Mit der Stiftlampe

Nach dem wochenlangen Rummel: plötzlich der Eingang, und ihn genutzt und verschwunden ins Schreiben einer Erzählung. Wie wunderbar, das ruhige Hinwachsen der Sätze, das langsame Gestaltannehmen des Ziels, das Gespräch der Figuren, die aus dem vermeintlichen Nichts auftauchen – wie aus dem Schneetreiben (15.10.).

Das Mädchen in der U-Bahn mit der am Kopfhörer befestigten Stiftlampe: Möchte es ein Roboter sein? Hat so schöne Augen.

Bar unterm Meer

Christoph W. Bauers ganz heutige Figuren in seinen so rasanten wie profunden Erzählungen „In einer Bar unter dem Meer“ sind allesamt aus der Lebensmitte Versprengte. Von Unwirklichkeit umgeben, fühlen und denken sie wie unter Wasser. Ihr Ahnherr ist Nemo, der Kapitän von Jules Vernes Unterseeboot Nautilus, und in diesem submarinen Gefährt entdeckt Bauer ein durch Zeit und Raum gleitendes Symbol für ein mögliches Überleben durch Widerständigkeit und Fantastik. Ob jung oder alt, Frau oder Mann, jeder in diesen Geschichten ist ein Nemo, ein Niemand, der sich erinnert an das Leben außerhalb der Nautilus-Bar. In wassergleichen, mal wuchtigen, mal sanften Sätzen, die ab und an von herrlicher Süße und doch immer salzig wie geweint sind, gelingt Bauer die transparente Darstellung komplexester Wahrnehmungen unserer so fatal lieblosen Schnelllebigkeit. Nicht nur als Dichter und Chronist, auch als Erzähler erweist sich CW Bauer als eine der eigenwilligsten und markantesten Stimmen der jüngeren deutschsprachigen Literatur.

Der Grund, in einen See zu springen

Auf dem kalten Bahnsteig steht abseits ein einzelner Mann, bärtig, Moslem anscheinend, und brüllt zum Himmel. Unmöglich zu entscheiden, ob er krank ist, verzweifelt oder bei sich, „sane enough“, wie Pound es nennt. Warum das überhaupt entscheiden wollen (Düren, 13.10.).

„Ich weiß nicht, wo ich morgen bin“, sagt die Nachbarin ins Telefon, und ich frage mich, ob ich weiß, wo ich morgen bin.

„Der Grund, in einen See zu springen, ist nicht, dass man so schnell wie möglich ans andere Ufer gelangen will“, sagt John Keats. Man möchte schwimmen. In einem See schwimmen möchte man.

Schatten und Kostüm

„Luftschatten“ gehören Ende der 1930er Jahre zu Ernst Ludwig Kirchners letzten Entdeckungen: Die Bewegungsräume der dargestellten Figuren setzen sich fort in der Luft. Doch die Luft wird zugleich, wie vorausgeahnt, dunkel. Das Schweizer Exil, das Leben in der Fremde als Schatten.

Die Besuchertage der Messe: Hunderte Jugendliche strömen in Manga-Kostümen auf das Gelände und lichten einander ab in den Posen ihrer Lieblingsfiguren, die sie selber darstellen – lebendig gewordene Fantasie, Ich-Gestalten (Frankfurt am Main, 12.10.).

Gravity

Wie weltfern, wie schwerelos: die literarische Gesellschaft im Römer. Ich bin dort ein Fremder, ein Randfreund, Bewohner schwerer, hartnäckiger, nicht aufzulösender katachretischer Zweifel. Nicht der einzige! Zweifler erkennen einander, zweifeln auch aneinander. Am folgenden Nachmittag: Einkauf in einem „Netto“-Supermarkt in der Taunusstraße. Gravity. An der Kasse verlangt ein Abgerissener in meinem Alter einen höheren Pfanderlös für seine eingesammelten Mehrwegflaschen. Mit respektvollen Flüchen schlägt ihn die Kassiererin in die Flucht. Alte in Hauseingängen. Mädchen mit Plateauturnschuhstiefeln hocken auf Stufen. Die verzweifelten Polizistinnenaugen. Schwere Welt, aus der ich komme, aus der ich fliehe, in die ich immer lieber zurückkehr (Frankfurt am Main, 8.10.).

SOS, SMS

„Seltsam, dass an den Straßen die Bäume in gerader Linie wachsen“, sagt das Kind. Und als die Anderen lachen, sagt das Kind weiter: „Seltsam, dass der Wind, der die Baumsamen trägt, am Straßenrand anhält.“

Um aus dem zerknitterten Wintermantel die Falten zu entfernen, lässt sie ein heißes Vollbad ein, hängt den Mantel an die Kacheln über der Wanne und wartet ab. Nach einer Stunde: keine Falte mehr da.

„S.O.S.“, sagt das Kind, „wenn das Save Our Souls heißt, dann heißt also SMS Save My Soul?“ Ja, mein Kind!

Jeden Morgen bringt mir der Apportierhund ein anderes Sofakissen … (Lemkenhafen, 5.10.).

Woran

Der Freund am Telefon … ringt um jedes Wort Poesie: Schnee bis in die Niederungen … Immer weiter … Vertrau dem Text … vertrau auf ihn: den einzelnen Satz … vertrau den Sätzen, nicht nur ihrer elenden Struktur.

„Woran bin ich mit mir?“ und „Woran sind wir mit uns?“, fragt, in einem Nebensatz, im Radio der Philosoph Martin Seel – und stellt damit die entscheidenden, notwendig aufeinander folgenden zwei Fragen, endlich!

Voll roter Beeren: die Ebereschenallee. Sommer für Sommer wachsender Windpark. Ein Pulk aus hundert Wildgänsen, der sich sammelt an der Südküste, um den Flug nach Süden einzuüben. Die volle Pracht der Sternbilder, wie Beeren am Baum des Himmels über Fehmarn (3. Oktober).

Haec scripsi

Der schreckliche Begriff Erfahrung: Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit verschlägt es mir die Sprache. Aber auch das, selbst das – ist ein Erlebnis (1.10.).

„Haec scripsi non otii abundantia,
sed amoris erga te.“
Dies schrieb ich nicht aus zuviel Muße,
sondern aus Liebe zu dir.
(Cicero an seine Tochter Tullia)

So weit entfernt von deiner Sprache – dem Gedicht, den Sätzen, allen Figuren – warst du zuletzt, ehe der Ernst begann. Sieh dir zu! Und das wolltest du aufgeben?

„Im Zweifel für den Zweifel.“ (Tocotronic)

Gelenkige Geschöpfe

Die alte Gutskapelle. Durch die Stille dringt Klaviermusik heraus. Durch den Türspalt sehe ich ein Mädchen mit langen blonden Haaren am Flügel sitzen und ins hereinfallende Licht blicken. Musik und Licht, Wind und Muße: Schon steht die Zeit still. Und wirklich ist das Mädchen, das uns lachend durch die Kapelle führt, die Nichte des Gutsherrn, geboren vielleicht 1995, sechshundert Jahre jünger als ihre Kapelle und zugleich ebenso alt (Barnstedt, 23.9.).

Was du an den Bäumen liebst: ihre grüne, bewegliche Vielgestaltigkeit? Und doch verwurzelt sein. Jeder ein gelenkiges Geschöpf.

Irgendwann muss ich es aufgegeben haben, von einem Ort, wo ich gern war (gern bei mir), einen Stein mitzubringen. Immer den Ort vergessen. Und selbst die Erinnerungsstütze, den Ortsnamen, den Tag, an dem ich dort war, hat der Stein ausradiert: unleserlich verblasste Schrift. Als würde der Stein helfen, den Ort vergessen zu machen. Gedächtnisversteinerung. Lebendig bleibt die Erinnerung nur in der Schwebe, unbeschwert, angereichert mit Erfindungen (26. September).

Die Gruppe

Als vor den Hotelfenstern die elektrischen Jalousien hinunterfahren — automatisch, es war Punkt 17 Uhr –, erlosch im Zimmer das Herbstlicht, die goldene Sonne, und kam nicht wieder (Frankfurt am Main, 21.9.).

Wie Giorgio Manganelli den italienischen „Gruppo 63“ charakterisierte: „Die Gruppe hat kein Manifest, keine Theorie, keine Orthodoxie, sie ist ein Club verärgerter Personen“, die obendrein unehrlich seien, was aber von großem Vorzug sei – genau so eine Gruppe bin ich.

In der Lüneburger Altstadt: Auf dem Dach eines geparkten Wagens sitzt eine rote Katze, und im Innern des Autos rätselt ein großer, verstört um sich blickender Hund, wohin sie verschwunden ist.