Erinnerungen an Jugoslawien 2/5

Das erste und einzige Mal war ich in Jugoslawien im Sommer 1991. Ich war 26. Ich hatte mich anderthalb Jahre zuvor entschieden, nicht zu studieren – es wäre nur ein Scheinstudium gewesen –, sondern stattdessen, angespornt von einem kleinen Literaturpreis, John Keats zu übersetzen, was ich dann von 1989 bis 1994 tagtäglich auch tat. Am Abend fuhr ich zu Patientinnen und Patienten, die ich als Altenpflegehelfer betreute, fuhr durch den Osten Hamburgs mit meinem alten Alfa Romeo, hörte in diesen Stunden Joy Division und New Order, Echo and the Bunnymen, Prefab Sprout, die Cocteau Twins und die unvergessenen Go-Betweens. Seit einigen Jahren hatte ich eine feste Freundin, die einen jugoslawischen Pass hatte, sich aber als Ungarin verstand, ihre Wurzeln lagen in der Vojvodina, den weiten Flächen der Batschka zwischen Novi Sad und Subotica, dort, wo Jugoslawien Richtung Ungarn strebte und wohl deshalb viele Menschen Ungarisch sprachen, ja sich als Ungarn verstanden – wenngleich ich – und hier rede ich von mir allein – gar nicht weiß, was das sein soll: ich als Deutscher. Als Deutscher habe ich mich nie verstanden. Ich dachte und denke von mir, dass ich Deutsch spreche. Das ist Bürde genug. Von allem anderen Deutschen habe ich mich sehr früh schon abgetrennt, in den Zweifel zurückgezogen – was nicht heißt, dass ich die Verantwortung von mir wiese, die in meinen Augen jedem und jeder einzelnen Deutschen mit auf den Weg gegeben ist. Der Begriff „Volk“ – ob nun „deutsches Volk“ oder ungarisches oder das von Peter Handke in seinen bei näherem Hinsehen und eingehenderer Lektüre bloß unsäglichen Büchern über Jugoslawien so oft beschworene „Serben-Volk“ (ein Begriff, den er heute wohl am liebsten ausradiert wüsste) ist seit meiner Lektüre der Bücher von Sebastian Haffner ein historisches Kuriosum, eine grausame Verbrämtheit.
Im Sommer 1991, am 25. Juni, erklärten sich Slowenien und Kroatien unabhängig. Die zehn Jahre anhaltenden Jugoslawienkriege begannen am Tag darauf, als von Serben geführte Truppen des staatlichen Militärs die Abspaltungsbestrebungen mit Gewalt zu verhindern versuchten. Ich muss unmittelbar in dieser Zeit mit dem Zug durch Slowenien in die von Serben kontrollierte Vojvodina gefahren sein, denn dort, nördlich von Novi Sad, in Temerin, lebte die Familie meiner Freundin, die sie und ich in diesem Sommer, ausgerechnet diesem, besuchten.
Es war allerorten eine immense Anspannung zu spüren. Viele Ungarn-Serben, die wir sprachen, zeigten offen ihre Verachtung für die Serben und äußerten ihre Enttäuschung angesichts eines im Vergleich ärmlichen Lebensstandards. In Temerin hatte es eine große jugoslawische Schuhfabrik gegeben, die aber seit geraumer Zeit keine Löhne mehr auszahlte. In dem Städtchen galt seither die Schuhwährung: Alles wurde in Schuhen bezahlt, Brot, Gemüse, Fleisch, Zigaretten, selbst Schuhe zahlte man in Schuhen. Ich erinnere mich an Alte mit Körben voller Schuhen. Ich erinnere mich an einen Nachmittag in Novi Sad, wo die wenige Jahre später von alliierten Kampfflugzeugen zerbombten Brücken über die Donau noch unversehrt waren. Feindseligkeit schlug mir entgegen, sobald klar war, woher ich stammte. Die Menschen in der vorwiegend serbischen Großstadt wirkten eingeschüchtert, verkniffen, wie beobachtet. Dasselbe in Belgrad, wenngleich dort, in der Hauptstadt, der Einfluss des Westens, der westeuropäischen und us-amerikanischen Kultur und Werte, unverkennbar war und viel an uns entgegengebrachter Abscheu milderte. Ich weiß noch, dass ich mir in einem Plattenladen am Zentralen Busbahnhof ein REM-Album kaufte, aber auch eine Aufnahme mit serbischen Gesängen, die mich entfernt an This Mortal Coil erinnerten. Hip zu dieser Zeit waren ja die bulgarischen Gesänge. Wir fielen auf alles rein, und das hatte sein Gutes.
Ich erinnere mich an den fürchterlich starken, in Regentonnen selbstgebrannten Schnaps Pálinka, ein Maulbeerschnaps, dessen fruchtige Schärfe mein Körper schmeckt und im Magen brennen spürt, sobald ich nur an den Namen denke. Ich erinnere mich an die größten frei laufenden Spinnen, die ich je mit eigenen Augen gesehen habe: Sie hingen unter dem Vordach des großmütterlichen Hauses in Temerin. Und ich weiß noch, dass wir in einem Nachbarort die Familie einer Tante besuchten, die mit einem serbischen Militär verheiratet war. Sie Ungarin, er Serbe, im Tarnanzug, beide Jugoslawen, zumindest bis auf Weiteres. Er gab sich staatstragend, hatte kaum Zeit für das Beisammensein, behandelte mich wie Luft. Ich dachte: Den als Vater zu haben, muss die Hölle auf Erde sein. Nichts als Strenge, Unabweisbarkeit, Rang, „Kampf“, „Ehre“, „Stolz“, „Treue“ zum „Vaterland“ und der ganze andere Dreck von ganz unten im Misthaufen der Menschheitsgeschichte.
Aber das waren nur Begegnungen mit Einzelnen. Von der Abspaltung Sloweniens kein Wort, und Kroatien schien es nicht zu geben. Ich habe die Freundlichkeit im engeren Kreis in Erinnerung. Die große Neugier und Aufgeschlossenheit der Kinder auf der Straße. Überhaupt schien das Leben zum Großteil im Freien stattzufinden, im Garten, auf den Plätzen, in den Straßen. Man sprach viel miteinander. Das beseelte mich. Das Köstliche der Speisen! Die vom Sommer ausgedörrten Früchte. Die Ironie für alles Westliche, die Hochachtung vor allem Deutschen, solange das den Fleiß meinte. Ich weiß noch, wie mich der Hang zur Beglaubigung von allem Alten verstörte.
Später, unter dem Eindruck der um sich greifenden Serben-Aversion, schrieb ich einige wenige Gedichte, denen ich heute eine gute Skepsis entgegenbringe, aber schon 1994 habe ich in meinem kleinen Erstlingsband „Langrenus“ ein Gedicht veröffentlicht, das mir noch immer authentisch erscheint, persönlich, aus dem eigenen Ansehen der Sachen erwachsen, nach dem Gehör geschrieben. Es heißt „Temerin“:

Die Gärten sind noch immer
von Laub entkörpert,
Jahrhundertunrat häuft sich
an den Mauern zum Asyl,

und im Eisentorschatten
kühlt der Maulbeerwein aus, brodelt
in großen Bottichen unter dem Efeu

und um Herd, Tisch und Bett
in der niedrigen Küche –
an allem berauschender Spiritus.

Wortlos spielten wir Russisch,
mit geneigten Köpfen,
nah am Kalkofen,
stundenlang nachdenklich
über den kantigen Zeichen der Springer.

Und hinter den Umfriedungen die geräumigen Höfe
waren aufgehobene Kindheiten,

und die Spielkameradin begrüßt dich und ruft
deinen Namen noch immer auswendig rückwärts,

und der Großvater, der dich mitnimmt abends
durchs Maisfeld zum Friedhof, wo er arbeitet,
spielt noch immer Schattenspiele für dich
mit den Geräten, die seine Hände richten
im Licht der Taschenlampe Ariels.

Er warte, sagt Peter Handke, auf seinen Sokrates, auf den, der ihm nach der fundierten Lektüre seiner Bücher über Jugoslawien aufzeige, worin er falsch oder richtig gelegen habe. Das Ganze aber ist keine Frage von Diskurs, von Wahrheit oder Wahrhaftigkeit, die beide bloß Spiele, Wortspiele sind. Ein Dichter und Erzähler wie Handke muss seinen Sokrates in sich selber haben, ihn mit sich tragen und befragen nach jedem Absatz.
Man kann Sokrates auch Gewissen nennen. Hermann Hesse prägt in seinem „Peter Camenzind“ das Wort Selbstverehrung und setzt es ab gegen Selbstherrlichkeit und Eigensucht.
Ich frage mich, ob wir seinerzeit nach Jugoslawien reisten, weil meine Freundin angesichts des drohenden Zerbrechens ihres Landes bei den Ihren sein wollte.
Ich erinnere mich an ihre verärgerte Trauer, als sie gezwungen wurde, im serbischen Konsulat den obsoleten Pass einzutauschen. Sie war froh gewesen, Jugoslawin zu sein, aber Serbin sein, nein das wollte sie nicht.

Erinnerungen an Jugoslawien 1/5

Du musst beginnen, deine Erinnerungen an das frühere Jugoslawien aufzuschreiben, erstens damit du sie nicht zur Gänze vergisst – nur ein paar Gedichte und zwei, drei Handvoll Notate hast du geschrieben bisher über die Reisen in die Vojvodina, durch Slowenien nach Kroatien, nach Istrien, auf die Insel Krk, über Split, über die Überfahrt von Split nach Vela Luka auf Korčula. Du warst nie in Bosnien, leider nie in Sarajevo. Du warst einige Male in Novi Sad, ein paar Tage lang in Belgrad, ansonsten vor allem in der Gegend südlich von Subotica, wo man seinerzeit noch viel ungarisch sprach.
Du warst während des Balkankrieges auf dem Balkan. Wann genau war das? Was hast du erlebt?
Zum anderen musst du versuchen, deine Erinnerungen festzuhalten, weil einer der dir allerwichtigsten Erzähler über Jugoslawien einen furchtbaren Schrott zusammenschreibt immer dann, wenn er anfängt, von politischen Zusammenhängen zu schwadronieren. Diese aber sind nie ohne die Menschen zu denken. Denn was, bitte, wäre irgendeine Politik ohne die Menschen, die sie angeht oder ausklammert, die unter ihr zu leiden haben oder von ihr profitieren?
Peter Handkes größtes Versagen in seinen Büchern über Jugoslawien ist das Verschweigen. Keiner, der sich auskennt wie er in den Ländern zwischen Österreich und Griechenland, kann die Augen verschließen vor den Gräueln, die nicht allein, aber vor allem durch Serben und Bosnien-Serben anderen, ihren Nachbarn, zugefügt wurden. Die Ausgewogenheit in dieser Frage ist von immenser Bedeutung. Immer wieder ist Peter Handkes Büchern – „Abschied des Träumers vom Neunten Land“ (1991), „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ (1996), „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise“ (1996) und „Unter Tränen fragend“ (2000) die Absicht anzumerken, auf radikale Weise für Ausgewogenheit zu sorgen – diese Absicht allerdings wird in jedem dieser Bücher immer wieder zernagt vom Dünkel, von Verletztheit und Geltungsgier. Wie kann ein so ernster Schriftsteller mit seit 1966 kultivierten Ansätzen einem skrupellosen Machtmenschen wie Slobodan Milošević die Reverenz erweisen?
In „Die Tablas von Daimiel“ (2006), einem ganz offensichtlich viel zu schnell zusammengeschusterten und am Schluss poetisch aufgepimpten Bericht über seinen Besuch im Gefängnis von Scheveningen in den Niederlanden, wo Milošević während des Haager UN-Kriegsverbrechertribunals einsaß, schreibt Peter Handke: „All die Zeit sprach fast nur Slobodan Milošević, mit beinah der Energie, und Geistesgegenwart, die mir als Zuhörer bei seinem Prozeß vertraut war, mit einem Zusatz vielleicht einer gewissen Ruhe, hier in dem Büro nichts widerlegen und niemandem etwas beweisen zu müssen, trotzdem aber mit so weit ausholenden Argumenten und Hintergrundbezügen, als spräche er zu mir und zugleich zu seinen a priori unwissenden und verständnislosen Richtern. Wie Milošević sich gab (ich, sein Gegenüber, hätte dabei auch gleichwelcher anderer sein können), das war weder privat noch öffentlich, vielmehr eine Kombination, nein, eine Einheit von beidem, so selbstverständlich, geradezu naturgewachsen, wie ich sie noch bei keinem Politiker erlebt habe.“ Der Mangel an Aufrichtigkeit in diesen Sätzen ist eklatant – „a priori unwissende und verständnislose Richter“ –, eine devotere Verblendung kaum vorstellbar: eine geradezu naturgewachsene Einheit aus privatem und öffentlichem Auftreten? Bei einem früheren Staatspräsidenten, dem Anstiftung zu zigtausendfachem Mord vorgeworfen wurde?
Ausgewogenheit kann erst beginnen, indem ein jeder, der ein Mensch ist und menschlich denkt, seinen Respekt erweist vor den Schwächeren und Schwachen, d. h. im Extremfall vor Opfern, Verletzten und Toten, egal auf welcher Seite. Du schätzt und bewunderst, ja liebst Peter Handke als so eigensinnigen wie unbestechlichen Erzähler und Dramatiker, Dichter und Tagebuchschreiber, Zeichner und Reisenden. Du liest Handke seit 1985. Gut. Wer außer Thomas Bernhard und W. G. Sebald hätte es in den vergangenen 30 Jahren wie Handke vermocht, den deutschsprachigen Satz und seine Konstruktionsprinzipien in fruchtbare Zweifel zu ziehen, ohne dabei aufs Erzählen, den „Fahrtwind“, wie Handke sagt, zu verzichten – es ist der Stilist Peter Handke, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird.
Der Mensch Peter Handke hat sich aufs Übelste hinreißen lassen, zynisch und verletzend von so furchtbaren Geschehnissen zu schreiben und ansonsten zu schweigen wie jenen im Sommer 1995 in Višegrad und Srebrenica.

Der Fels

Ich kam zur Welt wie
der Fels, mit meinen
Blessuren. Nach einer
lang andauernden Vertrautheit mit
glasklarer Festigkeit
trat ich ein in die Zeit
der Schroffheit.

René Char, Flusskiesel, eigenhändig bemalt, undatiert,
Fontaine de Vaucluse, Musée-Bibliothèque François Pétrarque

Parterre des hommes

Es gibt Äpfel, die dir unbedingt aus der Hand, die unbedingt zu Boden fallen wollen – weil sie am Baum nie die Gelegenheit dazu hatten?

Unter der Dusche beobachte ich einen Tropfenkanal, der von meiner Stirn abwärtsverläuft in die Tiefe. Ich bin für Sekunden Teil des Regens.

Gott, jeden Morgen erschrickst du, wenn du dich im Spiegel siehst und den für alle Zeit jungen Spund deiner Empfindungen darin erwartest.

„Während du liest, werden weitere Sätze und Verse geladen.“

The House of Love – The house of love

Ein Zettelchen, ausgelegt in der Zugtoilette: „So spricht der Herr: Des Herrn großer Tag ist nahe, er ist nahe und eilt sehr. Horch, der bittere Tag des Herrn! Da werden die Starken schreien. Zefanja, 1.14“

Zehn Lieblingswörter:
Gras
O
Gedicht
Linde
Fremdlingin
Lid
Schatten
Wanderer
Ali
Würde

„Zu verschenken: vertikaler Garten.“

Frühlingsbeginn. Im Innenhof unter den kahlen Bäumen hockt phlegmatisch eine einzelne Krähe und scheint dem Winter nachzutrauern. In der Nacht habe ich geträumt von dem alten und bitterlich kranken Dichter K., den ich zu füttern hatte – mit verfaulendem Fleisch aus einer Ludergrube. Ein Kaninchen darin blickte mich an mit großen Augen und hoppelte davon, und eine Krähe, über deren glänzendes Gefieder ich staunte, spreizte die Flügel und flog stumm auf – wodurch K. gesund wurde und weiterlebte.

Parterre des hommes.

Die Nachbarin, die im Herbst wohl einen Ring vor deinem Fenster verloren hat, sucht ein halbes Jahr später noch immer danach, bei jeder Gelegenheit, und immer zeigt ihr Gesicht denselben Ausdruck wie an dem Tag, als sie mit an ihrer Hand herumtastenden Fingern vor deinem Fenster auf und ab lief. (25.3.)