Blumen und Fledermäuse

„Ich beneide nicht die, die vor mir lebten, noch die nach mir leben werden, sondern die, die mit mir leben dürfen“ – so mein Mitstipendiat Thomas Kapielski während seiner Lesung, und im Saal (der schon vor 213 Jahren säkularisierten und in der Zwischenzeit als Lazarett, Büro, Reifen- und Elektrogerätelager genutzten Kapelle) brandet Gelächter hoch. (6.6.)

„Die Blumen sind aufgewacht!“, ruft das Kind und stürmt ins Freie, wo eine Frau ein Mädchen ankeift: „Rosalie! Ich bin die Mutter. Lass mich in Frieden.“ (Nimm einer sie bei den Füßen, ich hebe sie hoch bei den Achseln, los, wir werfen sie in die Alster.)

Fronleichnam in Bamberg. Alles zu. Nur die Glockenläden haben geöffnet.

Jeder Zombie stöhnt: „Fron Leichnam …!“

Vor dir an der Supermarktkasse steht ein Hüne ganz in Schwarz, mit Ketten am Ohr, in der Nase und an allen Taschen seiner schwarzen Kluft. Auf seinem Rücken der Spruch verrät seine Herkunft: „Fledermäuse zogen mich groß.“ (Steilshoop, im Juni)

Über hunderte Kilometer hinweg Mohn, Mohnfelder entlang der Regnitz, im ganzen Saaletal, bis weit ins Brandenburgische immer wieder rote Flecken, rote Feldränder, Mohn. (Jena, 16.6.)

Tot ist nur, wer es immer war. Helmut Kohl ist gestorben. „Der Kanzler der Einheit“ war stets auch der Kanzler der Gemeinheit, der Arroganz und der Lähmung. Aus Kohls Saumagenschatten heraus krümmte sich der Schröder, der verglichen mit „Birne“ wie Fallobst wirkte. Wer erinnert sich an die endlosen Jahre des plattgewalzten Stillstands, des Vakuums vor der „Wende“? Die Eigenliebe in Zeiten der Kohl-Ära. Die fetten Jahre waren nicht vorbei, nein die fetten Jahre waren Regierungschef. Und die Armut begann und wurde Normalität.

Gäbe es die Liebste nicht, du müsstest schreiben: Das Innigste heute, das Haupterlebnis – was dich weiterleben lässt und glücklich einschlafen an diesem Tag –, war, als aus dem Baum das Kind fiel, wie eine sehr große Birne, kindergroß. Und auf der Stelle – das mach ihm nach, so lange du kannst – sprang es auf und rief: „Nichts passiert!“ (Lokstedt, 21.6.)

Schwarzer Hund

Verloren an der Oberfläche: die Figuren aus Terrence Malicks Film „Song to Song“ über das Popmusik-Business von Los Angeles. Verloren an der Oberfläche ist auch der Film selbst, eine zusammengestückelte Enttäuschung. Nur in wenigen Sequenzen über die Kindheit, über die Ödnis der Südstaatenvororte und die weder kaputt zu redende noch kaputt zu filmende Schönheit der Landschaft kann der manirierte Streifen überzeugen. Bah, wie schade.

Die krebskranke Frau, neben der du im Heurigengarten sitzt, spricht von sich in der Vergangenheitsform, in der du von Toten sprichst. „Ich war einmal Restaurantkritikerin“, sagt sie. „Ich lebte in Hietzing.“ Ja, einmal glaubst du dich zu verhören, als die Frau mit den schönen hellgrünen Augen von sich sagt: „Früher, als ich Geburtstag hatte …“ (Wien-Nußdorf, 27.5.)

Die Dachdecker decken das Nachbardach neu, sie bilden eine Stafette, je drei blassrote Dachziegel übereinandergelegt wirft Einer mit kurzem, sanftem Ruck dem Nächsthöheren zu, passgenau, fehlerlos, in großer Höhe, unter der Mittagssonne am blauen Himmel. Sie sind junge und sie sind ältere Dachdecker. Sie reden kaum, worüber auch könnte man reden? Es gibt nichts. Es gibt bloß die immergleiche Geste und Bewegungsabfolge, und sie ist voller Anmut, Schönheit, Zweckdienlichkeit und Moral. Wer das nicht begreift, dem rufen die Dachdecker von oben hinterher: „Schleich di!“

Empörend, aufwühlend, einmal mehr, Nietzsche, sein sich dick tuendes Diktum: „Wir alle sind längst kein Material mehr für eine Gesellschaft.“ Als wäre das nur Einer je gewesen oder hätte es sein sollen: Material. Nicht mal Dummdreistigkeiten – und stammen die auch von Nietzsche – sind bloßes Denkmaterial, d.h. einzusetzendes, zu verarbeitendes, seiner Funktion obliegendes Stückwerk. Wie könnten Menschen das sein? Wir suchen nach Gesellschaft, finden sie selten, suchen dennoch. Jede Gesellschaft ist Widerstand.

„Bundesunterwerfungsspiele“, sagt das Kind. Es weigert sich, am Sportfest der Schule teilzunehmen. Das widerspenstige Kind. Das geliebte Kind.

Den dritten Tag in Folge zehn Stunden lang ohne nennenswerte Pause Henry James übersetzt.

Schwarzer Hund in der Regnitz – wundervolle Pracht, seine Freude mitanzusehen, sein unbändiges Ankämpfen gegen das Wasser, den Spiegel, das sich ihm Widersetzende. Ich beobachte den Hund, bis er erschöpft aus dem Wasser kommt, sich ausgiebig schüttelt und dann verschlankt auf die Hälfte die Böschung hinaufschleppt. Eine Zeitlang trottet er noch am Ufer entlang, äugt, überlegt, aber hat genug.

Habe die Ehre

Da wurde mit einem Mal die Luft dünn für Donald I., König von Trumponesien.

An diesem Abend und in dieser Nacht regnet es so unaufhaltsam und so viel, dass die Baumkronen, unter denen noch am Tag zuvor die Leute standen und Zeitung lasen, tags darauf die Sonnenbrille abnahmen, wenn sie einander begrüßten. „Haben Sie den Regen gehört, den Donner, haben Sie die Blitze gesehen?“ – „Stundenlang!“ – „Woher das ganze Wasser nur kommt!“ – „Es ist ein Meer! Ein fliegendes.“ (Barmbek, 19.5.)

Der warme Frühsommerabend in Bamberg: Die Fenster der Kapelle am Fuß der Straße sind offen, und im leichten Wind flackern die Kerzen.

Pfingstrosen. Angstrosen.

„Verbiete mir am besten gleich zu leben“, sagt eine Passantin in ihr Telefon, und ein Mann ein paar Schritte weiter: „Bis Juni sollen wir Schuld haben, richtig?“

„Habe die Ehre“ – die alte bayrische Abschiedsformel im Gasthof meiner Großeltern. Ich höre sie in Bamberg zum ersten Mal seit Jahrzehnten.

Im Parterre von Hegels Wohnhaus befindet sich ein Lager für Regale, Stiegen, Latten und Bretter, ein Raum für die Phänomenologie des Gerüsts. (25.5.)

Kindheit: Kinder gehen am Samstagvormittag im Pyjama Brötchen holen. Sie haben noch das milde Torkeln der Schläfrigen. Die Glocken läuten.

Der Physiotherapeut spielt Akkordeon.