Gerät und Wolke

Durchs Dorf schallt das Singen des Kirchenchors. Der Küster muss die Türen zum Gotteshaus weit aufgemacht haben, um die Wärme hineinzulassen – es ist Ende Oktober in Volx.

Auf dem Nachbarbalkon trocknen die Monteursanzüge in der Sonne.

Bei Volker Sielaff lese ich von einer Eidechse, die sich auf einer Bootsplanke sonnt, ein Freund zitiert Joachim Sartorius’ Buch über Eidechsen, wo es zu Beginn heiße, die Kindheit des Autors in Tunis sei eine voller Eidechsen gewesen, eine Eidechsenkindheit, und als wir hier, in unserem Süden in das Gerätehaus auf der Terrasse blicken, sitzt dort an der Wand eine ganz und gar weiße Eidechse. Ich spreche nicht von Realität. Wirklich, gleich wirklich sind alle Eidechsen, von denen hier die Rede ist. (Moustiers-Ste. Marie, 29.10.)

In den Buchhandlungen von Aix stehen keine Bücher von Peter Handke, nicht eines. Neben dem Plakat von der Mit-Preisträgerin Olga Tokarczuk fehlt eines von Peter Handke – ein Peter-Handke-Boykott.

Lies Malapartes „Kaputt“ noch einmal!

Supertramp – Crime of the century

Die am frühen Morgen in der Kastanienkrone palavernden Finken – verstummen, als ich vorüberkomme – plaudern weiter über ihre Tagespläne, als ich zehn Schritte weit weg bin.

Nach mehr als 40 Jahren, die mein Herz den Bitterfels nun entlangfährt – La roche amère –, nie kletterten an seinen Hängen Bergziegen herum. Jetzt aber klettern dort welche.

Der beste Ausguck über dem Parkplatz ist ein von der Sonne erwärmtes Klimaanlagengehäuse – dorthin springt von der Terrasse aus die Katze und streckt sich aus.

Hinter den Grabsteinen die Geräte, die Behälter, der Müll, die wiederverwendbaren Dinge, die Altlasten, die Erinnerungen, das Verborgene, das Abgetrennte, das Verlorengegangene. (Volx, 1.11.)

Jean-Jacques Goldmann – Singulier

Im Gegensatz zu dir, Pfeife, bin ich eine Orgel.

Roxy Music – Avalon

Der einzige Gegenstand in der Praxis meiner Zahnärztin, den ich würde besitzen wollen, ist keines ihrer Zigtausende wertvollen Geräte, um es zu verscherbeln – sondern die wie eine rote Wolke leichte Imitation eines Mobiles von Alexander Calder, die sich an der Wartezimmerdecke sachte im unmerklichen Luftzug um sich selber dreht. (18.11.)

Der Mann, Patient seit Jahren, der nichts mehr unternimmt, alles Absehbare vermeidet, der Folgen, der möglichen Folgen wegen. Schenken Sie sich lieber keine Tasse ein! Werfen Sie diesen Kisel lieber nicht! Geben Sie ihm nicht die Hand! (Dresden, 23.11.)

Gedichtanfang: „In einem Garten, nachts in Dresden, / von Sternenbildern Flecken im Gesicht, / ging ich umher und rauchte, / in Gedanken …“

Erinnere dich – an die Flamingos von Ibiza, die eines Vormittags unvermittelt in den Salinenbecken am Meer landeten. Den ganzen Tag lang konntest du sie vom Balkon aus dabei beobachten, wie sie herumstaksten in dem flachen Salzwasser. Aber auch, als ihr dann zu ihnen hingingt, blieben sie, flogen nicht auf, lösten sich nicht auf, waren wirklich, waren wirklich Flamingos.

Roxy Music – Siren
Supertramp – Even in the quietest moments …

„Ich kann Türkis sprechen“, sagt das Kind. Und nach einem Blick ins Licht: „Und manchmal spreche ich Lampe.“

Anleitung der MAGIC-Fernbedienung.

Das Jahrhundert der Plüschtiere ist vorbei.

Plüschtiere im Französischen: peluches. „Gib mir mein Plüsch zurück!“ – „Maman, wo ist mein Plüsch?“ – „Kauf mir ein Plüsch, bitte, ein Plüsch!“

The Blue Nile – Walk across the rooftops

„Ich singe, singe, singe, weil ich ein Lied hab – und keiner wird von mir verschont.“ Konstantin Wecker

Im Augenwinkel sah ich – sah nicht – die Bergziege vorbeispringen über den Weg und weiter bergab – hörte sie vorbeirauschen, den Tierblitz, sah den Schatten, spürte das leise Beben des Lehmgrunds – sah sie aber nicht, Bergziege unsichtbar, aber sah dann umso deutlicher den Hund, der sie hetzte, ratlos, nur noch Wittern, Erlegenwollen, Sehen-, Schmecken-, Töten-, Fressenwollen. Ich war zugleich die unsichtbare Ziege und der ohnmächtig berauschte Hund. (Volx, 23.12.)

In der Ferne die Sainte-Victoire – die Erinnerung (und somit Verheißung) als Bergrücken. Cézannes Farben, Cézannes unverändert erregender Strich. Handke auf dem Weg zu sich selbst (wo er nie angekommen ist, weil das Selbst kein Ort ist, sondern das Unterwegssein), vor allem aber aber auf dem Weg zu seinem Ton. In „Die Lehre der Sainte-Victoire“ findet Peter Handke den Ton, der Poesie und Sachlichkeit auf atemberaubende, nein -stiftende Weise miteinander verknüpft, ja in eins setzt, auf eins setzt. In der Ferne die Sainte-Victoire: als wüsste der Berg, was er bedeutet. (25.12.2019)

Fantastyka

Die wilde Gemeinde jubelt, alles tanzt im Kreis um die Altstadt, wieder und wieder, und gepanzert und bewaffnet, hirschkäferartig flankiert sie die Staatsmacht, Polizei, Einsatztruppen, Zivilfahnder und Späher vor Wasserwerfern, schwarz, vermummt, während die ausgelassenen jungen Leute Perücken tragen, halb nackt lachen, tanzen, jubeln, johlen, Regenbogenfähnchen schwenken und schenken, auch uns, mir, hinter Glas, hinter unsichtbarem Glas laufen wir, marschiere ich mit im Kreis durchs unheimliche Tal, von einem Geschäft zum nächsten, zu Boutiquen, Shops, Ständen, wir stehen an die Scheiben gepresst, staunen wieder und wieder, aber bestaunen nichts auf der Welt und nichts im Innern, laufen, kaufen bunt, vermummt im Kreis. (Wrocław, 9.10.19)

Vor dem Café Literatka die so bewegend singenden Hare-Krishna-Anhänger, wie Spiegel zu einem besseren Menschentum, durch die man hindurchgehen könnte.

Jetzt, mit Aufkommen der Androiden, beginnt zugleich die Androidenliebe. Es gibt keine Zeit ohne sie – die Liebe gehört zum Dasein wie die Bewegung.

Alles muss ins Schaufenster – alles scheint ins Schaufenster (passen) zu müssen.

Auch in Kopenhagen finde ich nichts wieder von den Erinnerungen in meinem Gemüt. Ab und an ein Straßenzug in Kongens Nytorv, der mich seltsam anrührt, ein Grenzwall im Rosengarten. Die Stadt stülpt sich nach außen, platzt vor Moderne und Akkuratesse, als hätte sie Angst, vergessen zu werden. Wo bist du, Reza Hosainzadeh, und du, Saed Hodapanah? Es ist Jahrzehnte her, dass wir uns auf einem Eiland im Kattegat begegnet sind und im Sommer darauf durch København liefen, über Strøget zum Runden Turm, durch Christiania hinaus nach Amager. Ich fahre nach Amager hinaus – zeige Dir, mein Herz, Christiania und die Erlöserkirche: Vor Frelsers Kirke.

Plötzlich laufen Töne einer Flöte durchs Haus – Flötentöne.

Jeden einzelnen Fahrgast der letzten 35 Jahre meint man dem alten, abgekämpften, wie ein Schäferhund schiefen Mercedes-Bus anzusehen, der altehrwürdig – die einzige Ehre, die mir statthaft erscheint –, vorbeirollt.

Der alte Mann auf dem Bürgersteig, mit einem Mal setzt er sich in Bewegung, hebt ab, schwebt und eilt im Laufschritt an dir vorbei.

Zwei junge Russinnen, beide hochschwanger, die Bäuche ballonartig, lachen und schwatzen, haben einander gefunden, und sind darüber glücklich – zu viert. Du meinst, die Ungeborenen in ihrem Lachen zu sehen. (25.10.)

Allein, allein der Reim, der Reim, / mit seinem schlechterdings abscheulich schönen Schleim, / kann es ja wohl nicht sein – was Sie, was wir, was ich hier meinen, mein, / Herr Rühmkorf, denn alle Dichtung wäre irgendwie Verpflichtung (und Vernichtung), / finden Sie nicht, Herr von Reimgedicht, / ein bloßes Reiten heim, in den Klang / vom Untergang, vom Abgesang, Herr ungestüm Parfümschorf?