Möglichkeit einer Rettung

Alle wichtigen Dinge entscheide in ihrer Ehe er, sagt der Kunstsammler im gemeinsamen Interview mit seiner Frau, der Kunstsammlerin. „Meine Frau entscheidet lediglich, was wichtig ist und was nicht.“ Gemeinsames Gelächter.

Ein frohes neues Ja! Und ein gesundes, glückliches Nein! (1.1.)

„I’m about to fly” … – bin Schmetterling …

„Nackte Angst, zieh dich an, wir gehen aus.“ Jens Friebe

„Solange man sich jemandem, der einem Sympathie entgegenbringt, mitteilen kann, ist die Möglichkeit einer Rettung immer noch gegeben“, schreibt Tennessee Williams in seinen Memoiren. „Jeden Morgen versuchte ich zu schreiben, doch das erwies sich als ebenso schwierig wie der Versuch, etwas zu sagen.“ – „A Streetcar Named Desire“, „Cat on a Hot Tin Roof“, „Orpheus Descending“, „Sweet Bird of Youth“, „The Case of the Crushed Petunias“, „Suddenly Last Summer“, „Something Unspoken“, „I Rise In Flame, Cried the Phoenix“, „The Eccentricities of a Nightingale“ – wer hätte schönere Titel für seine Bücher oder Stücke erdacht als Tennessee Williams? „Talk to Me Like the Rain“ – nicht, wie in der deutschen Adaption, „Sprich zu mir wie der Regen“, sondern: „Rede mit mir wie der Regen“!

Den Wolken

Bei scharfen Böen,
zwölf frühere Herzogtümer
im Innern des Festlands,
duftet der Schulbus,
wenn er in den Ort taucht,
immer noch nach Meer.
Die in dem Wind tanzende
Wäsche ähnelt Leuten,
die einen Zirkus eröffnen wollen
für das junge Jahrhundert,
in dem alles Zirkus ist,
und die Gänse in den Gattern
spreizen die Schwingen,
schnattern: O blauer Raum
früh morgens über den Dächern!
Da hineinzusteigen schwebt ihnen vor
in der Wölbung unter dem Gefieder
zwischen den schmalen Augen,
kein Anfall, bloß ein Anflug,
Tagträumen vergleichbar,
und jeder kennt sie, die Unruhe,
die ihre Schnäbel dabei schmecken
und zu tun haben muss mit Zitterpappeln,
Rauschen und Rasseln, mit trabendem
Gras und den wilden Muttertieren.
Den weißen Wolken.

Les enfants qui s’aiment

Das Kind in dem Kalender, der kleine blonde Junge, den ich seit 15 Jahren von Blatt zu Blatt, von selbstgebasteltem Kalender zu Kalender, Jahr für Jahr habe heranwachsen sehen, ohne ihm einmal begegnet zu sein – er studiert jetzt Medizin in Budapest, erzählt mir sein Vater, mein lieber Arzt.

„Eistragfläche“, sagt das Kind und zeigt auf eine überfrorene Pfütze.

Die Familie: die Hungernden.

„… something more than mockery / if only I could fill my heart with love …“ The Cure

Das Wirkliche hat ausgedient, noch ehe es wirklich werden konnte.

Im Freien vor der Fensterscheibe ein Kind, das Gesicht schmerzverkrampft. O wie ich ihm ähnle. Es ihm nachfühle!

Ein Kind geht vorbei und sagt: „Trash and treasure.“

Zwei, die sich verlieben im Heer der Verzweifelten, sind sie noch länger verzweifelt? Waren es so lange. Wie da mit einem Mal Paar sein. Nur zum Heer, zum Heer zählen sie nicht mehr. (28.12.)

In einer Nacht versinken

Sebald: Etwas unausgesprochen Eitles haftet allem an, was es von ihm zu lesen und zu sehen gibt.

Sebalds „Micro poems“ … sind keine Gedichte. Aber sind der Versuch, das Gedicht zu retten. Der misslungen ist. Und misslingen muss.

In einer Nacht versinken, in Gespräch und Gelächter, in Gesichtern und der kühlen Luft, gleichgültig, was der Tag bringen wird (nicht viel) – das ist die gute Schattenseite der Lebensüberhitzung. Bin ich ein Motor? Nee, ich bin Wolfgang Borchert. Die Nacht, „in Hamburg ist sie grau / und hält bei denen, die nicht beten, / im Regen Wacht.“ (St. Pauli, 19.12.)

Löwin! Ich sehe dich lächeln.

Das Umherreisen zu Weihnachten zwischen den einzelnen, vereinzelten Familienscherben – auch bloß der Versuch, das Sterben aufzuhalten.

Der Baumkuchenspitzenvergleich!

Die 15 Kritikpunkte von Papst Franziskus an der Kurie (aber doch nicht nur an der):
– sich für unersetzbar zu halten
– zu hart zu arbeiten
– geistig und im Geiste abzustumpfen
– zu viel zu planen
– wie ein lärmendes Orchester zu sein
– an geistlichem Alzheimer erkrankt zu sein
– sich in Rivalitäten zu verlieren
– an existenzieller Schizophrenie zu leiden
– dem Terror des Geschwätzes zu folgen
– die Vorgesetzten zu verehren
– gleichgültig gegenüber anderen zu sein
– eine Trauermiene aufzusetzen
– immer mehr zu wollen
– geschlossene Zirkel zu bilden
– nach Profit zu streben und damit zu prahlen
(24.12.2014)

Je suis Charlie

Nach dem gestrigen Massaker in der Redaktion des Pariser Satire-Magazins „Charlie Hebdo“, bei dem die Attentäter Charlie Hebdo. L. Sécheresse vier der beliebtesten französischen Karikaturisten und acht weitere Menschen getötet haben, denke ich wütend, traurig und bestürzt an den Anschlag im Sommer 2011 auf der norwegischen Insel Utøya zurück. Erinnert sei an ein Wort des damaligen norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg, das mich seinerzeit tief bewegt und getröstet hat: „Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“

Zeichnung: Loïc Sécheresse

Daneben. Drei Zitate

Daneben – das scheint mein bevorzugter Aufenthaltsort zu sein.

„Liebe, wie eine schreiende Blume, Liebe, die jede Stunde stirbt …“ U2

„Resignieren, das heißt nicht, den Humor zu verlieren.“ Christine Nöstlinger

„Die Poesie ist eine mündliche Form der Prägung der Geschichte in Zeitlupe. Die Poesie ist eine Dichtung. Der Lehrer hat uns in der Schule gelehrt, daß Poesie eine Dichtung ist. Die Poesie ist auch eine Abneigung zur Wirklichkeit die schwerer ist als diese. Die Poesie ist eine Übertragung der Obrigkeit zum Schüler. Der Schüler lernt die Poesie, und das ist die Geschichte im Buche. Die Poesie lernt man vom Tiere aus, das sich im Wald befindet. Berühmte Geschichteschreiber sind die Gazellen.“ Ernst Herbeck

Bei den Lebenden und bei den Toten

Kauzaugen1 Der CIA-Folterbericht, von Barack Obama unter Druck publik gemacht – und endend wohlweislich mit Beginn seiner Amtszeit – offenbart Grauen und Gräuel des allein auf Gewalt, längst nicht mehr demokratischen Werten der Verfassung basierenden US-Alleinrechts. Menschenverachtung, Selbstherrlichkeit, dumpfeste Intoleranz, nackte Gier, Verlogenheit und Wissensfanatismus. Ein auf Jahrzehnte nicht wieder gut zu machender Schaden. Was die in Guantánamo, in den eigens dafür eingerichteten Lagern in Polen, Rumänien und anderswo, gleichwo auf der Welt rechtlos festgehaltenen, gefolterten und geschundenen Menschen durchgemacht haben – unermesslich, so abscheulich wie unverzeihlich. Kauzaugen2 Es ist jetzt die letzte Gelegenheit, die Verantwortlichen glaubwürdig dingfest zu machen, jetzt die Bush- und Cheney-Bande und ihre Handlanger endlich vor die Gerichte in Washington oder Den Haag zu bringen. Um Verzeihung bitten sollten nicht sie, sondern wir an ihrer Stelle.

Kauzaugen3 Diese Notizbücher, selbstgeschrieben, selbstgestaltet, selbstbeklebt und -verziert, damit sie selbst erzählen – wie Emily Dickinsons selbstgemachte Gedichtbände, die sie in ihrer Schlafzimmerkommode verwahrte, wo (damit) niemand sie entdeckte. Im Ernst: Sie sind dasselbe. Sie bedeuten das Schreiben (das Überleben).

Kauz Seit zwei Wochen ist es winterlich kalt, und seither ist der Kauz zurück. In der Dunkelheit hört man ihn deutlich vom Friedhof herüber rufen. Woher ist er (zurück-)gekommen, wo warst du, Kauz? Im Westen, im Norden, im Süden, im Osten, bei den Lebenden oder doch schon bei den Toten?

Fotos: Augen von Eulen und Augen von Toten und der Kauz drüben am Friedhof von Owlsdorf

Gendarmenmarkt

Pink Floyds nach zwanzig Jahren erstes Album „The Endless River“ – der endlose Fluss? Oder doch der uferlose, der Fluss ohne Ufer? David Gilmour, der nicht mehr dabei ist, nennt das Album das letzte der Band: „It’s a shame … but this is the end.“

Opel – tot. (5.12.14)

Der rote Kadett

Berlin: Da sitzt du über dem Gendarmenmarkt, frühstückst hinter Glas wie in einem Aquarium, und vorüber in Richtung Unter den Linden fährt langsam ein hellgrüner Doppeldeckerbus mit seinem Obergeschoss genau auf deiner Höhe. Ein vorbeifahrender junger Mann mit fettigem Haar und Parka sieht dir auf den Teller.

Alle Filme von Güte, jeder gute Film lebt vom kindlichen Blick.

PEGIDA – „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“. Der Mob marschiert wieder, begreift noch immer nichts, aber will noch mehr, noch mehr, noch mehr! Habgier und Auslöschung der Anderen, ein und dasselbe. „Prä-intelligente Egomanen grölen im Dunkeln: Adolf! Aldi! Adidas!“ Viva Las Vegas!

Foto: Mein roter Kadett, 1984