Landgang, der neunte

Eine halbe Stunde lang fahre ich durch Industrie, Gebiete, Orte, über die die Industrie gebietet – und wo nichts anderem Raum gelassen wird. Nordenham macht kein Hehl aus dem unbedingten Willen, technologisch Anschluss zu halten – und das Alte, Überkommene als obsolet, unnötig auszumerzen. Der Bahnhof von Nordenham an der Wesermündung, an dem einst Abertausende mit Zügen aus ganz Mitteleuropa ankamen, um an Bord der Auswandererdampfer zu gehen, steht leer, ist verrammelt, abrissbereit. Am Union-Pier, dem alten Ossenpier, überkommt einen gespenstische Melancholie angesichts der ein halbes Jahrhundert jüngeren Industrieruinen wenige hundert Meter weiter flussab und der gigantischen Vergeblichkeitsanstrengungen am Bremerhavener Containerterminal am jenseitigen Ufer – dem Schrott von morgen.

Blick in eine Alleeflucht, tief, tief in die Marsch, über die das Abendlicht herströmt.

Über den Nordenhamer Marktplatz – der wie jeder Fleck in der Stadt zerbombt und wieder aufgebaut wirkt –, rollt ein ferngesteuertes Auto, in dem nebeneinander zwei kleine Jungs sitzen und johlen. Dem Gefährt folgen ältere Geschwister der beiden kleinen Geisterfahrer, ihre Eltern und Großeltern, die Mutter mit Fernbedienung in der Hand.

Der Legende nach küsste der friesische Häuptlingssohn Dude den abgeschlagenen Kopf seines Bruders Gerold. Beide wurden sie 1419 in Bremen enthauptet. Ihre Doppelhinrichtung stellt ein Fresko im Stadtmuseum Nordenham dar. Gemalt hat „Der Bruderkuss“ Hugo Zieger 1893, „Lever dod als Slav“ lautet der Titel des Freskos in anderen Quellen, „Lieber tot als ein Sklave“. Bremer Kaufleute hatten die Vredeborg im Raum Atens erbaut, auf dem Gebiet des heutigen Nordenham. Das Bollwerk richtete sich gegen Piraten, die an der Unterweser Handelsschiffe überfielen. Doch kam es zu Querelen mit den friesischen Herrschern vor Ort, den Häuptlingen. Nach einem missglückten Angriff wurden Dude und Gerold, die beiden Söhne Dide Lubbens, des Häuptlings von Stadland, im Jahr 1419 in Bremen hingerichtet. Nachfahren der friesischen Herrscherfamilie beauftragten den Kaisermaler Hugo Zieger im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts damit, die symbolträchtige Enthauptung in einem Fresko zu verewigen. Gut hundert Jahre später war das in einem historischen Bauernhaus ausgeführte Wandgemälde akut gefährdet. Der Leiter des Nordenhamer Stadtmuseums Timothy Saunders erzählt von der aufwändigen Restaurierung, dass ein Firnis aufgetragen, dann Tuch aufgeklebt, darauf Holzbretter geklebt wurden. Von der anderen Seite der Wand habe man den Putz abgeschlagen, die Steine ausgesägt und einzeln aus der Wand gebrochen, bis einzig die mit dem Fresko bemalte Putzschicht übriggeblieben sei, geklebt auf Holzplatten. Um sie habe man herumsägen und das Fresko in drei Teilen aus dem Haus tragen können. Von Liebe kein Wort. Der Liebe eines jungen Mannes zu seinem Bruder. Dem Anblick des abgeschlagenen Kopfes. Den lauter Köpfen, die Zieger malte in Anbetracht des historischen, über vier Jahrhunderte lang vergangenen Geschehens. Abgeschlagen der Kopf, abgeschlagen das Bild.

Plattmachen, ich meine / Nordenham

Plattmachen, ich meine
Nordenham
, das Grau,
endlose Verlassenheit.
Das Betonschanzkleid
der Stadt entlanggeirrt,
an der alten Weser, der
seegrauen, atlantischen,
wo kein Licht, nichts flirrt.
In der Ferne, am anderen
Ufer diesen regnerischen
Nachmittag, Bremerhaven,
die abstrusen Containerter-
minals, Behälterabferti-
gungspiers, siebzig
Flugzeugträger
lang, Deich
aus Schafen.
Die Weser. Der
verbaute Himmel.
Der dich überwölbt.
Fabrik für neue Laser-
technologien. Plattes
Land, das Oldenburger
Land. Wo ist die See? Du
musst die See nicht sehen,
weil nichts ist flach ohne Meer,
das Land gibt auf, geht über. Möwe
kommt näher, Möwe zieht Bahn, Möwe
dreht ab und saust knapp hin überm höchsten
Nordenhamer Punkt, eine vier Jahrhunderte alte
Platane, die alle vergessen haben umzumähen. Das
wird schon noch, das wird, man abwarten. Plattmachen, warten.

Plattmachen heißt nicht, es ist. Plattmachen heißt, es ist vorbei, es war.

Landgang, der achte

Schafe bei Fedderwardersiel – die Lämmer auf dem Deich, wissen oder ahnen sie, dass sie Schafe sind, dass sie ein Schaf vor sich haben, wenn sich etwas an sie schmiegt? Hält sich ein Schaf für ein Schaf oder vielleicht für das Schaf schlechthin? Oder erkennt es nur die Herde, die Schafe, zu denen es sich zählt? Zählt es sich dazu? Zählt das Schaf Schafe?

Zwischen Waddens und Tettens Boßelmarken kilometerlang auf dem Asphalt der Straße hinterm Deich.

Drüben, am anderen Weserufer, liegt Bremerhaven im Dunst, fünfeinhalb Kilometer lang Richtung See erstrecken sich die Containerquais zum Entladen der Riesenfrachter vorwiegend aus dem fernen Osten. Der Nordhafen dort drüben wurde von den Nazis errichtet für ihre beiden nie zustande gekommenen Naziflugzeugträger „Graf Zeppelin“ und dessen namenlos wieder verschrottetes Schwesterschiff „Träger B“. Die Flugzeuge für die Flugzeugträger sollten gleich vor Ort und Stelle produziert werden, damit sie möglichst schnell einsatzbereit waren, um Tod und Verderben nach England und Skandinavien zu bringen, Stukas, Junkers-Torpedobomber und Messerschmitt-Jäger, die drüben in Blexen, in als Bauernhöfe getarnten Produktionshallen entstehen sollten. Zum Glück aber wurde daraus nichts, das will ich nicht vergessen. Eine Zeitlang wasserten immerhin die Postflugzeuge der beiden großen Amerikadampfer „Bremen“ und „Europa“ im Bremerhavener Nordhafen, aber auch das ist lange her. Ob Fedderwardersiel oder Nordenham, das einmal wichtiger Auswandererhafen war – viele Nordseehäfen strebten über Jahrhunderte nach allem, wofür Bremen und dessen einstiger Hafen heute stehen, merkantile Weltoffenheit, den Reichtum des Handels und Austauschs, bei Weitem nicht nur von Waren.

Eine merkwürdig tiefgreifende Ruhe erfasst dich in dem warmen Septemberwind auf der Halbinsel Budjadingen. Die Grasweiten, die Gemächlichkeit der wenigen sichtbaren Tiere, das Rauschen der Kastanien und Nussbäume im Seewind. Die Menschen scheinen noch Zeit zu haben. Oder sie nehmen sie sich für die Dinge, die zu tun sind.

Eine Frau kommt gefahren, elegant wie der Wind, und lehnt ihr Rad an die Kirchenmauer.

Auf dem Blexener Kirchplatz sucht ein kleiner Junge mit seinen Großeltern Kastanien. Als er über die Friedhofsmauer blickt und dort auf den Gräbern zwischen Grabsteinen und vereinzelten Blättern unzählige der braunen Nüsse entdeckt, bricht er in so lautes Jubeln aus, dass die Toten erschrocken zu flüstern beginnen.

Eine halbe Stunde lang bin ich allein in der Kirche St. Hippolyt in Blexen, der ältesten in der Wesermarsch. Nur drei Kerzen brennen in dem nach Moder und Herbst riechenden Gemäuer, dessen Altar der barocke Expressionist Ludwig Münstermann gestaltete – nach ihm heißt eine Straße in meinem Hamburg-Barmbeker Viertel. Sorgsam zusammengebaute Segelschiffmodelle hängen von der Decke wie nautische Marionetten. In der Endlosigkeit aus Wasser, Wind und Zeit vor der Eindeichung des Koogs stand die Kirche bei den schweren Sturmfluten im 17. und 18. Jahrhundert im Wasser, wurde schwer beschädigt – Schäden, die man sichtbar bleiben ließ –, ging aber nie völlig unter. Die Schiffe umsegelten St. Hippolyt, so lange, bis das Kirchenschiff von Land aus wieder zu betreten war.