Letzte Vorbeifahrten

Zwei kleine Mädchen auf ihren rosa Rädern fahren langsam vorbei, und beide pfeifen, und beide pfeifen dieselbe erfundene Melodie, und in einer Kastanie pfeift eine Amsel das Lied der beiden einige Augenblicke lang nach. (Barmbek, 28.5.)

Um ein Buch zu lieben, benötigt es darin keine Handlung, nur die Musik der Gedankenfügung, seine, wie man sagt, „Sprache“, die etwas anderes ist als sein „Ton“. Alles Beschriebene wird dargestellter Klang, klingende Darstellung. Das Gegenteil meint Hölderlin mit dem „Klanglosen.“ Und du weißt sehr oft schon, bevor du ein solches Buch zu lesen beginnst, dass es ein solches klingendes Buch ist. Ich wusste es, als ich mit einem Mal unbedingt Prousts „Jean Santeuil“ lesen wollte, ja sollte, wenn nicht gar musste.

Würde ich alle Regenschirme, die ich in meinem Leben verloren habe, noch einmal und gleichzeitig aufspannen können, es entstünde ein Schirm von der Größe einer ausgewachsenen Rotbuche.

In der Mitte zwischen deinem Zorn und deinem Kummer, da ist eine Freifläche für dich, da halt dich auf, weil du dort noch wachsen kannst.

Crosby, Stills & Nash – Demos

Schreib ein Gedicht: „Heym auf dem Eis“

Drei letzte Vorbeifahrten: Die zwei kleinen Mädchen auf ihren rosa Rädern fahren wieder vorbei. Alle beide pfeifen sie – erst die eine, dann die andere. Es ist nicht dieselbe Melodie, doch ihr Pfeifen ist das gleiche. Ein Kahlköpfiger fährt vorbei und zitiert in sein Handy aus seinem Scheidungsvertrag. Vielleicht derselbe Glatzkopf fährt vorbei und spricht in seine Uhr – oder spricht mit ihr?

„Ich hörte ihre Tränen.“ Dante Gabriel Rossetti

Bombay Bicycle Club – I had the blues but I shook them loose – Live at Brixton

Schreib ein Gedicht: „Rilke in Elmau“

Die gleichen Bleistiftkreuze (X), die ich in die leeren Regalschränke zeichne, um die Position der Bretter zu markieren, mache ich in die Ausgabe mit Oscar Wildes Briefen aus dem Gefängnis, um daraus auszuwählen. (Barmbek, 30. Juni 2021)

Aus den Übersetzungen

Rutger Kopland

Auszug von Töchtern

Sie mussten tatsächlich gehen, ich hatte es gesehen
an ihren Gesichtern, die sich langsam wandelten
von denen von Kindern in die von Freunden,
von denen von früher in die von jetzt.

Und gespürt und gerochen, als sie mich küssten,
ihre Haut und ihr Haar, die nicht mehr für mich
bestimmt waren, nicht so wie früher,
als wir noch Zeit hatten.

Es war in unserem Haus eine Welt des Sehnens,
Glücks, Schmerzes und Kummers gewachsen, in ihren
Zimmern, wo sie ansammelten, was sie
mitnehmen sollten, ihre Erinnerungen.

Jetzt da sie weg sind, schau ich aus ihren Fenstern und seh
genau die gleiche Aussicht, genau die
gleiche Welt von vor zwanzig Jahren,
als ich herkam, um hier zu wohnen.

(„Vertrek van dochters“; aus: „Dit uitzicht“, 1982)

*
Aus: „Dank sei den Dingen“ Ausgewählte Gedichte 1966 – 2006
Aus dem Niederländischen gemeinsam mit Hendrik Rost
Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, München 2008

Marie

Zur Erinnerung an Marie T. Martin (1982 – 2021). Mein Foto zeigt Marie im Januar 2015 am Nord-Ostsee-Kanal in Rendsburg gemeinsam mit Tom Schulz.

Vorbeifahrten

Binnen einer Woche meldet die Forschung, es sei ein Lebewesen aus menschlichem und vom Affen stammenden Erbgut gezüchtet worden – und man habe die Musik der Spinnennetze entziffert. Letztere ermögliche vielleicht die Kommunikation mit den Tieren über die Stabilität ihrer Netze.

Die Augen der Puppe, die seit Jahren nicht mehr offen stehen bleiben wollen, hat sie fixiert – mit Superkleber die Wimpern an den Augenhöhlen festgeklebt, wodurch die Puppe mit einem Mal wieder in die Welt blickt … „… mit hellblauen Augen!“, ruft das Kind.

Cock Robin – Cock Robin
Cock Robin – After here through Midland

Lieferwagen fährt vorbei: „Abfallservice – Depotservice – Friedhofservice“

Totem Butterfly.

Ein Junge war ich noch, viel unterwegs,
stieg in die Bäume, um zu lesen, als
ich eines Nachmittags von einem Wipfel aus
mich selbst da unten stehen sah
inmitten meines Zorns und Kummers.

„Kann ich etwas begreifen, das so lange zurückliegt?“ Kann ich denn etwas begreifen, das noch nicht so lange zurückliegt?

Ein alter amerikanischer Straßenkreuzer fährt vorbei, und das Kind sagt: „Da ist ein Auto aus dem Mittelalter!“

Spiegelungen: die Baumwipfel auf dem Smartphone-Display, als liefe dort ein Baumwipfel-Clip.

Wir unterhielten uns miteinander hinter der Glasfassade, und auf einmal stand draußen im abendlichen Nieselregen ein Reh, so nah, als gehöre es zu uns. (Rendsburg, 6.5.)

Ajgis poetisches Diktum, das mich so lange schon beschäftigt – der Schnee sei das, was man nicht anhalten könne –, finde ich wieder (fand es auch Ajgi dort?) bei Proust. In „Jean Santeuil“ fügt er dem Bild jedoch eine Nuance hinzu – die Ajgi nicht gesehen hat, womöglich gar nicht sehen wollte? Proust (in Eva Rechel-Mertens’ Übersetzung): „Vom Himmel aber rieselte es ständig weiter herab, ohne daß Jean etwas dagegen tun, die Flocken am Niederfallen hindern, sie wieder zum Himmel zurückschicken konnte.“

Wenn dein Verleger dir in Kursfragen nicht mehr antwortet, weißt du nicht mehr recht, wo du stehst und musst den neuen Kurs selbst finden, was auch der Zweck und Sinn des Schweigens scheint. Nur weißt du dann auch, und solltest es wissen, dass dein Verleger kein Ohr mehr hat für dein künftiges Werk – was womöglich viel mehr an seinem Gehör liegt. Frag dich, wozu die Stimme von außen notwendig ist. Ist sie denn eine von außen?

Die Schnellstraße entlang fährt eine junge Frau Fahrrad, an einem Strick hinter sich her zieht sie ein schwarzes Fohlen.

Der junge Freund ruft plötzlich: „Da kämpft ein Falke gegen einen Rotmilan!“

Zwei Tage Regen bei Wärme, und die Blätterdächer entstehen. Die Geschwindigkeit der Bäume.