Archiv für den Monat März 2017
Nichts ging je verloren
„Carpet jam!“, ruft das Kind.
Und das Kind sagt: „Es war so kalt, meine Nieren sind abgestorben.“
Die Liebe, die du gibst, ist die Liebe, die dich retten könnte.
Der wie so ein „Bankmensch“ wirkende Bankmensch schnattert und frotzelt und plustert sich auf im „Schweigeabteil“, Ruhebereich im Zug. Über sein blitzendes Smartphone hört er ohne Kopfhörer Beethoven. Auf den vormärzgrauen Feldern stehen Kraniche, Kunden, die einfach nichts kaufen wollen. Eine Frau verlässt entnervt das Abteil. „Deutsche Bank“, sage ich zu ihr, und zeige auf den Bankmenschen, der auf seiner Polsterbank eingeschlummert ist. Er schnarcht wie Donald Trumpf. Zwei kräftige Kerle kommen und tragen ihn in den Korridor. „Sollen wir ihn aus dem Fenster werfen?“, fragen sie uns Übrige im Abteil. „Nein“, sage ich tonlos. „Er ist ja ein Mensch, auch wenn er das nicht weiß.“ Sie setzen den Bankmenschen auf eine Bank im Schaffnerabteil. Stille tritt ein, und sie verlangt keinen Fahrschein.
FREE JACK ENGLE!
„Puschkinallee“ steht auf der großen weißen, still in der Abenddämmerung vertäuten Wannseefähre.
Meistbietend verscherbelt und zu Geld, Geld, Geld gemacht wird der Wortlaut des in einem digitalisierten US-Zeitungsarchiv entdeckten Romans „Life And Adventures of Jack Engle. An AutoBiography“ von Walt Whitman, ein Buch, das seit 1961 – volle 70 Jahre nach Whitmans Tod – von Rechtswegen eigentlich rechtefrei ist und somit für die Allgemeinheit kostenfrei zugänglich. Nicht aber in unserer Zeit. Viva Las Vegas!
Ob ich wisse, wer den Ausdruck „loneliness“ erfunden habe, fragt mich das Kind, und ich denke: Erfunden? Ist der Begriff nicht eher gewachsen über die Jahrhunderte und Jahrzehnte, auch weil ja jeder etwas darunter versteht? „Shakespeare“, sagt das Kind.
„Nothing is ever really lost, or can be lost.“ Walt Whitman
Familienbildnis
Verbreitet wie Licht und Liebe
Während ich meine Bücher schreibe, mit Blick auf den Innenhof, das allmählich wieder erwachende Leben der Elstern, erlebe ich als Beobachter und Zuhörer zugleich die Kindheit, das Heranwachsen des Nachbarjungen. (24.2.)
In der Zentralbibliothek, während es draußen schüttete, eine halbe Stunde lang Gedichte von Tomas Venclova gelesen. Eine Luft, die darauf zu warten schien, dass nur noch eine einzelne Stimme zu hören ist.
Das neue Album von Mark Kozeleks Sun Kil Moon ist erschienen: „Common as light and love are red valleys of blood“.
Die letzten Februartage sind grau wie die zurückliegenden Wochen und Monate. Hellere Pausen und Unterbrechungen nur der Kitt zwischen grauen Platten. 14 Uhr am Mittag – schon springen flackernd die Lichter der Straßenlaternen an.
Jeden Morgen, wenn ich an dem Schulhof vorbeikomme, muss ich denken, dass alle Schulhöfe auf der Welt – der Welt – gleich klingen, wie ein Schulhof der Welt. Mark Kozelek singt: „… these kids I hear outside my window I was one of them I was one of them I was one now I’m the old man in the chair deep in thought in the living room I’m that old man now and I’ m grateful I’ve got this far and that I’ve become him“ – („God bless Ohio“).
Mit der Geschwindigkeit der Schnecke wird es Frühling, zum x-ten Mal. Traurig flötet ein Zilpzalp im Innenhof – im Innenhof meines Journals –, herunter von einem Baugerüst, dem Baugerüst meines Journals.
Berlin
Lass die Enttäuschung
Ein Abend in der S-Bahn, es ist Winter. Klirrende Luft, der Waggon ist voller Leute. Da telefoniert eine Frau aus Wisconsin über Skype mit ihrem Hund daheim.
Durch die vereisten Zäune ragen bedürftig des Stoffes, der Haut und des Menschenfleischs die stachligen Äste eines Dornengestrüpps. Aber Jesus, da sind nur Fahrbahn, Abgase, bitterkalte Februarnachtluft. (Steilshoop, 12.2.)
Im Schwimmbad beobachte ich das junge Mädchen im Nixenbadeanzug: Seine Beine und Füße stecken in einer im Wasser violett schimmernden großen Flosse. Die anderen kleinen Mädchen im Becken können das Wunder nicht fassen. Sie waren sich so sicher, dass es Nixen nicht geben kann!
Aber lass die Enttäuschung.
Weniger auf dem Bild, vielmehr anhand des Bildes erkenne ich mich wieder: März 1998, LCB, Treffen der von Schweizer Autorinnen und Autoren ins Leben gerufenen Gruppe NETZ. Um die große Tafel herum schritt schweigend Renate von Mangoldt und schoss ihre genauen Augenblicksbilder. Peter Weber, Perikles Monouidis, Felicitas Hoppe, Michel Mettler, Katharina Hacker. Ich erinnere mich an einen abendlichen Tanz mit Julia Franck. Und an zwei Zeichnungen, die ich machte, auf einem gelben, linierten Block.
Endlich, finalement, Frühling, printemps, oder wenigstens der Vorbote, der Vorfrühling. Ende des halbjährigen Winters – oder fast. Vorvorfrühling. Pré-printemps.
Durch den Vorgarten steigt die Katze, von der ich letzte Nacht träumte.
Ajgi,
ich weiß
dich und die
Schneewehen
überall dort in
Tschuwaschien.
Ajgi, ich weiß, du
bist gestorben, nur
was heißt das denn,
weiß ich dich doch da,
beim Schach im Park,
oder wie du schreibst:
Samoskworetschje.
Du weißt, entgegen-
kommend dir halte ich
ein Leben lang Ausschau
nach allem, ja nach allem.
Der erschossene Schmetterling
Nur die Güte lässt dich schlafen – oder ist es das Ignorieren deiner üblen Gedanken? Was du anderen vorwirfst, du wirfst es eh nur dir selber vor. Der Groll, die Wut, der Zorn, deine Angst und dein Glaube an die Macht der Sorgen („Ich habe die ganze Nacht lang nicht schlafen können!“ – Mantra deiner Kindheit und Jugend) treiben dich in den halb wachen, halb durchdösten Furor. Und du weißt, du wirst die ganze Nacht lang nicht schlafen können.
Wie gesund der Krebsarzt sich in deiner Gegenwart gibt. Wie schwach, wie matt und moribund du dich fühlst in seiner Anwesenheit. „Mori…was?“ Er weiß alles, er weiß nichts. Beschwichtigt, immerhin. Tut sich groß, bah. Bläst sich auf, pffff. Winkt ab. Versager. Mickriger Medizinmann. Man möchte ihn zum Fenster rauswerfen.
Luis Buñuels Mirabeau-Verfilmung „Tagebuch einer Kammerzofe“ hat mich enttäuscht, aber ich muss gestehen, dass ich seit Wochen immer wieder an den Film zurückdenke. Die zurückgehaltene Lust, die herausplatzende Gewalt, der groteske Ekel des Spießertums vor sich selbst. Fetischistische Senioren. Gewürgte, begrapschte Kinder. Wenn Michel Piccoli mit seiner Schrotflinte einen Schmetterling erschießt, denke ich erst: Bah, wie geschmacklos. Dann: echt rebellisch. Dann: die erruptive Poesie. Dann: eigentlich bloß blöd anti-bürgerlich. Shock-maker. Aber ich selber bin mir seither ja der Beweis, dass diese Aufrauung Buñuels Ziel gewesen sein muss. Traum eines böse gemachten Kindes. Und das Kind hat die so schönen wie starren Augen Jeanne Moreaus.