Der Westwärtshain

Westbound Grove Rolf Dieter Brinkmann starb nicht nur an Shakespeares Todestag (laut Julianischem Kalender), nicht nur, nachdem er im „Shakespeare’s Pub“ gewesen war (Hörensagen), und nicht nur mit seinem Gedicht „Nach Shakespeare“ in der Tasche (Vermutung) – er starb im Westbound Grove, als er dort, vielleicht angetrunken, bestimmt aber unachtsam dem Linksverkehr gegenüber, auf die Straße trat und überfahren wurde. Nichts kündet davon, kein Schild, keine Plakette, rein gar nichts, ganz so, als wäre hier nie etwas passiert. Oder als hätte die „Bild“-„Zeitung“ recht behalten, als sie im April 1975 schrieb, dass der deutsche Dichter Rolf Dieter Brinkmann in London von einem Auto überfahren worden sei: „Er starb.“ – „Nach Shakespeare“ Brinkmann's Corner erschien wenige Tage später in Brinkmanns legendärem Gedichtband „Westwärts 1 & 2“, und „Westbound Grove“, das ist, so könnte man es übersetzen, der Westwärtshain. Der junge Peter Lach-Newinsky, heute ein angesehener australischer Dichter, übersetzte seinerzeit für einige Londoner Lesungen aus „Westwärts“ Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht über Shakespeare und dessen Gespenst so:

After Shakespeare

The winter hand falls off
and is lying in the garden where now
there’s a wooden scaffold.
The dark summers

fall like the hand.
You’re freezing in your head.
Autumn with its
dead fish on the

bottom of the rivers is
like the kiosk with the old
woman sitting and reading
the newspaper till someone

comes and buys one of the cold
rissoles lying in the
glass vitrine smeary with
fat. The passer-by pays,

eats, throws the bone
at the invisible angel.
And spring arrives, disperses
the headlights through

tinny leaves in the evening
sinking with the wooden scaffolds
by the river.

Die straßenbreite Unterführung unter den Museen der Exhibition Road in South Kensington, die gebe es „since hundreds and hundreds of years“, sagt die junge Londonerin. (17.3.)

In der Tube, als sie einfährt am Leicester Square, verliert eine Dame beim Aussteigen einen blauen Lederhandschuh. Die Männer im Waggon blicken ihn an, wie er da auf dem Boden liegt, aber nur einer hebt ihn auf, ruft durch die offene Tür der Frau nach und wirft ihr den Handschuh zu – worauf sie lächelt und sich bedankt. „,Madam! Madam!‘, hat er gerufen!“, johlt ein anderer. Und noch einer meint, so ein Gentleman, der könne nicht von hier sein. „Hey, you stranger!“ In London, sagt er, gibt es keine Madams, da gibt es nur Männer und Frauen. „Frau!“, ruft er, „Frau! Hier, den verdammten blauen Handschuh hast du verloren!“

Wer bist du, wenn nicht ich?

Hyde Park Finsbury Park – wo die Schule liegt, an der ich von Gedichten erzähle, – dort wuchs vor 200 Jahren John Keats auf. Vor den Fenstern die Bäume.

Fotos: Westbound Grove, London-Bayswater (1 und 2), Hyde Park (3)

Liebe Grüße an Keats

Die grünen Sittiche, frei in den kahlen Wipfeln des Parks, wie Blätter, fliegender Mai, die ausprobieren, wo sie festwachsen könnten. (Hyde Park, 16.3.)

Der Besucher Eine Autoalarmanlage zwitschert, zwei, drei Martinshörner nähern und entfernen sich im Dunkel, und vis-à-vis, da ist ein ganzer Block erhellt, eine leuchtende Fitnessfabrik mit Blick in die keimfreien Gärten des Prinzen, Beine, Arme, Beine, Arme. Am Morgen laufe ich durch die grauen Kensington Gardens nach Bayswater bis zu der Stelle, wo vor vierzig Jahren Rolf Dieter Brinkmann totgefahren wurde.

Die Sprache der Gedichte sei der Minutenzeiger, die der Wissenschaftler der Stundenzeiger auf der Uhr ihres Lebens, sagt eine Schülerin in Islington.

Wer du bist und wer ich bin,
wer wir sind, entscheiden
du und ich und wir für
uns allein, nicht sie, nicht
sieben, die kommen, um heilig
und wichtig und richtig zu tun.

Die Sun titelt: „Wir leben in einem Ford Focus!“

Die Autorin im Apartment neben mir sagt im Flur an dem Morgen, als ich nach Hampstead hinausfahren will: „Send my love to Keats.“

An einem grauen Stuttgarter Mittag

endlos die Treppen vom Olgaeck
hinauf zur Zimmermannstraße.

Bestimmt war das früher mal ein
Weinberg, und Weinbergpferde

trotteten hier so wie jetzt wir.
Es ist Liebe hatte jemand dünn

an eine Betonwand gesprüht. Da,
ein weißer Engel, der beugte sich

über einen Brunnen ohne Wasser.
Asia-Imbiss und Nagelstudio. Felder

mit wilden Birnbäumen voller Disteln
lagen hier mal. Schiller im Gras. Und

der junge Hölderlin mit blonder Mähne
bis sonstwo. Diese silbernen Sommer.

Aber wohl kaum schöner, wie auch.
Das Gras war dasselbe. Das Grau

oben am Himmel. Die Zärtlichkeit,
die fehlt, bis du sie spürst, bis du

spürst, du lebst, sie war dieselbe,
die Abgestorbenheit ist nur Gerede.

Ein Waldbrand

Der Bankfilialleiter in seinem Funktionsmöbelkabuff, er ist nicht nur arm dran. Zusammengesunken über dem Schreibtisch, mit leerem Blick äugt er in die Leere und weiß genau, was Reichtum wäre. Mut. Er ist arm.

Claude Simons ursprünglicher Titel für seinen Roman über den drôle de guerre „Die Straße in Flandern“: „Bruchstückhafte Beschreibung eines Desasters“.

Schöner Reim im Refrain eines Charts-Songs im Radio:
I got you in my heart, yes
I got you in my soul, yes
like a wildfire in the darkness

Alle sind Freunde. Nur ich bin es nicht – ein Glück.

Wäschereiter

„Mag der Regen die einzelnen Segmente der Hummeln, das Honiggelb, das Bärenschwarzbraun auch frisch zum Leuchten bringen: kein in-den-Handteller-Nehmen und Anhauchen wird euch vorm Sterben retten oder vom Tod zurück ins Leben bringen, das war schon in der Kindheit so, und trotzdem wurde es, ich sag’s dir, ich sage euch, immer wieder versucht, damals an den Hummelsterbetagen wie heute.“ Peter Handke

Wäschereitermine? Wäschereiter? Berittene Wäschelieferanten in die Luft jagen?

„Lass uns die Sternschäden reparieren.“ Tom Schulz

In Stuttgart las ich auf einer Leuchttafel das seltsam schöne Wortspiel „Là pour là“ – statt „L’art pour l’art“ also „da, um da“ zu sein. Und wie wahr! Lieb etwas, liebe einen oder eine, sodass es dir das Leben ist, schon bist du da, um da zu sein. All is full of love, even when you shut the doors. Im Zug nach Münster las ich das in den neuen Gedichten von Tom Schulz, „Lichtveränderung“: „Keines war besser als das andere. Jedes war.“ (12.3.)

Der Körper ist es, der den Raum erschafft, nicht umgekehrt. (Ja.) Durch Bewegung. Nie ist mir aufgefallen, wie schön dieses Wort ist, ein echter Begriff, begreifbar: Da wird der Raum be-wegt. Wege werden gelegt. Und beschritten. Körper und Raum bewegen sich nämlich gleichermaßen. Zusammenzeit!

Der lichte Kern

Erster Frühlingstag – ein sachter Märzwind. Unter dem hellblauen Himmel die noch ganz kahlen Bäume und Büsche, aber alles ist schon voller Liebe, ja, Mensch, sogar wenn du die Fenster und Türen verrammelst, ist drinnen alles längst schon voller Liebe! Einer schreibt mir, meine Gedichte seien zu weich – und irrt, denn in Wahrheit sind sie noch lange nicht weich genug. Sie sind noch nicht wie deine Haut! (8.3.)

In Alf Sjöbergs Filmdrama „Hets“ („Raserei“), das zu Beginn der 1940er-Jahre an der Stockholmer Höheren Knabenschule Södermalm spielt und dessen Drehbuch Ingmar Bergman schrieb, ist Tomas Tranströmer, damals Gymnasiast in Södermalm, als Statist zu sehen. Sein Spitzname war „Trana“, Kranich.

Der lichte Kern im Kometen von Tomas Tranströmers Kindheitsmemoiren „Die Erinnerungen sehen mich“: „Palle, der vor 45 Jahren starb, ohne erwachsen zu werden, – mit ihm fühle ich mich gleichaltrig. Dagegen bleiben meine alten Lehrer, die ,Greise‘, wie sie allesamt hießen, in der Erinnerung Alte, auch wenn die älteren von ihnen genauso alt waren, wie ich es jetzt bin, da ich dies schreibe. Immer fühlt man sich jünger, als man ist. Ich trage meine früheren Gesichter in mir, wie ein Baum seine Jahresringe hat. Ihre Summe ist, was ,ich‘ ist. Der Spiegel sieht einzig mein letztes Gesicht, ich spüre alle meine vorigen.“

Ein Pflanzenschlafmittel? (Ja.)

Zersplitterte Fabrik

„Lieber streiten als einsam sein. Also heirate.“ Irisches Sprichwort

Nach Tallaght

Jervis
Four Courts
Museum
Liffey
Heuston
James’s
Fatima
Rialto
Grand Canal
Suir Road
Goldenbridge
Drimnagh
Blackhorse
Bluebell
Kylemore
Red Cow
Kingswood
Belgard
Cookstown
Hospital
Tallaght

Literaturbetrieb: zersplitterte Fabrik, in der niemand irgendwen von irgendetwas zu überzeugen vermag. (Berlin, 3.3.)

Slogan, Berlin: „Er kam, sah und saugte.“

„Uniformiert, uninformiert“, sagt das Kind.