Behaustheiten

Lauter als der lauteste Punk, der lärmigste Death Metal, der sich aus der Nachbarwohnung durch die Wände drillt: das Singen der Vögel im Innenhof.

Bau ein Haus, aber lass die Haustür offen.

Das Kind hat einen Ast im Park gefunden und mitgenommen nach Haus, in sein Zimmer, wo es den Ast, an dem ein paar letzte Zweige sind und sogar halb vertrocknete Blätter, neben das Bett legt. Dort liegt der Ast in der Nacht. Fragt man das Kind, was der Ast soll, bekommt man zur Antwort: „Nichts, der Ast soll nichts. Außerdem ist er kein Ast.“

OMD – Dazzle Ships

Vor dem Haus wird eine grün bemooste, fast braune Straßenlaterne ausgetauscht gegen eine neue, noch ganz blanke, beinahe wie verchromte. Frag den Baustellenleiter, ob er weiß, wie lange die Laterne hier gestanden hat, an ihrem Laternenlichtort, und er, der dickbäuchige Mensch in dem Unterhemd und der Latzhose, antwortet ohne zu zögern – doch, er zögert, aber unmerklich oder kaum merklich, denn er ist auch bloß ein Mensch – bloß? –: „49 Jahre, seit 1969, deshalb wechseln wir sie, Laternenvorschrift. Laternen 49, Ampeln 29 Jahre, die sind schwerer.“ Frag ihn, ob er weiß, wieviele Ausfälle diese eine, diese besondere, weil deine, vor deinem Fenster stehende, nein nicht mehr stehende Laterne gehabt hat in 49 Jahren, und er antwortet nach einem Blick in seine Laternenliste: „Keine. Hat anscheinend immer gebrannt. Geschienen. Zuverlässig, die alte Herzogin.“ 9,50 m sei sie hoch, sagt der Baustellenleiter, desgleichen die baugleiche neue. Der Austausch ist nach anderthalb Stunden erledigt und vollendet. Die Laterne, die keine mehr ist, wird auf der kurzfristig abgesperrten Wohnstraße zersägt und verladen. Licht aus, Frau Herzogin. (Barmbek, 19. April)

Umspannwerk im grünen Gras voller Butterblumen. (Ulm, 20.4.)

Erinnere dich an Wittfeitzen, Wendland 1979, das kirchliche Feriencamp, die stillen, sonnendurchpulsten Wälder rings um den weitläufigen Zeltplatz. Es war kein Idyll, mit Romantik – Nullbegriff – hatten die Wochen nichts zu tun. Alles brach auf und wurde Neues, Ungeahntes. Abscheu und Abenteuer waren beinahe eins. Auf einmal liefst du allein durch die Welt, ungesehen, unbeobachtet, bereit, verloren zu gehen und wurdest ich. Hinzu kam das Erzählen, das Phantastische der Phantasie – denn da erzählte jeden Abend der Küster seine Geschichten, seine aus dem Stegreif erfundene, weitergesponnene Erzählung, und wir lauschten und blickten einander in die Gesichter, du und ich.

Architektur und Moral

„Störlesung“ im Bauernhaus, im Oberdorf von Rauris im Salzburger Land. Ein strahlend blauer Nachmittag. In dem Drei-Generationen-Haus – der Sohn und dessen Sohn holen mich mit dem Pick-up vom Hotel ab – erwarten den Autor 40 Gäste, ländliches Literaturpublikum. Wir sprechen über Heine, Trakl, Morgenstern, Fried. Die Bachmann. Gedichte also. Ich lese also aus den neuen Gedichten. Es gibt eine große Einfühlsamkeit. Das Marienantlitz an der Stubenwand hat die Tochter gemalt, die Enkelin, die Maria ähnelt. Es ist auch ein Selbstbildnis. Nach meiner Lesung setzt sie sich zu mir, offenherzig und zugleich verlegen – oder bescheiden – fragt sie nach meiner Arbeitsweise. Unser Gespräch dreht sich um Wirklichkeitsschau. Kann ich in einem Gedichtentwurf bannen, was mir wirklich erscheint – oder verfälsche ich das Erlebte, das Geschaute, indem ich meinen Entwurf nachträglich zu verbessern versuche? Sie ist 21. Sie hat drei Kinder. Die Kleinen toben durch die Stube voller Leute, die längst allen Kuchen verzehrt haben und sich über Gott und die Welt unterhalten. „Auf der Stör“ waren hier die Handwerker einst, so wie im Norddeutschen „auf der Walz“ – also ist meine Lesung eine Wanderlesung. (Singen, 7.4.)

OMD – Architecture and Morality

Wie es sich anfühlen mag, das Leben verbracht, ohne existiert zu haben, fragt Oswald Egger in seinen poetischen Aufzeichnungen vom Leben auf dem Land „Val di Non“. Die Frage erscheint mir absurd, irrig angesichts der Fülle aus Beobachtungen und Empfindungen, die Eggers Text ab- und durchaus hervorruft bei einem wie mir, mit einer im Ländlichen verbrachten Kindheit. Aber ich kann das Geschwafel von einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit nicht mehr ertragen. Wie soll ich denn existieren, wenn diese höhere Existenzform mein Leben – mein Empfinden, mein Denken, mein Leben – zu übersteigen hat? Ist damit eine unausgesprochene, eine unaussprechbare Transzendenz gemeint? Warum die auf Kosten eines Lebens und als unmöglich postulieren? Colm Tóibíns Schilderung Minny Temples, der jung verstorbenen Cousine Henry James’, die dem Romancier zeitlebens als menschlicher Maßstab gegenwärtig blieb, lese ich im Roman „The Master“ („Porträt des Meisters in mittleren Jahren“, übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini) als eine poetische Antwort: „Henry fragte sich außerdem, was das Leben für sie bereitgehalten hätte und wie ihre erlesene Fähigkeit zum Widerstand mit einer Welt hätte fertig werden können, die unweigerlich versucht hätte, sie in ihre Schranken zu weisen. Es war ihm zumindest ein Trost, daß er sie so gekannt hatte, wie es der Welt nicht vergönnt gewesen war, und daß der Schmerz, ohne sie leben zu müssen, nicht mehr als ein Bußgeld war, das er für das Privileg zahlte, zusammen mit ihr jung gewesen zu sein. Was einmal Leben war, dachte er, ist immer Leben, und er wußte, daß ihr Bild fortan über seinem Geist walten würde als eine Art Maßstab und Norm von Klarheit und Gelassenheit.“

Mit der Dunkelheit kam der schwere, erdige Geruch des frischen Frühlings. Er stieg aus den wenigen unbebauten Flächen in der Innenstadt und strömte einem in die Nase wie die Erdbeerdünste einer Erdbeerkonfitürefabrik. Am Tag tschilpten die Vögel, die Singvögel von Singen sangen, doch sobald über dem Fußballplatz das Flutlicht leuchtete, verstummten sie und stieg aus dem auf einmal wieder grünen Boden der Duft. (Singen, 9.4.)

Nachtöffnung

Regen, ein Gefühl,
und die mageren Nebelpferde
knapp überm Erdboden.
Da sind wir aufgehoben, alle
traurigen Gestalten eines Lebens,
unter einem Baum, der bleibt,
und über den gelben Wassern.

Durch uns segeln
die Mauern hindurch
in die Nachtöffnung,
mit einem Mund, der aufgeht
und der uns sagt, die Brücke,
hier ist sie zu Ende. Und ins Moos
auf dem Handrücken kratzt der Wind
lesbare Regungen.

*
1990 – 91 – 95 / 2018

Auf dem Gesicht der Blinden die Sonne

„The Lady of Shalott“ heißt eine Ballade Tennysons, nach der John William Waterhouse 1888 ein Gemälde vollendete. Es zeigt die unglückliche Jungfrau Elaine, die durch einen Zauberbann auf einer Insel im Fluss gefangen ist, der zu König Artus’ Hof Camelot führt. Dort webt sie, was sie in ihren Träumen und Gesichten sieht, in einen endlosen Teppich ein, bis sie sich eines Tages in den am anderen Flussufer vorbeikommenden Ritter Lancelot verliebt. Um zu ihm nach Camelot zu gelangen, steigt sie in ein Boot, auf dessen Bug sie ihren Namen malt, und lässt sich darin flussabwärts treiben in ihr Verderben, denn sie setzt mit ihrer Flucht einen todbringenden Fluch in Gang. In Camelot findet man nur den Leichnam der vielbestaunten Schönen in dem Boot und auch den Teppich, den sie aus ihrem Gemüt gewoben und Wirklichkeit hat werden lassen. Auf ihrer Brust liegt ein Pergament, auf das sie schrieb: „The web was woven curiously, / The charm is broken utterly, / Draw near and fear not, – this is I, / The Lady of Shalott.“ Waterhouse’ Bild zeigt die Verstörte in ihrem Boot, wie sie ablegt vom Ufer ihrer Banninsel (sie weiß bis zu ihrem Tod weder, weshalb sie verbannt wurde noch welche Strafe sie erwartet) und auf den Fluss zuhält, der ebenso der Styx sein könnte. Immer verblüfft an dem mit einem Grauschleier überzogenen kräftigen Farben hat mich, dass auch das Boot des moribunden jungen Edelfräuleins „Lady of Shalott“ heißt, der Namenszug steht deutlich zu lesen am Bug, wenn man in der Londoner Tate Gallery vor dem nicht auffällig großen Bild steht. Auf dem bunt und detailliert bestickten Wandteppich, dem „web“, der „Webe“, den die in den Tod Fahrende mitnimmt, ist die Geschichte ihrer vertanen Liebe zu Sir Lancelot nachgebildet, auch die Stickereien und Webereien auf dem Textil lassen sich also zusammenfassen unter dem Titel „Lady of Shalott“. Viermal der Name: Bildtitel, Frauenname, Bootsname, gestickte Geschichte. Jede Strophe von Alfred Lord Tennysons Ballade endet mit dem Namen Shalott – bis auf eine in der Mitte (um die das Gedicht sich dreht), die mit Lancelots Namen schließt. Für die Liebende schließt sich die Welt, die nur mehr aus ihrem Unglück besteht, und die Welt schließt ja auch sie aus: Im Fluss kann sie die Türme Camelots gespiegelt sehen. Aber das Schloss selbst ist für Elaine unerreichbar.

Das Kind bremst. „Mein Fahrrad rülpst“, sagt es und steigt ab.

Die unbändige Freude der Blinden, die im Innern, im Saal, oder im Partyraum ihrer Vorstellung, einen Tanz zu üben scheint. Seit Jahren habe ich auf einem Gesicht nicht mehr eine solche freie Mimik gesehen, ein Glänzen im Blick, ein strahlendes Lächeln. Am Morgen im Gasthof unter den verschneiten Berggipfeln ist es im Zimmer so dunkel, dass ich zwei Sekunden lang glaube (ohne Angst zu haben), erblindet zu sein und mir die Blinde aus dem Zug wieder einfällt. Doch vor dem Fenster scheint die Sonne. Und so schien auch auf dem Gesicht der Blinden die Sonne. (Rauris, 6.4.)

Gute Nacht, Turnhalle

Das Tier hat eine Maus getötet und den leblosen Körper vor die Terrassentür gelegt – offenbar ein Geschenk. Das Schönste, was es töten und mir bringen konnte. Von da an kümmert die tote Maus das Tier nicht länger. Es frisst sie nicht auf, würdigt den Kadaver mit den schönen, jetzt stumpfen Augen keines Blickes. Das Tier scheint selber verwundert zu sein von der Leblosigkeit des kleinen Tiers dort auf der Terrasse. Ab und zu blickt es doch hin. Als ich den Körper in einen Kräuterbusch gelegt habe, ist das Tier verwundert – so scheint es –, weil ihr Geschenk entfernt wurde. War es nicht willkommen? Das Blut der Maus steigt ihm in die Nase, noch als ich es mit kochend heißem Wasser von den Terrassenholzbohlen gespült habe. Es hatte geschneit in der Nacht. Die Maus lag die ganze Nacht lang im Schneefall. Ihre Sprungbeine. Ihre Barthaare. Die wundervollen Ohren. O Barmherzigkeit.

Ich höre The Clash, höre „Combat Rock“ und „Sandinista!“ – und in den Pausen zwischen den Songs (und den Erinnerungen, an Zimmer, an Gelächter, Frauen, Freunde) das Rieseln des Schnees. (22.3.)

„Alle sind wir früher oder später Schatten, werden nur nicht überwältigt.“ John Cheever

Sonne fällt in den Gefängnishof, und alles riecht nach Abschied.

„Gute Nacht, Turnhalle“, sagt das Kind – und meint damit dich. Ja, stimmt, manchmal bist du eine Turnhalle. (Eppendorf, 29.3.)

Die Erinnerungen kommen einem mit fortschreitendem Alter immer zweifelhafter vor. Ihnen ist nicht zu trauen – zumindest ihrem sogenannten Wahrheitsgehalt nicht. Vielmehr erscheinen sie zu einem bestimmten Zweck eingerichtet: das Leben kurz erscheinen zu lassen, zu kurz. Der Sinn des Erinnerns wäre demnach die Wehmut. Doch auch das ist vorgegaukelt, der Gedanken und Gefühle Spuk. Nur damit du weiterlebst, älter wirst, weiter schaffst und leistest, kommt dir dein vergangenes Leben mit der Zeit immer kürzer vor, als es in Wirklichkeit war und ist. (1.4.)

„We fall, but so does everyone else“ – so John Cheever, der passionierter Schlittschuhläufer war und der zeitlebens unter einer Brückenphobie litt.

Kraftwerk – The Man Machine

Zum Tod von Günter Herburger

Saurüssele

Das Wichtigste,
was man von Schweinen
lernen kann: kein Mensch zu sein.

Sie sind sehr sauber,
sehr gefühlvoll, ein wenig zänkisch,
kämpferisch, aber dann lieben
sie einander wieder,
und wenn sie weinen,
was sie gerne tun, schreien
sie kaum und lächeln dabei.

Einen Tag, bevor sie
geschlachtet werden sollen,
sind sie nervös und konfus,
rennen umher und beschmutzen sich.
Dann beginnen sie zu singen,
sehr tief und sehr hoch,
wir vermögen es nicht zu hören.

Kein einziges Schwein ist bekannt,
das alt, krank und mager
noch auf der Weide lebte,
ganz und gar nicht allein,
weil umgeben von Igeln,
sodass, wenn es stirbt,
es auch ein Häufchen wäre,
bedeckt von Blättern und Geschmeiß,
deren Konzerte
wir niemals vernehmen.

Günter Herburger
6. April 1932 – 3. Mai 2018