Die zwölf Jahreszeiten

Ein schöner und guter Versprecher der Literaturhausleiterin, als sie von kreativem Schreiben erzählt und stattdessen sagt „kreatives Sterben“.

„Im Großen und im Ganzen / haben wir allen Grund zum Tanzen.“ Jan Delay

Der Kopfschmerzpapst!

Merkwürdig – wert, gemerkt zu werden –, ja, und seltsam – wesenhaft selten –: der trockene, nicht warme und nicht kalte Wind, der durch die Straßen bläst. Mich erinnert er an so manchen Kindheitssommer in Oberbayern, wenn ich dort an einem Nachmittag im Gras lag, in die Wolken sah, keine Ahnung hatte von irgendwas, auch nicht davon, dass ich schon da ein Dichter war und John Keats mir näher als die meisten Spielkameraden. Der Föhnwind, der mir ins Gemüt drang. Die Sehnsucht nach etwas nicht Ausdrückbarem. Hat sich daran etwas geändert? Vielleicht, dass ich keine Zeit, keine Muße mehr habe und somit stehengeblieben bin, statt im Gras zu liegen und ein bayerischer Buddha zu werden. Hier ist der Kern der ganzen Geschichte. (Hannover, 3.6.)

Der Busfahrer, der drüben auf dem Parkplatz am Flussufer sein Gefährt abstellt und dann im Schatten der Bäume davongeht, vornübergebeugt, fast mit Tippelschritten, er hat auf jedem Fußweg, auf allen Bürgersteigen der Republik seinen Bus im Nacken.

Zwillinge. So bin ich auch, doch bin bloß einer, nein beide, bin Einzelzwilling. (8.6.)

„Ich kenne alle Jahreszeiten auswendig“, sagt das Kind. – „Alle?“ – „Ja, alle!“ – „Sind nicht so viele, oder?“ – „Es geht“, sagt das Kind. „Januar, Februar, März, April …“

„Wir leben“, sagt der Dalai Lama, „in einem Haus, in dem wir an einem überfüllten Fenster sitzen, während hinter uns das Zimmer leer ist.“

Vor dem Fenster geht der Dalai Lama vorbei.

Taifunika

Gestern, im Süden, der erste sonnige Sommernachmittag. Da war sie wieder: meine Stille. Die Stille der Wärme, in der die Vögel nicht mehr hineilen, sondern gaukeln. Und allenthalben, halb hier, halb da, überall bloß halb, die wundervollen Insekten, die Ameisen Zentauren in ihrer Drachenwelt. Dann war es mit einem Mal da und zu sehen: das Flimmern, drüben auf dem Feld, auf halbem Weg zwischen uns und den Bäumen. Duft überall. Die Sonne im Gras. Das schöne Gesicht der Sonne. (28.5.)

Im Ernst: die vier Töpfe mit Spanischem Gras, die seit Jahren unverändert auf demselben Fleck hinter den Sichtschutzgardinen im Treppenhaus so vor sich hinleben – sind sie nicht wie ich? Zum Weinen. Zum Schreien! Zum Lachen. Sind mehr da, als dass sie leben. Aber bedeuten doch in jedem Augenblick: Nein. Wir leben. Was denn, bitte, sonst.

„Einen Haushalt mit Kindern zu führen“, sagt sie, „das ist wie mit Nutella sich die Zähne zu putzen“, und sie lacht.

Und das Kind sagt: „In unserer Klasse geben wir uns allen Spitznamen nach Naturextremen.“ – „Ach ja? Und wie heißt du?“ – „Taifunika.“

Hast du die Hände der jungen Frau gesehen, heute Abend, in der U-Bahn? Sie waren zerschunden, rotfleckig, zerkratzt, schorfig, wund. Und sie erzählte, lachte, strich nur ab und an darüber.

Und auf der durchgehenden Sitzbank im selben Waggon, da schlief einer, lang ausgestreckt über vier Plätze. Im Anzug. Mit Turnschuhen an den Füßen, die waren voller Schlamm.

Die Augen, die man Himmel nennt

Das schöne Wort Versandkatalog. Was ist nicht alles am Versanden! Und ich lasse ja alles Mögliche versanden, Küsse, Umarmungen, Gedichte, Lieder und tausende Grüße. Und alles geht an die Sandadressen. Versandet!

Es muss auch weniger gute Tage geben! Nur so kannst du überhaupt erkennen, wie schön die Welt ist, zumal wenn du liebst und geliebt wirst, von wem immer. Wobei … ist zu lieben vielleicht stärker als geliebt zu werden? Probier’s aus! „Aimer est plus fort que d’être aimé“ singen Christine and the Queens.

Vom U-Bahnsteig herauf kommt durch den Rolltreppentunnel eine dunkle Taube geflogen – wie selbstverständlich. Sie ist das einzig Wirkliche in der funktionalisierten Unterwelt und weiß davon nichts. (Stephansplatz, 22.5.)

„Du musst dich umstellen!“ – „Ich bin keine Uhr.“

„Der eiskalte Himmel.“ – „The ice-cold heaven.“ – „Die Augen, die man Himmel nennt?“ – „Ja. The eyes called heaven.“

„De heven“ – plattdeutsch für den Himmel, an dem die Wolken fluten. Und der Himmel, der uns erwartet (wie uns gesagt wird: wo der uns erwartet, der uns endlich liebt) – ist er auf Platt auch „de hemmel“?

Das Schattenwort

Eine Viertelstunde lang in der Lärmröhre. Die lauernde Angst im Schatten. Ich hielt die Augen geschlossen und dachte an Liebes, an weiche Haut, ans Gehen durch sommerliche Felder. Kernspintomografie. Ein Wort für unsere Welt, Nullwort, das Angst einflößen soll und es tut. Ich versuchte, eine Art Techno-Beat in dem Lärm zu hören, ganz vergeblich. Ich stellte mir Foltermethoden vor. Ich dachte an Gedichte, weil nichts mich mehr tröstet. Ich wurde mehr und mehr nur mehr Körper. Dann, als ich fast resignierte und deshalb nah am Losbrüllen war, herausgezogen wie aus dem für mich bestimmten elektronischen Ofen. (Speersort, 18.5.)

Trost? Du.

Das Schattenwort wuchs.

Mit jeder Amsel auf einer Baumspitze kannst du dich unterhalten – so du den Sinn dafür hast, Lust und Zeit und etwas Amselgeduld.

Der ganze Klatsch und Tratsch – über die vermeintlichen Konkurrenten, Rivalen, die Frauen, die, statt dich, andere begehren und in ihr Bett lassen – wozu? Um deiner Angst wenigstens Gesichter zu geben, wo du ihr schon keinen Namen geben kannst? Sehr schade. Um dich, lieber Freund.

Das Schattenwort wuchs.

Brot und Lauch!

Nach einer so schweren Unterzuckerung wie seit Jahren nicht liegst du da in der kühlen Sonne auf dem Bett und schlummerst. Dein Körper – wer ist er? – gibt dir noch immer unmissverständlich zu verstehen – zu begreifen –, wann es genug ist und du ruhen musst. So wird es sein. Und nicht mehr aufhören …

Das Schattenwort wuchs.