Bilanz nach fünfzig Sommern

Der Pott, der einläuft und nur kurz
den Horizont zum Schaukeln brachte,
er spült das Geröll aus Heraklits Fluss,
toten Plunder ans Ufer: eine Matratze,
auf der Zwei schliefen und am Morgen
sich liebten, um weiterzuschlafen; die
Knochen einer Möwe, so leicht, dass
der Wind sie wegträgt. Putain, sagt
der Wind, putain, vachement! Wir
werden alles wiedersehen, denn
nichts geht je wirklich verloren, ja
könnte überhaupt je verlorengehen.
Und flüchten wir zu Schattenkabinetten,
in die Pulsflaute, zur allerletzten Adresse,
die sie nicht mehr ändern, nur löschen, es
bleibt ein Versuch, dieses Löschen, das
Tilgen und Verschwinden, denn alles
bleibt, auch das Ausradieren; aber
genauso bleibt stets das Bleiben.

Versuch über den missglückten Tag

Das Jahr der Verletzungen, es neigt sich dem Ende zu, und so verblasst sie, Karikatur eines geregelten Lebens.

Sturz zurück durch die Zeit: Über Nacht ist es noch einmal Januar geworden, Bamberg im Schneetreiben. Am Fenster stehend lese ich, in Rufweite zu Hegel. (17.4.)

Die Türken haben die Demokratie abgewählt. Es lebe die Restauration! Zu den Akten Atatürk, den Schlächter an den Pontus-Griechen. Nach 94 Jahren ist auch die Idee vom laizistischen Staat als Brückenkopf zwischen Orient und Okzident erledigt, die Weltoffenheit, die Vielfalt, das vermeintlich genauere Hinschauen – einplaniert im Retro-Kalifat eines gekränkten Popanzes am Bosporus. Weg mit ihm. Tür auf, Türkei!

„Ich habe von dem geglückten Tag keine einzelne Vorstellung, keine einzige. Es gibt allein die Idee (…), sie sträubt sich gegen meine Sehnsucht des Erzählens. Sie stellt mir kein Bild zur Ausflucht vor. Und trotzdem war sie leibhaftig, leibhaftiger als je ein Bild oder eine Vorstellung, alle die zerstreuten Sinne des Körpers durch sie zusammengefaßt zu Energie. Idee hieß: Es gab kein Bild, nur Licht. Ja, jene Idee war keine Rückbesinnung auf etwa gut verbrachte Kindheitstage, sondern leuchtete ausschließlich voraus in die Zukunft. Und ist so, wenn erzählbar, dann in der Zukunftsform, als Zukunftserzählung, zum Beispiel: ,An dem geglückten Tag wird es noch einmal Tag werden mitten am Tag. Es wird mir einen Ruck geben, einen zweifachen: über mich hinaus, und in mich, ganz, hinein. Zum Schluß des geglückten Tags werde ich die Stirn haben, zu sagen, ich hätte einmal gelebt, wie sich’s gehört – mit einer Stirn, die das Gegenstück sein wird zu meinem angeborenen Schild.‘“ Peter Handke

Warum ähneln einander alle deine Schuhe? Egal, ob Stiefel, Halbschuhe, Turnschuhe, was auch immer – sie sehen alle nach deinen Füßen aus. Erklär mir das einer. Wer soll mir das erklären können? Willst du wirklich, dass einer daherkommt und dir das erklären zu können meint?

„Zwei Güter sind für uns so kostbar wie Wasser oder Licht für die Bäume: Abgeschiedenheit und Austausch.“ Christian Bobin

Schulz in Catania

Man besah sich mit spitzem Augenwinkel den Dom.
Frauenquote auch ziemlich unermesslich.
Jede Autostrada führte aufs Meer,
und von da nach Rom.
Im Spiegel der Ätna, eine Katze, er.
Man weinte um die Wette mit Möwen. Unvergesslich.

Es ist eine Handschrift

Eine neue S-Bahnbrücke wird gebaut, indem man sie auf die alte setzt und, derart aufgesattelt, zusammenschweißt. Sobald die neue fertig ist, wird die alte Brücke abgesenkt, wodurch die neue an ihren Platz rückt. Ebenso hast du gewichtige Umarbeitungen in den Romanen vorgenommen, fiel mir ein, als ich die Brücke auf der Brücke am Morgen sah. (Berliner Tor, 7.4.)

Nachts im Dunkeln vorm Haus umarmen sich Zwei, sehr lang, sehr innig, sehr jung. Sie lachen zusammen.

Sehr bewegt von den Figuren und Farben Richard Gerstls, dessen Gemälde ich in der Frankfurter Schirn sah. Nie zuvor gehört von ihm hatte ich! Seltsam: Wie deutlich und eindringlich sind noch die spätesten Bilder des viel zu jung Verzweifelten. Sie scheinen sich beinahe aufzulösen, doch fügen sich in der Weite erneut zusammen.

Die Bamberger Zeit beginnt. Fahrt in den Frühling! Alles – alle Dinge – sind grün. Wer es nicht glaubt, ist blind vom Winter seines Grottenolmdaseins. Die verwunschene Saale. In Jena stehen die Leute in ihrem Alltag herum wie nicht abgeholt. Wer soll euch auch abholen! Nehmt die Beine in die Hände und lauft. Lasst euch nicht abholen, Leute. Immer weiter werden das Land, die Felder und Wälder – hier hätte ich wandern mögen vor 200 Jahren – und bin glücklich allein bei dem Gedanken. Es ist eine Handschrift. Es gibt noch Menschen. Der Erste, den ich in Bamberg frage, wie weit es ist in die Altstadt, sagt: „Kommt drauf an, wie lange Sie stehenbleiben.“ (11.4.)

Denn hier ging Wollschläger.

Bilder: Richard Gerstl, „Die Schwestern Fey“, 1905, und „Selbstbildnis, lachend“, 1907

Nichts, und dennoch, mit Blicken

Durch den warmen Frühlingsabend eilen die Sportler, auf dem Rücken Taschen voller Stiefel, Uniformen, Helme, Schläger, Waffen. Die Amseln halten singend die Welt zusammen. Die Frauen in den Bussen haben täglich ein Kleidungsstück weniger an. Die Busfahrer träumen von den Zigaretten, früher, auf dem sich erwärmenden Asphalt des alten, zuschanden gefahrenen ZOBs, als sie am Bus lehnten und nach Feierabend noch Sport trieben oder vom Bolzplatzrand aus wenigstens noch zusahen.

Die Bücher, die du geliebt hast, lies wieder, das erhält dir die Liebe und zeigt dir ihre Geschichte (die Geschichte der Liebe) in dir. Joseph Roth schreibt zwischen 1928 und 1930 in dem erst in seinem Nachlass entdeckten Romanfragment „Perlefter“ über das Entstehen des Unwirklichkeitsgefühls in einem Mann, der davon keinen Schimmer hat: „So genoß Perlefter eigentlich weniger seine Erlebnisse als die Ernnerungen an seine Erlebnisse. Während er sie wiederkäute, erzählte, den wehmütigen Glanz um sie wob, den man aus den Erinnerungen schöpft und mit dem man sie umkleidet, wurde er erst zum kühnen Abenteurer, Fraueneroberer und Herzensbrecher. Sobald er heimgekehrt war, entzückten ihn sein Mut und seine Taten. Während er unterwegs nach seinem Taschenkalender eroberte, hörte er sich schon von den Eroberungen erzählen, erlebte er schon seine Erinnerungen, und eigentlich nur der Erinnerungen wegen beging er Abenteuer. Er glich einem Menschen, der für sein Tagebuch lebt. Perlefter aber führte kein Tagebuch.“

Noch einmal – hier zu Armut und Liebe – Joseph Roth in seinem „Perlefter“, mit dem er aus Kafkas Schatten tritt und ihn weit hinter sich lässt: „Weshalb sollte er auch nicht die Annehmlichkeiten des Lebens genießen? Er war sehr lange arm gewesen, und die Armut, die so viele Nachteile hat, entschädigt ihre Lieblinge durch einen Ernst, den sie ihnen verleiht, auch wenn sie ihn nicht verdienen. Es sehen manche Menschen nur deshalb bedeutend aus, weil sie arm sind, und man ist geneigt, einem Hungerleider ein Genie zuzubilligen, das in Wirklichkeit nur Elend ist. Die große Ungerechtigkeit der Weltordnung verleitet uns dazu, den Armen auch noch Werte beizumessen, obwohl Armut allein schon Anlaß wäre, den von ihr Befallenen zu lieben.“

Zwei Frauen Ende dreißig – in Barmbek heißt das etwas Anderes als in der Innenstadt – treffen sich nach Jahren wieder im Bus. Sie erzählen von den größer gewordenen Kindern, den Schulen der Kinder, den Berufen der Männer, der Gesundheit der Männer und der Kinder. Von sich erzählen sie einander nichts, und dennoch, mit Blicken, der Mimik, der unverhohlenen Abfälligkeit in den Zügen, alles. (7.4.)