Archiv für den Monat Februar 2020
Von Jiggel nach Bergen
Gegenüber wohnt Käpt’n Ahab.
„Nemo“, sagt das Kind, „das kommt von ,niemand‘. Käpt’n Nemo wollte niemand sein, deshalb lebte er in seinem Unterseeboot unter dem Eis.“ – Ich erwidere, dass Nemo meines Wissens so heißt, weil sein Name nach Mnemosyne klingen sollte, nach Mnemotechnik usf., also nach dem altgriechischen Begriff für Erinnerung. „Es geht um ein wirkliches Erinnern!“ – „Glaub ich nicht“, erwidert das Kind, das immer klüger wird. „Oder um beides: Niemand erinnert sich. Niemand wirklich.“
Ein Löschzug wässert den Rasen des Fußballplatzes. (Bergen an der Dumme, 26.6.)
500 Jahre alt, die Wassermühle von Jiggel, aber nichts von allem Leben, aller Lebendigkeit, die stattgefunden haben muss an dem wendländischen Bach, der bis 1990 deutsch-deutscher Grenzbach war, ist noch zu erkennen. Du musst dir alles vorstellen.
Die uralte Kirschbaumallee, die Bäume voller Süßkirschen, zwischen Jiggel und Bergen. Jahrhunderte lang kamen hier die Landarbeiter herauf, und gegen ein Entgelt konnten sie sich Kirschen pflücken. Leere. Gespensternachmittag. Ein Reh schrickt auf, das Maul noch voller Kirschenmus, und flüchtet sich ins Roggenfeld.
In Meuchefitz das TAGUNGSHAUS DES WIDERSTANDS, daran flattert schlapp die Sonnenfahne der Republik Wendland. Und gegenüber, an der Scheune voller Sonnenkollektoren, das schöne Plakat: LIEBER WÜTEND ALS TRAURIG.
Der kleine Hund zieht gewaltig an seiner (verhassten) Leine – und gerät dabei so sehr in Schieflage, als würde er kentern. Hat er zuviel Kraft, oder macht das der Wind?
Van Morrison – Astral Weeks
Fotos: Kreuz, Clenze (1); Hohlweg bei Jiggel (2); Roggen, Bergen (3)
Réaumur-Sébastopol
Die sieben Unwirklichkeitsschichten
Sturm in Clichy. Überall auf den Trottoirs liegen E-Roller herum.
Verregnete Unterkünfte. Etablissements pluvieux. (Paris, 7.6.)
La Défense, das ich nur von den alten Fotos von Peter Handke kannte, wirkt heute wenig Banlieue-artig, beinahe akkurat sogar. Nichts in Paris kann es mit der Rauheit von Marseille aufnehmen.
Der Bus bringt uns von Nanterre über La Défense weiter nach Westen in die Vororte an der sich durch das Land und Richtung Atlantikküste mäandernden Seine. Die vermüllten Ufer. Die von Pragmatisierung und Zergliederung vernichteten Treidlerpfade, die noch einige Jahrzehnte lang dem Laufen und Gehen gedient haben werden. In dieser Zeit malten hier Sisley und Monet, die als „Augenblicksanbeter“ verkannten Impressionisten, die auf ihren Bildern nicht selten in Wirklichkeit Eindrücke von der Einfachheit der Menschen, der Flussschiffer, der kleine Leute in Bougival, Louveciennes, Le Port-Marly und anderen, heute völlig ausgehöhlten und zuschanden gegangenen Orte festhielten. (Le Port-Mary, 9.6.)
Du musst die sieben uns aufoktroyierten Unwirklichkeitsschichten durchbrechen, mit deinen Kopf- und deinen Herzwerkzeugen sie durchdringen, dann erkennst du, wie wichtig alles Zeitliche ist, was für ein Witz es ist, was uns verkauft wird als „Zeitkolorit“.
Über das Erdbeerfeld fliegt blechern summend eine Drohne.
Auf dem ehemaligen Schrebergartengelände, wo eine U-Bahnstation errichtet werden soll, wächst zum letzten Mal wilder Mohn.
The National – Boxer
Der Straßenunterhaltungsdienst!
Als der Zuckerkranke sich eine Insulinspritze in den Bauch sticht, steht die dunkelhäutige Frau auf und entschuldigt sich bei ihm. (Lokstedt, 22.6.)
„Maybe in the morning when I first wake up I am sometimes free.“ Robert Frost