettich ist der Name eines Fischs.

Die Alte, die in den Bus steigt mit einem umfunktionierten Einkaufswagen, an dem lauter Tüten, Beutel, und Taschen befestigt sind, voller was? Ein Rad ihres Gefährts ist kaputt, aber auch mit dreien tut es noch seinen Dienst. Die Alte, die am Morgen freundlich lächelnd im Bahnhof das Stadtmagazin anbietet – und acht Stunden später unverändert dort steht. Die Alte, die vor dem Supermarkt vorbeigeht und laut flucht auf die Kinder, die mit ihren Rollern vorüberbrettern – und der junge Kerl, der sie zurechtweist: „Asozial sind Sie! Asozial!“ Die Alte, an der du vorbeirennst mit Deinem ganzen Gepäck und die dir nachruft: „Gibt’s das? Gibt’s das?“ (Ohlsdorf, Winterhude, Sülldorf, September 2016)

Das Kind Kalifornien

An den Wänden die Bilder von dem Kind,
das größer geworden ist als Kalifornien.
Du siehst sein Gesicht wachsen auf
blassen Fotografien und erkennst
das Kind an seinen Ohren, dem Blick,
der Sehnsucht nach dem Ende der Enge.
Das Kind Kalifornien schrieb nie einen Brief.
Es rief keinen an. Es ging fort und blieb
in der Ferne. Von den Wänden dort,
wo du schläfst, manchmal träumst,
blickt es dich an und doch nicht dich.
Rätsel, Zweifel, wildes Wollen, wonach
sucht so ein Kind, und wonach sucht es
nicht? In jeder Regung, jeder Bewegung,
jeder Entgegnung hat das Kind ein Gesicht,
das mahnt: Trau der Festigkeit der Dinge.
Da, die Gelächterschönheit. Glaub mir,
sagt das Kind an der Wand des Hauses,
das dir Asyl gewährt. Im Zweifel Zweifelnder.
Sei selber dein Sehnen. Wenn nötig ein Land.
Wenn nötig ein fernes. Wenn nötig Kalifornien.