Archiv für den Monat Januar 2018
Am Leben, d. h. zu zweit
Große Begeisterung, und man umringt mich und strahlt mich an, als ich nach meinem allerersten Supermarkteinkauf fünf Bonuspunkte an dem vor sich hin bimmelnden Apparat am Ausgang gewinne. „Es funktioniert! Sie sind ein Glückspilz!“, ruft eine Frau guttural aus, die schon seit Jahren oder Jahrzehnten hier einkauft. (Lenzburg, 9.1.)
„Sie berücksichtigen besser das dialektische Prinzip so einer Neonröhre“, sagt der Elektriker und schaltet das Licht an, aus, an, aus.
„Alles rückt näher zusammen. / Alles will miteinander sprechen.“ Christian Saalberg
Jeder weiß, hier ist nirgendwo.
Wie leben, ohne ab und zu dich zu versichern bei Neil Young, dass du noch am Leben bist, d.h. zu zweit? I’ve been first and last / looking how the time goes past / but I’m all alone at last / rolling home to you.
„Wenn ihr mich zu Gesicht bekommt, lasst es gut sein. Das bin nicht ich.“ Henri Michaux
Im Haus nebenan, bei Müllers, im Müllerhaus, ging Hermann Hesse ein und aus. Sehr großes, sehr gediegenes und feines Haus, fein im besten Sinn. Haus fast ganz aus Fenstern. Ich stelle mir Hesse vor, wie er hinaussieht, aufs Schloss oben am Hang. „Mal bissi gehen“, sagt er.
Waschhausgraben
Drei Besichtigungen
Eigentlich, im Grunde genommen, ja in der Tat – en faite –, hast du nie zu denken gelernt. Du kannst nur lesen und schreiben – nur? Du liest – vergeblich – in den Gedanken anderer, du schreibst, um nicht denken zu müssen. Die Wörter, die Sätze, die Silben und ihre Klänge setzen sich, wie Sternbilder vor den leeren Raum, vor deine Gedanken – so scheint es, so scheinen sie. Und womöglich ist das – alles – ein Merkmal, ein Denkmal des Dichterischen. Hier würde das Denken beginnen, beginnen können.
Bleib eigen. Gestalte den Rand, das Ufer. Denn mit dem Strom schwimmen nur die toten Fische. (6.1.)
Besichtigung der Wohnung eines Verstorbenen – als schrittest du eine Viertelstunde lang durch dreieinhalb Zimmer im Jenseits. Alle Gegenstände sind nicht mehr ganz anwesend, wirken, als wollten sie unbedingt erzählen – nicht von ihnen, sondern ihrer Geschichte mit dem Menschen, der hier lebte und sie täglich in die Hand nahm –, ehe sie verschwinden müssen. Im Aufstellrahmen Fotografien von einer schönen Frau in einem schönen Licht, einer für immer anziehenden Toten, vorausgeschritten in die norddeutsche Unterwelt. Und in den Bücherregalen die wirklichen Landkarten, die Romane eines Lebens, Proust, Lawrence, Lowry, Fontane, Hemingway, Hammett. Der Sohn des Toten ist der eigentlich, der einzig Leblose: „Nehmen Sie alles mit“, sagt er tonlos, ohne Herz, mit kalter Visage. „Ich habe nicht vor, noch einmal herzukommen.“ Und mag der Tote auch ein Scheusal gewesen sein. Seine Habseligkeiten haben es mit ihm ausgehalten.
Lenhartzstraße
Wer hier liest
„Sind Augen Organe?“, fragt das Kind.
Um Totgeräusche auszuschließen, schneide er sehr leises, kaum hörbares Rauschen in die leeren Räume zwischen Sprechaufnahmen, sagt der Toningenieur. Todgeräusche. Der Todingenieur. (Winterhude, 20.12.)
„I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist
I’ve been working on the new Oliver Twist“ Destroyer, „Sky’s grey“
Zum Zwiebelschneiden setzt sie die Sonnenbrille auf.
Seit Monaten auf dem Nachbarbalkon die achtlos bei Wind und Regen liegengelassenen Pflanzen, die umgestürzten Kübel, die Erde, der schwarze Mulm. Manchmal treten sie heraus unter den Nachthimmel, die Mieter (die keine Bewohner sind), stoßen an mit Sekt (oder, uh, Prosecco), lachen, feixen, glotzen herüber (und ich strecke den Zeigefinger aus, hebe den Daumen und krümme den Zeigefinger), bevor sie wieder hineingehen zu ihrer nichtswürdigen Abendserie, ihrem schwarzen Mulm.
„Warum sich abgeben mit Leuten, die dich immer bloß traurig machen?“, fragt das Kind.
Wer hier liest, begibt sich auf Grasgebiet. Hier herrscht nichts und niemand, d. h. das grüne Gras. Hier mäht keiner den Rasen. Hier werden Rasenmäher in die Luft gesprengt. Wir wachsen, das Gras und ich, und liest wer hier herum, so muss er mit, so muss er mitwachsen. Lass, Grasleser, Deinen Dünkel, der bloß Angst vor dem Nichtverstehen, d. h. vor dem Unbekannten, d. h. vor dem Sterben ist. Hier trabt das Gras. Hier ist der Hass zu Ende. You are leaving the prejudice sector. Alles wird grün, allem wird grün vor Augen. Wir wehen im Wind, und der ist Atem, wessen auch immer. (3.1.2018)
Steg
Die Stühle sind angekommen!
In Reihen stehen sie im Licht
des Saals, als könnten sie sich
unauffällig geben und davon-
laufen, sobald jemand vergisst,
die Tür zu schließen. Genauso
wartet das Licht. Es sinkt auf die
Stühle. Wer später darauf sitzt,
weiß das dunkle Holz ebenso gut
(ebenso wenig) wie irgendeiner
sonst. Aber das ist ja zum Glück
auch überhaupt nicht die Frage,
du Stuhlforscher! Ahnen die Stühle,
wer auf ihnen Platz nehmen wird?
Ahnt es irgendeiner? Wer denn? Wo
ist der Weg, der Steg aus Licht quer
durch den Saal der ganzen Ignoranz?
Attenkam
Meine Saturn-Anrufe
„Code Is Poetry“ – der Slogan eines der wichtigsten Web-Providers (oder so) macht deutlich, wie vereinnahmt (die) Poesie bereits ist. Gibt es poetische Strukturen, die dem Zugriff durch die massenabhängigen Medien standhalten?
Dein eigentlicher Job: Beobachtung der Gerechtigkeitsgrenze. Im Ernst?
Nein. Aber „redundant“ ist eine prachtvolle Berufsbezeichnung! „Und Sie, was machen Sie so?“ – „Ich bin redundant.“ Oder für die Schnittigeren unter uns, die ja eher häufiger denn seltener werden: „Ich bin Redundant, versteht sich, Oberredundant!“
Der Freund sagt am Telefon, es gebe einen Hund dort in diesem Haus, der sei wie er.
Christian Saalberg nannte sich so nach seinem Lieblingsort in der Kindheit, dem niederschlesischen Saalberg, heute Zachełmie im westpolnischen Jelenia Góra. In seinem frühen Gedicht „Saalberger Sommer“ beschreibt Saalberg den Ort, lädt ihn sinnlich auf, verpuppt ihn in den Fäden seiner Erinnerung. Die vierte (und in der überarbeiteten Fassung letzte) Strophe des Gedichts schließt:
Hinter Wall und Staketen nistet
Unberührbar der Sommer, meine Geliebte,
Hütet mein Wort das Schweigen ein.
Weiß und immergrün steht das Haus,
Gesäumt von der strömenden Zeit,
Gelassen auf blättrigem Grund.
Saalberg. Das soll dein Name sein.
Wohlgemerkt, es ist nicht der Dichter, der sich selbst hier anspricht und seinem poetischen Ich den Namen des geliebten Ortes zuweist – vielmehr erhält der Ort den Namen, ganz so, als hätte er zuvor anders geheißen oder irgendwie heißen können. Dennoch – und hierin besteht Saalbergs hohe Kunst, die er über die folgenden Jahrzehnte immer weiter verfeinert – rücken Ort und Kind, Erinnertes und Dichter hier merklich zusammen. Die poetische Parabel biegt sich der Welt zu. – Benannt nach dem Lieblingsort in der Kindheit, wie würde dann ich heißen?
„Die Anerkennung meines Tuns, ein erstarrter See“, sagt der Freund.
Tel.nr. v. Saturn: 0221-22243123.