Kaputt

„Die Blumen schlafen, aber nicht das Gras.“ Jean Paul

Der zahnlose Bettler steht von morgens bis abends am Eingang der Fußgängerzone. Am Fuß des Cityweinbergs. Er ist in deinem Alter. Seit zwanzig Jahren prozessiert er. Dreimal, erzählt er, sei er vergiftet worden. Auch in Madras. Entmannt von seiner früheren Frau. Geschieden von sich selbst. Kaputt. Den funkelnden Zorn im Auge. Ganz Zweifel (Freiburg, 9.11.).

Schwan: kennt den Schwankenden.

Die eigene Sinnesdeutung

„Der Verfasser ist von dem Gefühl ausgegangen, daß die tiefsten Gründe einer Biographie, die letzte Form eines Schicksals gar nicht durch die Schilderung eines äüsseren Lebenslaufes, noch durch eine noch so tief geführte psychologische Analyse erschöpft werden könne. Diese letzten Gegebenheiten des menschlichen Lebens lägen vielmehr in ganz anderer geistigen Dimension, nicht in der Kategorie des Faktischen, sondern in der des geistigen Sinnes. Ein Lebenslauf aber, der auf seine eigene Sinnesdeutung hinaus will, der auf seine eigene geistige Bedeutung zugespitzt ist, ist nichts anderes als Mythus. Jene dunkle, ahnungsvolle Atmosphäre, jene Aura, die sich um jede Familiengeschichte zusammendrängt und in der es gleichsam mythisch wetterleuchtet, als ob in ihr das letzte Geheimnis des Blutes und des Geschlechtes enthalten wäre – erschliesst dem Dichter den Zugang zu diesem zweiten Gesicht, zu dieser Alternative, dieser tieferen Version der Geschichte.“ (Bruno Schulz, Exposé zu seinen Erzählungen „Die Zimtläden“, 1937)

Zum Mut, zur Seelengröße

„In all diesen Narrativen werden das Zukünftige und das Vergangene bewusst nicht mehr als Phantasiereservoire von der Gegenwart abgetrennt, sondern kontextualisierend auf sie bezogen“, schreibt Dietmar Dath in einer Buchbesprechung. Auf diese Weise ließen sich Antikörper erfinden gegen die Kolonisierung durch Bilder und Metaphern utopischer Spekulation in technokapitalistischen Lösungsversprechen für soziale Großprojekte. Ich lese Daths güterzugartige Rechthabergerattere in der Frankfurter S-Bahn. Am Darmstädter Hauptbahnhof steht ein Satz von Georg Büchner über dem Portal, der ebenso von dem spricht, was war und was sein könnte, vor allem aber spricht er vom Erleben des Einzelnen als einem Mangel, den ein jeder teilt: „Wir alle haben etwas Mut und Seelengröße nötig.“ (Im Darmstädter Herrengarten, 7.11.)

Überall Federn

Die Verfassungsschutzlosigkeit!

Der Unbehaustheit des Schriftstellers auf Lesereisen, dem Hotel Ich, setz die Ordnung des Staunens entgegen! Da steht am Dorfrand, dreimal so hoch wie die Kirche, ein Wohnturm. Im Vormittagslicht klingt vom Schulhof Kindergeschrei herüber und macht dich ruhig. Die Freundlichkeit des lachenden Gesichts im grau-in-grauen Regenwind auf der Domplatte. Vorüberwirbelnde. Ein jeder. Mit seinen unverwechselbaren Augen (Köln, 5.11.).

„Forgotten anything?“ Alles.

„Wer Engel sucht“ … sieht überall Federn.

Das schweigende Auge

Ein wiederkehrendes Bild: Du öffnest am Morgen die Vorhänge, und draußen vorm Fenster liegt ein Park mit einem Weiher, darauf Enten und auf dem Rasen Krähen. Es ist grau, es regnet, und du bist hier nie gewesen. Was erkennst du daran also wieder? Den Park, die Tristesse, das Nieselwetter? Die Vorhänge? Das Öffnen? Die letzten Vorbereitungen, ehe du gehst? (Braunschweig, 2.11.)

Werbeslogan: UNS DOCH EGAL

Aus dem Krimi des Sitznachbarn: „Das Auge blinzelte, sagte aber nichts.“

Fünf Stimmen

„It’s never over (Hey Orpheus)“ Arcade Fire

„In welcher Welt lebst du eigentlich?“ – „Ich?“ – „Ja. Wer denn sonst?“ – „In der Ich-ich-ich-Welt?“

Jeder Text, den du geschrieben hast, und zum Glück noch jeder, den du schreibst, hat eine eigene Stimme. Jeder ein Lied, unverwechselbar, das zuerst (zunächst!) nur du hörst. Du lauschst ihm nach. Versuchst, es hörbar werden zu lassen auch für andere. Und in der Entscheidung, ob das gelingt, ob es ankommt, liegt schon eine Begegnung, denn der Text, sein Lied und du, ihr entscheidet gemeinsam (31.10.).

„Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf.“ Lars Gustafsson

Eine Hineinforderung

Herbstorkan, ein merkwürdig warmer Sturm. Oben im Dorf hat eine umgestürzte große Pappel einen Opel unter sich begraben. Rasselndes Licht auf dem quer über die Straße gebreiteten Laub, ein rotierendes Blinken, als nähme der sterbende Baum das Blaulicht vorweg. Teenager fotografieren das Unglück mit ihren Smartphones. Hin und her peitschende Rispen im Lichtgeflirr. Und auf dem Balkon setzt das Tier den riesigen braunen und gelben Faltern nach, die von den Bäumen stürzen und so flink sind, dass sie nie und nimmer Blätter sein können (28.10.).

Eine Herausforderung: Heißt das, mich fordert etwas heraus, oder fordere ich etwas heraus? Woraus denn? Fordert etwas mich nicht viel eher hinaus? Eine Hinausforderung. Komm raus und stell dich! Stell dich, wenn du kannst, mir entgegen. „Fodern“, wie Schiller unbeirrbar schreibt, als hätte er einen blinden r-Fleck. Bleib, wo du bist. Wo du bist, dort bleib. Eine Hineinforderung.

Wo sind alle hin?

Im Herbstlicht liegt die geleckte Industriestadt am Mittellandkanal verlassen da. Die vier Schlote, ratlos ragen sie in den blauen Himmel. Wo sind alle hin? Leere Straßen Hitlers. Leere Bahnsteige. Leeres Museum. Alle in der Schule, alle in der Fabrik, Autobau lernen, Autos bauen. Eine gelbe Ahornbaumkrone rauscht im Wind, und ich scheine der Einzige, der ihr zuhört und sich wundert (Wolfsburg, 24.10.).

Das hübsche Mädchen, das vorbeigeht und nicht sieht, was rings geschieht (ich) – denn sie liest im Gehen, ja im Gehen (ein Buch), das Gehen ist nämlich ein Buch.

Der Bienenzüchter und sein Blindenhund

„Ehe, Berufsleben, ach Gott! All das versinkt, als wäre es eine Lappalie, eine kurze Episode, alles, was eben noch die ganze Welt erfüllte und mich in den Nächten manchmal mit Grübeleien wachhielt. All das wird nur zu einer Episode in einer viel wichtigeren Erzählung, in der die Kindheit bisher das einzig wirklich starke Kapitel ist.“ (Lars Gustafsson, Der Tod eines Bienenzüchters)

Der Blindenhund, der während der Chorprobe von Tasche zu Tasche und Rucksack zu Rucksack tappt, um alles Essbare daraus verschwinden zu lassen: einen Apfel, eine Karotte, Kekse. Der Blindenhund, der alles wehrlos Essbare unsichtbar werden lässt.

Von Plauen nach Nauen, von Guben nach Nuben

Wie oft fahre ich diese Strecke, im Schreckenszug von Hamburg nach Berlin und retour, dreißig, vierzig Mal im Jahr? Und das zwangsweise. Die öde Weite Mecklenburgs, darin die halb weggerissenen braungrauen Ortschaften, nicht Orte, alle mit erfundenen Namen, Plauen, Nauen, Guben, Nuben, Dassow, Sassow. Und immer wieder sehe ich aus dem Fenster wie hinein in einen rasend ablaufenden Traum und rauscht das Ungeheuer der Bahn mit seinen darin herumspukenden Mitarbeitern soeben durch einen zur Hälfte abgetragenen Weiler, wo Wracks von Wartburgs und Ladas in Vorgärten verrotten, die ich noch nie gesehen habe. Ganze Felderebenen unter Wasser. Oder, was hier dasselbe ist, voller Mais. Und das Ich dreht sich verschämt ins Man. Man denkt, man kennt hier jeden Busch, jedes vom Ostfrost halbblinde Schaf. Nichts da. Paulinenaue. War das gestern noch Plauen? Und plötzlich bricht der Zug durchs gläserne Schrebergärtenportal von Spandau, und wieder sind zwei absurde Stunden Leben dahingebracht.

1056

Es gibt die Zone gleicher Jahre,
Dort ist nie Sonnenwende –
Den Immermittag baut ihr Licht,
Kein Herbst macht sie zuschanden –

In den Jahrhunderten des Juni
Folgt Sommer Sommern, bis
Nach den Jahrhunderten August
Bewusstsein – Mittag ist –

Emily Dickinson

Warme Schlange

Fleetwood Mac in concert. Lindsey Buckingham allein auf der Bühne spielt auf der Akkustikgitarre „Looking out for love“, als wäre er nicht 60, sondern 20, und ist nicht 60, sondern 20. Und Stevie Nicks braucht lange, bis ihre Stimme zu ihr findet, warme Schlange, dann aber ist sie jung und alt zugleich, mitten ins Leben gezaubert als Musik, zeitloses, atmendes Instrument (Berlin, 16.10.13).