Ein selektives Gedächtnis

„ … Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön, / Liebend unterzugehen, / In die Fluten der Zeit sich wirft.“ Hölderlin, „Heidelberg“

„Nee, nee, nee!“ – ewiger Gesang derer in den nördlichen Regengebieten. (Zurück bei di, old Hamborch, 7.10.)

„Ich denke, ich habe ein selektives Gedächtnis“, sagt das Kind.

Erstaunlich, wie viele Leute in der Zwischenzeit so einfach in der Gegend herumstehen, an Kreuzungen, an denen der nichtsnutzige Verkehr vorüberbrandet, an Waldstücken, in denen nur die Bäume noch wachsen, in den Flughafenterminals, wo die Sicherheit ihr Reich hat und gegen die Verunsicherung verteidigt, vor den Schulen, wo wir alle einmal wussten, was wir nicht wollten. Da stehen sie und sehen in die Weltgeschichte hinein. „Hallo.“ – „Hallo.“ — „Hallo?“ — „Hallo!“

Wie doch jedes Buch, das neu erscheint – von dir, von einem anderen geschrieben – immer und für immer die Spuren des Manuskripts, das es einmal sehr lange war, und Erinnerungen daran trägt. Ich lese meine in diesen Tagen erschienene Übersetzung von Stevensons „Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde“ und finde darin allenthalben meinen Alltag von vor anderthalb Jahren.

Mittagsschlaf

Zeit war es, dass es Zeit war?
Nie war’s Zeit gewesen, nie
würde es Zeit werden. Es war
die Zeit der Spinne, der Schlange.
Sie waren Mauereidechsensekunden,
diese Minuten des Hundertfüßlers, und
wurden endlich zur Heuschreckenstunde,
zu den Zikadentagen. Im Jahr der Agave
lehnten wir schlafend in der Macchia
an einem entzweigegangenen Boot.

Stari Grad

Im Hafenbecken spüren die Fische, dass der Sommertrubel vorbei ist. Die Münder aus dem grünen Wasser gereckt, schnappen sie in große Gruppen zusammengedrängt zwischen den Booten nach Luft – immer in unsere Richtung. Oder wollen sie uns etwas verraten, uns warnen? (Stari Grad, 1.10.)

Im Museum des Dominikanerordens von Stari Grad eine Reisegruppe us-amerikanischer Senioren, allesamt auf Krücken oder am Stock. Als sie hinausgehumpelt sind, bin ich allein mit Tintorettos Pietà, gehe hinein in das Gemälde und empfinde die ganze Ergriffenheit und Rührung.

Der letzte Geruch jedes Landes: Kerosin.

Die Flugbegleiterin geht durch die Sitzreihen und singt: „Abfall! Abfall! Noch jemand Abfall? Dankesehr! Abfall! Abfall …“

Der Erste Geruch jedes Landes, jeder Stadt: Kerosin.

„Jetzt waren wir wenigstens etwas: wenigstens unglücklich.“ Peter Handke, „Die Abwesenheit“

Hvar

Die Kinder spielen vor dem zugesperrten, klinkenlosen Kirchenportal. Die Katzen schlafen im Park des Dichtersommerhauses, in dem verrostete weiße Gartenstühle stehen für eine Lesung vor Gespenstern. Auf den Steinstufen vor den leeren Altstadtboutiquen sitzen die Verkäuferinnen mit den Glitzerfingernägeln und lachen, weil niemand kommt. Der Wind bläst durch die Gassen seine drei Namen: „Die Bora!“, „Die Bura!“, „Der Boreas!“ Die Sprachen werden durch die Gassen getragen. (Hvar, 29.9.)

„Die Abwesenheit“ als eine von Peter Handkes zentralen Aussagen, eine Art heimliche Poetologie, ein „anschauliches Heim“: „Das Wahrnehmen blieb nie bloß äußerlich, sondern war jedesmal zugleich ein Innewerden, womit sich die Dinge als Farben, Formen und gegenseitige Beziehungen unvergeßbar in uns einschrieben und uns stärkten; die Sachen für sich, ohne dabei einen Gedanken ans Sammeln aufkommen zu lassen, erschienen uns als ein Wert: angesichts ihrer war es, als würden wir von etwas genesen. Wir waren voller Lust, sie zu umgreifen, zu betasten, zu messen und zu überliefern; verdiente nicht selbst ein unscheinbarer Grashalm bemerkt und wenigstens mit einem kleinen Ausruf weitergegeben zu werden? An unserem Entdeckertag war von ihm eine Neuigkeit abzulesen, welche uns, zusammen mit den ergänzenden anderen, jede nur denkbare Zeitung ersetzte.“ Und kurz darauf: „… an diesem Tag geschah mit dem Gehen und Immer-weiter-Gehen zugleich auch ein beständiges, unablässiges Ankommen.“

Hier haben die Todesanzeigen alle noch Gesichter: Hier sterben die Leute noch nicht einfach weg. Hier werden sie noch festgehalten, fest gehalten. Hier nimmt man den Tod noch nicht einfach hin.

Dub

Dub? Dahin geht es
bergan, bergauf, bergan,
so kommst du nach Dub.
Nur was anfangen da?
Da endet bloß alles.
Dort gibt es ja nichts,
es ist alles aus in Dub,
Dub ist selber nichts.
Es ist nicht Žrnovo.
Es ist auch nicht Brno.
Dub war noch nie Dubrovnik.
Wer nach Dub kommt, fragt sich:
Das hier also soll Dub sein,
dieses durchsichtige
dubiose Dunkel?
Duplizier Dub,
und du bekommst
nichts, du kriegst
nur Dub. Aber gut, los,
geh nach Dub! Dub wird dir
zeigen, wie es ist: Dub!
Dub ist, wie du bist.
Also bist du Dub?
Du musst Dub sein.

Im Gras zu unseren Füßen

Die alten Frauen ganz in Schwarz, langsam wie die Hundertfüßler die Hauswände herabsteigen, gehen sie durch die engen Wohnstraßen. Sind sie denn wirklich alle in Trauer? Ja. Sie scheinen um das Leben zu trauern, das verstrichen ist, um die Kraft, die sie noch, aber bald schon nicht mehr haben, sie wissen, auf ihren Schultern ruht die Welt, und es ist ihnen egal, ob sie sich irren.

Schwalbe müsste man sein.

Am Notausgang schläft eine Nonne.

„Unten im Gras zu unseren Füßen ein fortwährendes Grünen, im Himmel zu unseren Köpfen ein pulsendes Blauen, und dazwischen, in Augenhöhe, das immer neu ansetzende Durch-die-Ebene-Ziehen und Die-Hänge-Emporsteigen der Wälder, die einzelnen Bäume, auch sie taten, wie in Betrieb, laternenhaft, in langen Reihen einer dem andern vorangehend, die Zweige sich tatkräftig kurvend – was war, ereignete sich, mit dem Takt des Schreibwerkzeugs, wieder und wieder, und wurde in einem fort, was es war.“ Peter Handke, „Die Abwesenheit“

Ein dunkelgrüner Streifen, ein gestreiftes Band läuft durchs türkise Wasser des Hafens – ein Zug sehr schmaler und ruhiger Hornhechte schwimmt dort vor deinen Augen in die besonnten Bereiche.

Die Moreška

Spätabends im gelben Laternenlicht vor der Hafenkirche proben junge Frauen und Männer aus dem Dorf ein mittelalterliches Ritterspiel mit Schwertkampf und pavanenartigem Tanz, die Moreška. Zeitlose Schönheit. Seltsam schwingende Tanzbewegungen, die den Kampf auflösen. Jede Regung ist Geschichte, Erzählung Symbol. T-Shirt, Jogginghosen und Turnschuhe tun dem keinen Abbruch, im Gegenteil, im Gegenteil. Im Reigen stampfen alle Jungs nacheinander ein Mal kräftig auf, und das Mädchen, dem der Junge den Arm hebt, dreht sich daraufhin. Und auf den gekreuzten zwölf Schwertern stehend wird der Dudelsackpfeifer in die Nachtluft gehoben – dem Musiker gebührt die höchste Ehre, er steht über allen Waffen. (Vela Luka, 26.9.)

Vela Luka

In den hohen Oliventerrassen,
wo Lavendel wächst, Fenchel, Majoran,
wenn du zwischen den Steinzäunen hindurch
dort in den Mittag wanderst, achte
auf den hornissengroßen Vogel
oder Fastvogel, Schwärmer,
sein Schwirren
von Blüte zu Blume,
Blume zu Blüte. Im Flug
taucht sein Schnabel in alles
bunte Offene, in jeden Lichtmund,
und es gibt für ihn keine Sonne, keine,
die zu schwach wäre. Lass Falter gaukeln!
Schwarze Raupe steigt vom Dach
des Trafostanicahäuschens
ins leuchtende Gras,
wartet auf nichts,
erwartet nichts,
geht und ergeht sich
mit einem Schwarm Luft
trinkender Fische als Beine. So
solltest du vielleicht auch gehen? Ja.
Komm und bleib eine Weile, bevor du
unten am Hafen verschwindest,
wo die Lastwagenfähre
lautlos die Bucht zerteilt und
im Schatten die Kräutergärten schlafen.