Die Trennung

„My mother, she is seventy-five, she’s the closest friend I have in my life.“ Mark Kozelek

Der Reiher kam aus dem blauen Spätmärzhimmel, streckte die Beine, spreizte die Schwingen, blickte um sich und flog einen Sinkflugkreis, ehe er auf einem Felsen im Teich vor dem japanischen Pavillon landete. Von so sonntäglichen Spaziergängern wie mir ließ er sich nicht stören. Sein Auge äugte. Er hielt Ausschau, was da schwamm. Stakste durch den Teich, hielt inne, reckte den Hals, hielt inne, schnellte vor, schnappte im Wasser nach dem Fisch und schluckte ihn hinunter. Zurück auf dem Felsen, gereckter Hals, das äugende Auge, das Himmelsblau. Reiher, unter Leuten, als wären wir Reiher und er der einzige Mensch. Und das größte Wunder dann die Zunge. Reiherzunge, schleckte sich den Schnabel, genoss das Schlecken und unsere Blicke. Ah! Ein köstlicher Fisch. Ein zarter kleiner Märzfisch. (Planten un Blomen, 30.3.)

Willkommen im Geisterhotel!

Wie so oft trifft Rilke die Sache auf den Punkt (wenn er auch nicht selten über die Sache, den Punkt nicht hinauskommt), als er über Trakl und dessen Dichtung sagt: „Inzwischen habe ich den ,Sebastian im Traum‘ bekommen und viel darin gelesen: ergriffen, staunend, ahnend und ratlos; denn man begreift bald, daß die Bedingungen dieses Auftönens und Hinklingens unwiederbringlich einzige waren, wie die Umstände, aus denen eben ein Traum kommen mag. Ich denke mir, daß selbst der Nahstehende immer noch wie an Scheiben gepreßt diese Aussichten und Einblicke erfährt, als ein Ausgeschlossener: denn Trakls Erleben geht wie in Spiegelbildern und erfüllt seinen ganzen Raum, der unbetretbar ist, wie der Raum im Spiegel. (Wer mag er gewesen sein?)“ – Rilke im Februar 1915. Bleib in seinem Bild, und du siehst Trakl allein, abtastend das Glas, hinter der Scheibe, sich mitzuteilen unmöglich. Das ist sie, die Unwirklichkeit, die Entäußerung, von der Trakl immer wieder spricht und die er als einer der ersten und daher für uns alle durchgemacht hat: die Trennung. Das Abgelöstsein von der Welt, die vermeintlich, paradoxerweise, unverändert weiterexistiert. Alle Gleichgültigkeit gründet dort: Es gibt die Welt (noch), und es gibt mich (noch immer), aber eine Verbindung nicht (mehr). Das Wunder Trakl besteht auch darin, mir das vor Augen führen zu können – und zugleich das (letzte) Verbindungsglied gewesen zu sein (was ihn zerriss).

Der Lärm der Zeit und des Gemüts

Das lauteste Konzert meines Lebens: Mogwai in der Großen Freiheit. Schon nach der ersten Minute, die Schlagzeuger, Keyboarder und vier Gitarristen auf der Bühne standen, verstopfte ich mir die Ohren mit Kautschuk. Die Schallwellen des wundervollen Lärms drangen schwermütig durch Mantel, Pullover und Hemd, und die Umhängetasche bebte mir am Leib, als hätte ich darin ein Nagetier, das um sein Leben zitterte. Reglos standen die sechs Schotten im Lichtgeflacker, versuchten ihren Instrumenten Menschliches abzutrotzen und ließen doch nur möglichst melodisch auf meiner Seele einen Jet landen, soul runway. Hardcore will never die, but you will. Von zwanzig Songs, die sie spielten, zwei Gesang, der Rest Landschaft, offene See, Weltraum, Klangbitternis, Lärm der Zeit und des Gemüts. Seit Monaten war ich nicht so ruhig. Als Trakl einmal las, vor hundert Jahren in Innsbruck, muss es etwa so gewesen sein. Mein lieber Freund sagt, wie es ist: Den Rest denkst du dir und spürst du. (St. Pauli, 26.3.)

Eine so erregende wie desillusionierende Beobachtung über das Gedicht äußert überraschend Christoph Hein in seinem Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ über den ungeklärten Tod des fiktiven Untergrundaktivisten Oliver Zurek. Nach dessen Erschießung (oder Selbsttötung) in dem fiktiven Ort Kleinen (–> Bad Kleinen –> Wolfgang Grams) studiert Zureks Vater, ein pensionierter Schuldirektor, die politische Lektüre seines Sohnes: „Seien wir realistisch, verlangen wir das Unmögliche, las er lächelnd. Und dann murmelte er halblaut den Satz: Man muss das Volk vor sich erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. / ,Es ist Lyrik, Rike‘, sagte er zu seiner Frau, als sie in das Zimmer kam, da sie seine Stimme gehört hatte, ,reine Lyrik. Oliver hat im Grunde Gedichtbände gelesen, die sich als wissenschaftliche Literatur getarnt haben. Es liest sich wunderbar. Erbaulich und schön wie die Korintherbriefe. Wundervolle Worte über eine prächtige zukünftige Welt. Und eigentlich ersetzen sie das, was sie einfordern, sie nehmen es vorweg. Wer sich diesen Worten hingibt, ist bereits im Stande der Glückseligkeit. Das sind keine Terroristen, es sind Träumer, nichts weiter. Natürlich, diese Autoren stürzen die Welt um, stellen alles vom Kopf auf die Füße, Expropriation der Expropriateure, die Ersten werden die Letzten sein, die geschundene Kreatur wird gekrönt werden, die Tränen der Welt getrocknet. Das ist die Bergpredigt, nichts anderes, Rike, samt einer Wollmaske mit Augenschlitzen. Freilich, einige von ihnen haben nach einer Kalaschnikov gegriffen, das sind die, die nichts davon verstanden haben, denn in diesen Büchern geht es in Wirklichkeit um Liebe.’“ Sehr schön auch die Reaktion der Ehefrau, der Mutter des Erschossenen, aus der zugleich Gleichmut und Gleichgültigkeit sprechen: „Friederike Zurek hörte ihm zu, nickte und sagte dann: ,In zehn Minuten ist das Essen fertig. Holst du bitte vorher noch die Post aus dem Kasten? Und wasch dir die Hände.’“ (Christoph Hein, „In seiner frühen Kindheit ein Garten“, Frankfurt am Main 2005, S. 137f.)

Schwarze Fische

Die Welt löst sich ab, und die Leute
verschwinden. Was sie umgab, findet statt
genauso ohne sie. Dafür such du dir ein Bild.
Meer schwarz, Rumpf schwarz, aus dem Hellen
stürzen entsetzt in die Sitzreihen geschnallt
Schatten in die Schatten, Wälder, Wellen.

Und du lebst. Da, das getigerte Tier,
blasser Katzenscherenschnitt zwischen
Vorhang und Fenster, durch das Licht fällt.
Der warme Märznachmittag auf den Tischen,
alle Worte auf und davon auf einem Wind
und du dir selber ferner als Malaysia.

Verbinde die Bilder. Verbind sie innig.
Keine Angst umgibt dich wie ein Stein,
nichts schließt dich ein. Nur du dich aus.
Halt fest. Halt fester, heiter. Solche Schwärze,
die gibt es noch nicht mal bei den Fischen.
Sie staunen, stehen still. Und entwischen.

Eine Hypothese

„Auf deinem T-Shirt steht PERLENMARMELADE. Wieso?“, fragt das Kind.

Wenn er trinkt, Wein, schwillt sein Gesicht an und wird zum Mond. Blaues Tier tritt aus seiner Höhle. Die Augen kommen rund heraus und zeigen dem schmerzlichen Antlitz, was Bewegung heißt. Flehentliche Blicke, gedankenprall. Angst um seine Adern erfüllt mich, Verwunderung über das Rot seiner Ohren, das Zurücktreten der Lippen. Sie scheinen wie aufgegessen vom immer stummeren Mund. (25.3.)

Seit fünfzehn Jahren dieselbe Verängstigung nach der ärztlichen Augenhintergrunduntersuchung. Jedes Licht ein Stern, jeder Schritt neben dir bedrohlich. Wie nah einander die Sinne sind, wie nah, was du siehst, dem, was du hörst, überdeutlich plötzlich. Die weit gestellten Pupillen: schwarze Löcher. Alles saugen sie auf, Angstaugen – Angst, durch die Welt hindurchzufallen.

Generation y – why? Warum nicht w, Generation w? Was soll nach ihnen schon noch kommen (jede Menge). Umkehr. Schubumkehr!

„Der Einbeinige“, sagt das Kind, „er hatte eine Hypothese – ein künstliches Bein.“

Schreiben ist gut

Das schöne Wort „notwendig“, kein Synonym, eher die Adverbialform, die handelnde Fortentwicklung von „nötig“: Nötig ist etwas der Not, dem Mangel Geschuldetes, notwendig das, was die Not, das Fehlende umdeutet, es vielleicht um- und zum Guten wendet. Auswendig weiß ich das nach außen gekehrte Verinnerlichte.

Als der Kaufmann Kamaswami in Hesses „Siddharta“ dessen Schreibkünste prüfen will, schreibt der junge Brahmanensohn für ihn: „Schreiben ist gut, Denken ist besser. Klugheit ist gut, Geduld ist besser.“

Was das Gedicht ausmacht, ist nicht das Gedicht, sondern das Schreiben des Gedichts, das Erlebnis des Schreibens dieses Gedichts. Das Miterleben dieses Erlebnisses macht das Gedicht wahrhaftig auch für den Leser. Klopstock, Hölderlin, Trakl, Bobrowski, Bachmann, Celan, Brinkmann, Kling – ihre besten Gedichte erlebst du mit, erlebst du nach, während sie entstanden, während sie entstehen. Sie sind lebendige Überlieferung.

In München, in Schwabing, in der Seidlvilla am Nikolaiplatz, fiel mir, während ich von meinem Roman erzählte, plötzlich wieder ein, wie ich als Fünfjähriger, als Bub, Lesen lernte am Stachus: Die Leuchtreklamen auf den Häuserdächern konnte ich mit einem Mal entziffern, und ich verstand: Magirus! Mercedes! Süddeutsche! Zeitung! Erwachen in der Fremde. (München, 19.3.)

Und das Übersetzen, dachte ich dann: Kommt es bei dir nicht vielleicht doch von deiner seltsamen Zweisprachigkeit? Daheim hatte ich hochdeutsch zu sprechen, in der Schule und auf der Straße, im Dorf, im Wald, auf den Feldern und in den Gärten und den Gefährten hinter den Tankstellen aber redeten wir breit und leidenschaftlich bayrisch. Schee issas. Schee da Woid, schee des Gros. Ich erinnere mich an einen Lageplan unserer Banden, den ich zeichnete und der den Wald zwischen Waakirchen und Schaftlach kennzeichnete mit dem Namen „Woid“. Das klang genauso wie das englische „void“, die Leere. Ich muss, vorm Münchener Hauptbahnhof stehend, nur ein paar Brocken Bayrisch hören – „Mongdratzer“ –, und ich merke, wie in mir die ältesten Übersetzungsübungen meines uralten Kindergemüts wach werden und wieder lebendig.

Kellner, Reisender, Kind

Sprach länger mit dem älteren Speisewagenkellner einer Zeitarbeitfirma für Reisen mit einer historischen Eisenbahn. Von Berlin fährt er einen Tag lang an die Prignitz, steigt dort in seine König-Ludwig-Uniform, bedient einen Tag lang betuchte Dampflokomotivenzugfreunde und fährt dann heim, um auf den nächsten Einsatz zu warten. „Eisenbahnen“, sagt er, „interessieren mich nicht, aber die Landschaften, durch die ich fahre, sind schön.“

„Would you support my eurotrip?“, fragt ein junger Mann mit Rasta-Locken und Bart jeden auf dem Platz, aber niemand, auch ich nicht, unterstützt ihn bei seiner Reise durch Europa. „Verhindert sie!“, scheinen wir zu denken. Verhindern müssen wir die Gleichgültigkeit, wo wir gehen und stehen.

Als das Kind hinunter zum Flussufer geht, wo auf dem Spielplatz die Turngeräte warten, sagt es: „Ich weiß, wo rechts und links ist, seit ich mir den Arm gebrochen habe. Aber du weißt immer, wo Norden ist, Süden, Westen und Osten – woher?“ Ja, woher? „Vielleicht“, sage ich, „weil ich den ganzen Tag darauf achte.“

Die Stille in dir

John Cage wies während der Begutachtung eines angeblich absolut schalltoten Raums darauf hin, dass er zwei Töne höre. Der Tontechniker fragte Cage, ob es ein tiefer und ein hoher Ton seien, und Cage lauschte und bejahte. „Der tiefe ist das Rauschen Ihres Bluts“, sagte der Techniker, „und der hohe ist das Zirkulieren Ihres Nervensystems. Sie hören die Stille in Ihnen.“

Früher war ich noch irgendwo – lief über ein Feld, einen Waldrand entlang, durch den Wald, saß in einem Café, saß da in der Zeit. Heute bin ich nirgends – immer unterwegs von A nach B, und in meinem Fall ist das buchstäblich so. (Leipzig, 15.3.)

Sommersachen

Im vergangenen Sommer, erzählt mir ein Junge, sei ein Marder an der Costa Brava in den Motorblock des VW-Busses gestiegen, mit dem er durch Spanien, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Niedersachsen heim nach Hamburg fuhr, und der Marder sei dort, im Morgengrauen, in einer verschlafenen Winterhuder Straße, hervorgekrochen und davongelaufen, ohne sich umzublicken. (2.3.)

Im März ein Sommer. Der Sommermärz, ein Märzsommer: „Wenn die Forsythien blühen, kommt der Winter nicht wieder.“

Man muss die Sachen lieben.

Auf den größeren freien Wiesen liegt schon das erste Holz für die Osterfeuer. Als ich heute an so einem Haufen aus Wacholder, Ilex, Birke und Kirsche vorbeiging, dachte ich: Wenn ihr nur noch Asche seid, steige ich in den Flieger nach Melbourne.