Das Gras

Der Traumvogel

Wespe wütet: Wespe donnert gegen das Fenster, fängt sich, schwirrt ab, aber nicht etwa davon, o nein! Wespe kommt zurück und wütet gegen das Fenster, donnert dagegen.

Letztes Wespenbild für diesen Sommer: Du sitzt bei Tisch in Berlin, als vogelgroß für einen Augenblick (ja!) eines dieser Wespentiere vor deinem Auge hält, geradezu rüttelt, wie ein Bussard, ein Menschenaugenbussard. Als würde die Wespe in dich hineinsehen. (15.9.)

Das Kind schwimmt wie ein Hund. „Stimmt gar nicht“, sagt es empört. „Ich bin ein Pferd!“ (Burg auf Fehmarn, 21.9.)

Gekränktsein peinigt zugleich durch die erfahrene Ungerechtigkeit und die eigene Scham – du fühlst dich wortlos, wertlos, weil du so wenig vor dir bestehst wie vor irgendetwas oder irgendwem sonst.

David Bowie – Heroes
Pete Townshend – White City

Kleines Zwiegespräch auf dem Bahnsteig: „Er so – ich so – er so – und sie da so – er also so – und ich wieder so –“ – „Echt?“ – „Echt. Einfach so. Er so. Und ich?“ – „Du so, oder wie?“ – „Echt.“

Alles muss Bild werden. Selbst die Wörter und ihr Sinn: müssen Bilder werden. Und in die entstehenden Lücken strömen Vorstellungen ein.

Conrad kommt 1914 mit dem Schiff nach Hamburg. Fährt er oder läuft er durch die Stadt, bevor seine Frau Jessie und er in den Zug steigen und weiterreisen nach Berlin? Fahren sie durch Nettelnburg, Bergedorf, Reinbek? Als im Herbst der Krieg ausbricht, fliehen die beiden aus Krakau vorbei an den Orten im südlichen Polen, an denen wenig später furchtbare Schlachten toben. Conrads reisen Trakl entgegen, der im Viehwaggon, als Medikamentenakzessist, an die galizische Ostfront verbracht wird und einige wenige – drei? – Tage nach der Einschiffung des polnisch-englischen Erzählers und dessen Frau in Triest im Rakowiczer Garnisonsspital stirbt. An Bord des Schiffes, das Conrad durchs Mittelmeer und die Biskaya bringt, bemerkt er an einem Seetag im Ärmelkanal ein Zittern der Bordwand – Beben von den Druckwellen der schweren Geschütze an der belgischen Front.

Laut Walter Benjamin ist die Langeweile der Traumvogel, der die Erfahrung ausbrütet – so zitiert ihn Uwe Timm in seinem Buch über Benno Ohnesorg „Der Freund und der Fremde“.

Prêt-à-mourir

Kein Lied

Wohin du unterwegs warst,
unbekannt. Ich kenne
deinen Tagesbefehl
nicht, nur den Tag,
kein Lied, das
du sangst,
vielleicht
aus vollem Hals,
heller Heiterkeit. Ich weiß
von keinem Schimmer Licht,
in dem du lagst, froh. War da
ein Duft? Stiller Augenblick so.
Licht. Ferne Geräusche, fremd.
Hat dich jemand geliebt? Wer
war das? Ehe die Geschosse
kamen, und immer näher,
bevor es die Granate
zerriss, die Stille
zersplitterte
und du
mit.

Vor dem Regen her eile ich die Straße entlang. Ich eile die Straße entlang, und hinter mir her kommt der Regen, und er ruft. (Barmbek, 4.9.)

Ein junger Nachbar scheint sich einen Laubbläser zulegt zu haben. Er manövriert mit dem Gerät vor dem Haus und bläst jedes feindliche Blatt einzeln davon.

Auf der Straße heult ein Kind wie der Wind.

„Un jour il y a autre chose que le jour.“ Boris Vian

Eine Handvoll Notizen an einem Sommerabend mit Liedern nach Gedichten von Apollinaire:
„Dass du mich liebst, macht mich mir wert.“
„Prêt-à-mourir.“
„Amourir.“
„Zénith – jardin sans limite.“

Im Orchideenpalast der Aal, der wie eine Zunge im Mund durch das Aquarium züngelt – bis du entdeckst, da sind zwei Aale, zwei Zungen.

Du bist kein Kind mehr, zum Glück, leider, und bist doch noch immer, im Innern Kind. Das innere Kind. Kind-Hyde. Willst geliebt werden (endlich) wie ein Kind (bestenfalls) und lieben wie ein Kind (wie jedes Kind liebt).

Ganagobie

Wir müssen den Blaudisteln folgen.
Falls Blaudisteln ihr richtiger Name ist.
Immer die sonnenverbrannte Mauer lang.
In das Wäldchen hinein dann. Von dort
ist der Blick ins Tal ein Traum. Nein,
kein Traum. Wirklich, ein Tal-
see ohne einen See.

Hier pfiff mal der Wind
meinen Namen. Hier lagen sie,
meine Eltern, als sie noch studierten,
Licht, die Pinien, die Linien. Hier bin ich
bei dir. Hier können wir zusammen
hinuntersehen auf den Sommer,
hören Zikaden, ihre Rhapsodie.

Hier diese Rillen in den Steinen,
meine Mutter erzählte, hier
fuhr ein Klostereselgespann. Hier
schoss mein Vater Fotos von Bussarden,
meinem ausflippenden Bruder, mir als ich schlief.

Alles erzählte sie mir von dem wundersamen Ort.
Wäldchen, Vogelbrunnen, Blick in die Weite.
Und alles fand ich wieder in Ganagobie.
Falls das sein richtiger Name ist.

Mit freiem Atem

„Und du mein Herz weswegen schlägst du // Wie ein schwermutsvoller Wächter / beobachte ich die Nacht und den Tod“ Apollinaire

Hochsommernektarinen!

Die Wespen und Hornissen bleiben aus, sobald es kaum mehr reife Feigen gibt – weil der Baum zwei Sommer lang braucht, um die letztjährige Stutzung zu verwinden (Verwinden? Ja.) – das heißt? Dass sie anderswo nach dem süßen Fruchtfleisch jagen. Oder dass sie warten. (Volx, 21.8.)

Gasflaschenspuren – auf der Rampe der Supermarkttankstelle Hunderte unterschiedlicher Einkerbungen im Beton. Alle erzählen oder wollen erzählen, sobald du bereit bist, sie zu lesen, von unwiederbringlichen Augenblicken, so verschieden wie identisch. (Manosque, 23.8.)

Das Gewitter rauscht heran mit krachendem Gedonner. Die Blitze haben Siebenmeilenstiefel, und ich höre den Regen herabrasseln, hunderte Meter, ehe er die Terrasse unter Wasser setzt.

Im Nationalpark der Toten ist Sommerpause.

The Cure – The top
Talk Talk – Laughing stock

Komm immer wieder – freiwillig, d. h. mit freiem Atem – zurück zu den Büchern, die dir ein eigenes Leben ermöglicht haben. So kommst du auch immer wieder zu dir selbst zurück, kehrst heim in deine Wirklichkeit, liest in der Geschichte deines Wirklichgewordenseins. (1.9.19)

Eines der Bücher: Peter Handkes Journal „Die Geschichte des Bleistifts“ von 1982, als du 17 warst. Darin heißt es – es? das Leben? das Denken? das Fühlen? die Vergangenheit? das Wesen? –: „Für mich bin ich ja oft alles. Aber vor anderen muß ich darüber hinwegtäuschen, daß ich nichts bin.“

Mark Hollis, der Sänger von Talk Talk, über Musik und über das Schweigen, die Stille: „The silence is above everything, and I would rather hear one note than I would two, and I would rather hear silence than I would one note.“

Hitze

Die Kellertür steht offen, über dem Treppenniedergang brennt eine Lampe auf gleicher Höhe wie in der Küche jene vor der Tür zum Keller. Die Tür steht offen, und das Kind blickt lange gedankenvoll hinunter in den Kellerniedergang, bevor es sagt: „Die Tür ist ein Spiegel, durch den wir hindurchgehen können.“

Und Grenoble ist ein in den Bergen gestrandeter Ozeandampfer.

Das Gleichgewicht von Licht und Schatten, mit dem du aufgewachsen bist und immer gelebt hast, existiert hier nicht, es ist verrückt in die beinahe absolute Helligkeit, die die Wüste erahnen lässt und gegen die nur noch die Nacht aufbegehrt. Jeder Baum wird attackiert vom Licht, von der Hitze, denn er hat Wasser in seinem Innern und spendet unerlaubterweise Schatten. Die Baumschatten hier sind dünn, alt und erschöpft, aber auch klug, bescheiden und unbestechlich. Die Sonne lastet auf dem Freien, der Gegend, dem verdursteten Skelett des Flusses. Die Mittagshitze zwischen 10 und 17 Uhr ist eine unaufgeklärte Gewalttat. Die Schatten zittern. In den zitternden Schatten hältst du inne, unmerklich, ehe dir die Hitze auf den Rücken springt. Schreiender Oleander. Unsterbliche Pflanzen harren im gleißenden Licht aus. Sie spenden keinen Schatten, niemandem, keiner Ameise, nur sich selbst, ihrem Innern, das sie verhüllen, damit es nicht verbrennt. Fass sie an mit heißen Fingern, und die weiße Pflanze zerbricht, weil du voller Wasser bist. (Volx, 11.8.)

Depeche Mode – 101

Unvermutet, unvermittelt Regen, ein heavy summer rain – die Tropfen schwer wie die Gerüche nach Erdreich, Heu, Feuer, „nach Terpentin“, würde Pasternak vielleicht sagen.

Im Schlamm die Spuren von Tieren und uns, die Spuren von Menschen und Tieren.

Am Brunnen in Oraison. Bienen sitzen auf dem steinernen Rand und trinken von dem übersprudelnden Wasser.

Sie sammelt Samenkapseln der Belle de nuit vom Boden auf – einer alten Treppe in Montfort – und lässt vielleicht ein dutzend schwarzer Kügelchen in ihr Portemonnaie rieseln: „weil sie da sicher sind.“

„Das Echo ist mein Nachbar. Der Nebel ist mein Nachfolger.“ René Char

Rien n’est jamais allé

Gewitternacht in Rolle am Genfersee. Das Silbertablett, auf dem Évian-les-bains herübergezittert kommt auf die Schweizer Seite. Dort, in Évian, versuchte ich 1983 reich zu werden, indem ich, kaum achtzehn, in die Spielbank ging und drei Mal 50 Mark auf Rouge setzte, ohne Erfolg. Ein alter Rezeptionist gab mir damals einen Lederschlips, da er mich ohne Krawatte nicht einlassen könne. Die Nacht seinerzeit, wo verbrachte ich die? Am Seeufer, unter den Sternen? Rien ne va plus. Rien n’est jamais allé. Nichts ist jemals gegangen.
In Rolle warte ich am Seeufer auf Godard. Aber er kommt nicht an diesem Vormittag.

Mit großen runden dunklen Augen glotzt die Dorfjugend in die Welt hinein. Von ihnen war einer auch ich. Der Semmelgeruch. Die Süßigkeiten in der Bäckerei. Die Bäckerei als Herz des Dorfs. Die Hirnwurst in der Auslage des Metzgers, des Schlachters, dessen Sohn zu meinen besten Freunden zählte. Die Buben verstecken sich in den Johannisbeerbüschen. (Irsee, 30.7.)

An der alten Klostermauer entlang hinunter zum Brunnen vor der Kirche. Ein Kieselweg. Der Kieselweg voller Nacktschnecken, zu denen wir früher Pferdeschnecken sagten. Wir?

Drei Sonnenblumen in der Vase im Treppenhaus verlieren ihre Pollen – wie die Birnen eines Birnbaums liegen die gelben Körnchen kreisförmig unter den Blumen, den Bäumen, den Sonnen (31.7.)

Das Leopardenmuster aus Regenflecken auf dem gewachsten Terrassengeländer.

Die Verhändikäppierung!

Am frühen Morgen trittst du aus dem Haus im Oberdorf (wie in deiner ferngerückten Kindheit) und erblickst auf der ersten Hauswand das Schattenspiel des Baums davor: Blätter und Zweige als Fische und Wellengekräusel. Dann im Bach hinunter ins untere Dorf (wie in deiner unvergessenen Kindheit) – die stillstehenden Forellen. Flitzen weg mit rotem Bauch, bachauf, biegen ab, in den Nebenbach. Das Licht spielt auf dem Wasser. (Irsee, 1.8.)

Der Bestattungspomp

Die Totenglocke läutet. Im Rhythmus der letzten Herzschläge? Der letzten Atemzüge? Sie läutet minutenlang, ewig, wie es scheint, dann bricht sie ab, und es herrscht Schweigen im Dorf: der Wind, die Vögel, das Flirren, die Zikaden und die fernen Stimmen in ihrem beständigen Unmut. Aber eine Viertelstunde später, wie reanimiert, ertönt die Glocke erneut, im selben, so langsamen Taktschlag. Das Herz schlägt weiter, der Tote wird Atem holen, sich aufsetzen, aufstehen, auferstanden sein. (Volx, 13.7.)

Sun Kil Moon – I also want to die in New Orleans

Der Bestattungspomp!

Jeden Morgen blickst du in den Baum, in die Krone, zu den dunklen Flecken – den zu pflückenden Feigen.

„… gens du Midi, gens du soleil …“ Apollinaire

Die Schwalbe in meinen Händen war mit einem Mal so kräftig wie die Katze, von der sie gefangen und verletzt worden war, bevor ich sie fand, hineingeduckt in eine Türnische. Sie dehnte ihre Brust. Sie spreizte die Flügel gegen meine Handteller, und als ich sie in die nächtliche Hecke setzte, tauchte sie darin unter wie ein freigelassener Fisch ins Wasser. Die Katze folgte mir, denn es war ihre Schwalbe – ich aber der glückliche Prinz.

VIVE LE VANDALISME! – ein Graffito an der Autobahn zwischen Aix und Marseille. Ich lese vom Leben in dem wütenden Aufruf, nicht von der Verwüstung.

Unter den Bäumen hindurch – in deren durchsonnten Kronen Zikaden knarren – schwirren handtellergroß schwarze Falter. Hunde schreiten gähnend durch die Abendwärme. An den Tischen im Freien zeichnen die Kinder. Das freundliche Dorf, 600 m überm Meeresspiegel. Die Freundlichkeit ist ein Dorf in sechshundert Metern Höhe. (Montfuron, 21. Juli)

Der Lieferwagen des Schornsteinfegers – voller Asche.

In der Abtei von Silvacane hören mein Herz und ich ein Hammerklavierkonzert – Frescobaldi, Froberger und Couperin. Länger als eine halbe Stunde brauche ich, um dem Geklimper etwas ablauschen zu können, doch als dann die Spatzen im 500 Jahre alten Innenhof des Kreuzgangs lauter zwitschern als das Spinett klöppelt, öffnet sich die Zeitdecke über den Melodien, und der Sommerhimmel voller Töne ist eins mit dem von gestern, heute und morgen. Eine junge Frau in der Stuhlreihe vor mir spielt mit den Fingern auf den Knien alles mit. (24.7.)

Krise

Im Innenhof blüht in der Krise
um Ansteckung, Atemabstände,
Hustentod, Ausgangssperren
Passierscheine und Liefer-
engpässe rosig, rot bis
lila abends bei Dämmern,
luftig aufgefächert ein Baum,
darin scharen sich wild umeinander
die jungen Stare zusammen und erfinden
bis tief in die Nacht hinein ihre unverstanden
wunderherrlichen Lieder. Es ist Zeit. Zeit ist es.
Zeit, Zeit, singen sie grün funkelnd und achten
weder des Lärms von den Balkonen noch
der Stille. Baum. Blüht. Ist Blütenkleid.
Traum. Zeit. Traum immer wieder.

Für Konstantin Ames

Das Mistraumschiff

Das Mistraumschiff dreht bei, kackt seinen Dreck aus über meinem Hof, meinen Feldern und Wäldern, und ich wäre in dem ganzen vom Himmel platternden Schmodder ertrunken und zugleich davon begraben worden, hätte ich nicht listig ein Atemrohr zur Hand gehabt und in meinem Sarg aus Matsch und Morast ewig abwarten können. Würfelförmig war das Mistraumschiff in dem Traum, braunschwarz. (3.7.)

Talk Talk – The colour of spring

An der Tür sitzt ein weißer Falter – mein Vater. Der das nie war, so wenig wie ein Falter.

Van Morrison – Beautiful vision

„Wenn ich nur wahrhaftig und ohne Ablenkung sehen könnte.“ Gerald Murnane

Die alte Großcousine erzählt von ihrer alten Freundin, die sie gelegentlich am Ill-Ufer trifft und die ihr „ein einziges Gebrechen“ scheint. „An ihr ist alles krank und schmerzt.“ Aber wenn die beiden Frauen zum Chor gehen, singen sie am schönsten von allen, besonders die Kranke, Alte, fast Tote, ja „wie schon mehrmals Gestorbene“ – „Sie singt mit der ganzen Kraft ihres Lebens.“ (Strasbourg, 10.7. 19)

Eine halbe Stunde lang halsbrecherische Schwalbenmanöver über dem Haus, dann Dämmerung, und Abflug des Geschwaders. Die Fledermäuse, jetzt können sie kommen.

John Cheever erwartete, nach seinem Tod vor ein Gericht aus Labrador-Retrievern gestellt zu werden.

Von Jiggel nach Bergen

Gegenüber wohnt Käpt’n Ahab.

„Nemo“, sagt das Kind, „das kommt von ,niemand‘. Käpt’n Nemo wollte niemand sein, deshalb lebte er in seinem Unterseeboot unter dem Eis.“ – Ich erwidere, dass Nemo meines Wissens so heißt, weil sein Name nach Mnemosyne klingen sollte, nach Mnemotechnik usf., also nach dem altgriechischen Begriff für Erinnerung. „Es geht um ein wirkliches Erinnern!“ – „Glaub ich nicht“, erwidert das Kind, das immer klüger wird. „Oder um beides: Niemand erinnert sich. Niemand wirklich.“

Ein Löschzug wässert den Rasen des Fußballplatzes. (Bergen an der Dumme, 26.6.)

500 Jahre alt, die Wassermühle von Jiggel, aber nichts von allem Leben, aller Lebendigkeit, die stattgefunden haben muss an dem wendländischen Bach, der bis 1990 deutsch-deutscher Grenzbach war, ist noch zu erkennen. Du musst dir alles vorstellen.

Die uralte Kirschbaumallee, die Bäume voller Süßkirschen, zwischen Jiggel und Bergen. Jahrhunderte lang kamen hier die Landarbeiter herauf, und gegen ein Entgelt konnten sie sich Kirschen pflücken. Leere. Gespensternachmittag. Ein Reh schrickt auf, das Maul noch voller Kirschenmus, und flüchtet sich ins Roggenfeld.

In Meuchefitz das TAGUNGSHAUS DES WIDERSTANDS, daran flattert schlapp die Sonnenfahne der Republik Wendland. Und gegenüber, an der Scheune voller Sonnenkollektoren, das schöne Plakat: LIEBER WÜTEND ALS TRAURIG.

Der kleine Hund zieht gewaltig an seiner (verhassten) Leine – und gerät dabei so sehr in Schieflage, als würde er kentern. Hat er zuviel Kraft, oder macht das der Wind?

Van Morrison – Astral Weeks

Fotos: Kreuz, Clenze (1); Hohlweg bei Jiggel (2); Roggen, Bergen (3)

Die sieben Unwirklichkeitsschichten

Sturm in Clichy. Überall auf den Trottoirs liegen E-Roller herum.

Verregnete Unterkünfte. Etablissements pluvieux. (Paris, 7.6.)

La Défense, das ich nur von den alten Fotos von Peter Handke kannte, wirkt heute wenig Banlieue-artig, beinahe akkurat sogar. Nichts in Paris kann es mit der Rauheit von Marseille aufnehmen.

Der Bus bringt uns von Nanterre über La Défense weiter nach Westen in die Vororte an der sich durch das Land und Richtung Atlantikküste mäandernden Seine. Die vermüllten Ufer. Die von Pragmatisierung und Zergliederung vernichteten Treidlerpfade, die noch einige Jahrzehnte lang dem Laufen und Gehen gedient haben werden. In dieser Zeit malten hier Sisley und Monet, die als „Augenblicksanbeter“ verkannten Impressionisten, die auf ihren Bildern nicht selten in Wirklichkeit Eindrücke von der Einfachheit der Menschen, der Flussschiffer, der kleine Leute in Bougival, Louveciennes, Le Port-Marly und anderen, heute völlig ausgehöhlten und zuschanden gegangenen Orte festhielten. (Le Port-Mary, 9.6.)

Du musst die sieben uns aufoktroyierten Unwirklichkeitsschichten durchbrechen, mit deinen Kopf- und deinen Herzwerkzeugen sie durchdringen, dann erkennst du, wie wichtig alles Zeitliche ist, was für ein Witz es ist, was uns verkauft wird als „Zeitkolorit“.

Über das Erdbeerfeld fliegt blechern summend eine Drohne.

Auf dem ehemaligen Schrebergartengelände, wo eine U-Bahnstation errichtet werden soll, wächst zum letzten Mal wilder Mohn.

The National – Boxer

Der Straßenunterhaltungsdienst!

Als der Zuckerkranke sich eine Insulinspritze in den Bauch sticht, steht die dunkelhäutige Frau auf und entschuldigt sich bei ihm. (Lokstedt, 22.6.)

„Maybe in the morning when I first wake up I am sometimes free.“ Robert Frost

Gespenst

In den Büchern von dir
Unruhe und Gesicht

immer noch die Lese
-zeichen in Streifen

zertrennte Matrizen
der Geschäftsbücher

meiner Großeltern
in Litzmannstadt

dem umbenannten
überrannten Łódź

Beide sind sie tot
so wie du Tadeusz

Und ich lebe Lese
Zahlen und Ziffern

Tara Saldo Skonto
Zahlen 1941 1943

In ihren Ordnern
für Außenstände

Mahnungen uner
-ledigte Transfers

sind abgeheftet
meine Gedichte

Entwürfe datiert
Juni 91 Mai 93

Ihre Hochzeit
1940 in Łódź

ihre Gesichter
die Heiterkeit

meine Unruhe
Haben und Soll

Soll und Haben
das Gespenst

das ich erbte
Gespenst des

Nichts Nichts

*

Aus: Różewicz-Lieder

Die Scheunenschwalben

Wer im Jahr darauf aus einem Hotelzimmer in denselben Garten sieht wie vorigen Sommer – der sieht zunächst den Garten kaum, sondern blickt in sich hinein (in den Garten im Innern? Ja.) und versucht, die Jahreszeitenabfolge nachzuholen. Dann aber ist der Garten vor dem Fenster umso wirklicher, ja ist wieder wirklich geworden. (Wilhelmshaven, 20.5.)

Bolzplätze gab es – und es gibt sie noch immer, denn sie sind ewig auf ihre Weise, unverwüstlich –, die waren mir ein innigeres Zuhause als Elternhaus, Schule, Haus von Verwandten oder Freunden. Waldwege, Hohlwege, Wiesen, Heckenwege, ihr ebenso. Die Liebe zu meiner Großmutter ähnelte diesen Empfindungen. Spinozas Geborgensein. (Jever, 22. Mai 2019)

Zwei Tage lang beobachte ich gegenüber den Krankenhausneubau, das Ein- und Ausgehen der Leute. Das Gebäude besteht fast zur Gänze aus Fenstern, und so sehe ich die Männer und Frauen und Kinder, wie sie das Haus betreten, wie sie den Fahrstuhl nehmen, und durch einen der oberen Korridore bis zu einem Zimmer finden, in dem sie verschwinden, als Patient, als Besucher, als Arzt oder Ärztin. Als ich mit dem Kind telefoniere, gehe ich durch die Sonne, die Straße entlang, bis vor den Krankenhaushaupteingang, und durch das Gebäude hindurch kann ich gegenüber mein verwaistes Fenster sehen. (Delmenhorst, 23.5.)

Der Literaturbetrieb ist es, der eine der Zeit, in der wir leben, angemessene Literatur verhindert.

„Überall Honigblumen“, sagt das Kind beim Anblick des ersten Rapsfeldes. (Fehmarn, 30.5.)

Jeden, jede, ein jedes wertschätzen, das ist die Lösung. Oder wäre es – denn Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit, ist Einvernehmen.

„Ich liebe Ekel!“, ruft das Kind im Watt.

Die Scheunenschwalben – sie segeln herein durch das offene Tor, flattern umher, „rütteln“ vor der einen Spaltbreit offenstehenden Stalltür – und stürzen durch den Spalt hinein, mit für einen Sekundenbruchteil im Flug angelegten Flügeln.

Abends eine Viertelstunde lang um die Häuser ziehen, Kippen sammeln, sie zu Haus prüfen und sortieren, die Aschenkruste wegschneiden – und die guten drei auf dem Balkon rauchen, dabei den Vögeln im nächtlichen Innenhof lauschen – gute alte Barmbeker Sitte.

An der Ampelkreuzung steht der Pastor des Viertels mit seinem Fahrrad und spricht mit einer Alten, hört ihr aufmerksam zu. Selten geworden, womöglich schon immer selten gewesen: das Innehalten, das Zuhören, die Zugewandtheit.

Heckenweg

Ein verregneter, kühler Mai, das Relikt eines endlos anmutenden Winters. In den Titisee und Schluchsee prasselt der Regen, und am Ufer stehen nur einige versprengte Wohnmobile, in denen du trübselig dreinblickende Seniorenpaare siehst, die nicht glauben können, dass dies die Welt ist, die im Alter auf sie gewartet hat. Aber so ist es. Der Ruin ist offenkundig.

Werner Heisenbergs erster Eindruck von seinem Mentor und Lehrer Niels Bohr: „Bohr sprach ziemlich leise, mit weichem dänischem Akzent, und wenn er die einzelnen Annahmen seiner Theorie erklärte, so setzte er die Worte behutsam, sehr viel vorsichtiger, als wir es sonst von Sommerfeld gewohnt waren, und fast hinter jedem der sorgfältig formulierten Sätze wurden lange Gedankenreihen sichtbar, von denen nur der Anfang ausgesprochen wurde und deren Ende sich im Halbdunkel einer für mich sehr erregenden, philosophischen Haltung verlor (…) Es war ganz unmittelbar zu spüren, daß Bohr seine Resultate nicht durch Berechnungen und Beweise, sondern durch Einfühlen und Erraten gewonnen hatte und daß es ihm jetzt schwerfiel, sie vor der hohen Schule der Mathematik in Göttingen zu verteidigen.“

Lesen, Übersetzen, Miteinandersprechen – andere Formen der Bildung fallen mir nicht ein. Da die meisten Leute nicht übersetzen und die meisten Leute auch nicht mehr lesen, zumindest kaum noch Bücher, wirkliche Bücher, sind sie aufs Sprechen angewiesen, um die Welt kennenzulernen und etwas zu erfahren von Weite und Tiefe der Zeit. Aber auch das Sprechen ist dabei, verloren zu gehen.

Talk Talk – It’s my life

Seine Zunge blutete mit einem Mal. „Heckenweg“, sagte er. Als er das Wort einmal in den Mund genommen habe, da habe seine Zunge angefangen zu bluten. „Und seither“, sagte er, „blutet sie immer, sobald ich es sage.“ – „Das Wort ,Heckenweg‘?“ – „Ja.“ Die Zunge hatte aufgehört zu bluten. „Sag es“, sagte ich. Und er sagte: „Heckenweg“ – und ich sah, seine Zunge blutete wieder.

Die Hotelinhaberin deckt den Frühstückstisch im Garten, wo du dich niederlässt und dir die erste Sommermorgensonne des Jahres auf die Haut scheinen lassen kannst. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich“, sagt die ältere Berlinerin. „Bleiben Sie, solange Sie mögen. Einzige Bedingung: Bewundern Sie meine Rosen.“ (Berlin-Friedenau, 18.5.)

Konzertina

I will walk and talk in gardens all wet with rain
Van Morrison

In der Nacht
auf einmal
der Regen,
Rauschen, der
Geruch. Kein Vogel
mehr sang, dafür jetzt
er, Regen spielte rasselnd
auf seiner Konzertina,
ich bringe Wasser,
sang er, schon komisch!
Er sang: Dann hast du es nasser.
Gib du mir dafür Augen,
ich bin ja so blind
wie der Wind!
Ich trat auf
den Balkon, wusste
auf der Stelle, was er meinte,
jemanden wie mich wollte er sehen,
in meiner ganzen unwahrscheinlichen
Pracht mich, durchnässt bis
aufs Geäst oder besser
die Knochen, gut,
um die ging es
weniger, weil Knochen
braucht er anscheinend keine.
Hat der Regen etwa Beine?
Nein. Ich fragte ihn, ob
er festhält an uns.
An euch, sang er, was!
Euch, weshalb denn das!
An euch Verwüstern, euren
vertrockneten Flüssen und
Trockenfutterbetrieben?
Halten? Hab ich Hände?
Von wegen! Ende Gelände!
Ihr solltet alles lieben, oder
verdunstet, Himmel eins.
Haut ab! Festhalten!
Vorbei, sang der Regen
und tanzte zu seinem Lied
auf der finsteren Konzertina.
Nur ich würde ihm fehlen,
rief er. An dir, ja an dir
halte ich fest, bis der Tag
es wieder Tag sein lässt –
und er klimperte weiter,
Tropfen für Tropfen,
heiter das Regenlied,
glücklich und lebendig
mit unsichtbaren Fingern
auf seiner dunklen Konzertina.

Responsibilty

Kalter Wind weht durchs Val Durance, das Durance-Tal. Die Schnecken des Frühjahrs wissen, dass sie sterben müssen (sie haben es mir gesagt) und verkriechen sich (um es hinauszuzögern, denn sie lieben es zu leben) bei gleißendem Licht im Schatten der alten Mauern, die ihnen mütterlich erscheinen.

Der Handwerker schmirgelt die Haustür ab, zum ersten Mal seit bestimmt 150 Jahren. Morgen soll die Tür gestrichen werden – Midouze-blau, so blau wie (nur) der Fluss Midouze in den Landes im Südwesten Frankreichs.

Der tanzende Vogel aus Moustiers, Wappentier zahlloser Abbildungen aus Moustiers-Sainte-Marie, er scheint um sein Leben zu tanzen, gelb-weiß-blassblau scheint er zu lächeln, scheint lächelnd aufzuflattern, lächelnd dahinzuschreiten, kranichartig, storchähnlich, scheint um die Dinge zu schreiten und zu tanzen – wie um sie unter allen Umständen zu bewahren.

Zwitschernd, flötend, trillernd, schreiend und kreischend am Vormittagshimmel die ersten Schwalben über dem Ort. (Volx, 1. Mai)

„Sonnenmilch ist für die Leute aus dem Norden, les gens du Nord, die Pariser.“

„Ich liebe dieses Insulin“, sagt mein Diabetologe.

Mohnblüte bei Mistral. Millionen Maiglöckchen.

Arbouretum – Coming out of the fog

46 Millionen US-50-Dollar-Banknoten wurden gedruckt und in Umlauf gebracht, auf denen im Wort RESPONSIBILITY das dritte i fehlt: RESPONSIBILTY. Verantwortlichkeit. Verantworlichkeit. Wer trägt dafür die Verantwortung? Ein Mitabeiter der Notebank wahrscheilich. Glücklicheweise ist ja so viele fehlehaft. (11.5.)

Chez Ollier – der Kellner, der Garçon des Lokals in Lourmarin, in dem Albert Camus seinen Apéritif zu trinken pflegte, nannte den Nobelpreisträger „Monsieur Terrace“, um ihn vor anderen Gästen nicht bloßzustellen. Camus’ Terrasse ist eine halbrunde und blickt auf das grüne, hügelige Hinterland in die Weite des Val Durance. Riesige lichtdurchflutete Linden stehen vor den Fenstern des von der schmalen Eingangsfront aus gesehen bescheiden wirkenden Hauses in einer Nebenstraße. Es mutet wie eine Festung im Idyll an, bewehrt von Zypressen links und rechts der Terrasse.

In Russland, in Moskau, ist ein notgelandetes Passagierflugzeug in Flammen aufgegangen, wobei 41 Menschen starben – weil „betuchtere Fluggäste“, wie es heißt, ihr Handgepäck retten wollten und dadurch die Fluchtwege versperrten.

Ob es wohl unter den Schwalben, die am Abend über den Häusern ihre Kreise ziehen in einem unauflösbar scheinenden Schwarm, einzelne Vögel gibt, die sich langweilen dabei, am liebsten ausbrechen, abseits für sich allein fliegen würden?

In jeder Favela halte ich mich lieber auf als in irgendeinem Flughafen.

Vom Aussterben bedroht: eine Million Tierarten.

Auf dem Weg zum Geldautomaten geht man noch am Friedhof vorbei.