Mistral

Auf dem Friedhof wässern die Kinder die Steine, die aber nicht zum Leben erwachen. Sie wollen nicht wachsen. (8.8. Pour Annie.)

Baden im See bei Gewitter, mit Wasserschlangen? Ja.

An der Pont de la reine Jeanne, einer alten, von Stahlklammern gestützten Brücke über den Vanson: Steine, Koniferen, Wasserläufer. Wanderer klappen Wandererklapptische auf, bestens vorbereitet mit Gurkensalat, Baguette und Kompass. Die Sterne werden noch über den Trümmern funkeln, und im Vanson der Schlamm wartet wie der Schlamm vor Jahrmillionen.

Mistral. Der kühle Wind vertreibt die abgestandene Hitze. Plötzlich Herbst. Rasseln der Platanen. Ein Wind aus Licht, sobald die Wolken vertrieben sind. Die Leute lächeln. Die Leute leben mit dem Mistral. Unsichtbare Uhr auf der Haut. (Manosque, 10.8.)

Ausgelöscht wie überall ist auch die Landschaft der Provence und des Luberon entlang der Küstenstraßen oder bedeutenderen Landwege, bis sie münden in die sogenannten Gewerbegebiete, die in Wirklichkeit Zerstörungsgebiete sind, wo die heillose Vernichtung jeder Form von Lebendigkeit gerechtfertigt wird mit dem billigsten Grossistenangebot aus Ramsch, Nutzlosem und chinesischer Plastikmassenware. Fahr drei Minuten lang landeinwärts, und das Land öffnet sich, da sind Felder, Wälder, da fliegen Vögel und gehen Leute umher, ohne müde zu sein von ihrer sie zermürbenden Verzweiflung.

Ein Absatz, in dem sich beinahe so etwas wie die Essenz des profunden Lebenschronisten John Cheever verbirgt: „Who, after all, is that man who puts a dime in the lock of the public toilet and in its privacy drinks from a flask of vodka? It is I. When? Last month, last year, six years ago. I seem to have changed more than the airport.“ In der Schwabinger Uni-Buchhandung für englischsprachige Bücher entdeckte ich kürzlich ein Kompendium, das unter Cheevers Namen den Titel „Drinking“ führt. Darin wird Cheever reduziert auf den großen Erzähler, der ein Säufer vor dem Herrn gewesen sei. Das aber ist genau das, wogegen er sich ein Säuferleben lang wehrte – bis er schließlich mit weit über sechzig zu den Anonymen Alkoholikern ging und der Trunksucht den Hahn abdrehte. Schreiben und Trinken sind für Cheever verwandt, ja Ausdruck von ein und demselben. Schreiben ist das Offene, das keiner Kategorisierung bedarf. Bloß Literatur ist Schublade, Literatur und Literaturkritik kommen ohne Kategorien nicht aus. Aber was hätte Schreiben mit Literatur zu tun? Es existiert keine Zeile Cheevers, in der er theoretisiert. Das Trinken ist ihm lebensnotwendig als Rätsel. Und die Furiosität seiner Poesie zeigt sich in einem Satz wie „Ich scheine mich mehr verändert zu haben als der Flughafen.“

Ankommen

Im Wartezimmer der Hautärztin die Übersetzung von James Weldon Johnsons „The Creation“ abgeschlossen. „Und so weit das Auge Gottes reichte, / Bedeckte alles Dunkelheit, / Schwärzer als hundert Mitternächte / Tief in einem Zypressensumpf.“ – „Der Nächste bitte.“ (31.7.)

Jeanne Moreau ist gestorben. Meine Welt verschwindet täglich mehr.

„Wahr sind nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen“, sagt Adorno richtig, deshalb sind ja alle Gedanken wahr. Und falsch. Denn Wahrheit gibt es gerade deshalb nicht, nicht unter den Menschen.

Die Kinder gönnen einander nicht den Schimmer auf dem Schuh.

Ankommen im Süden: ankommen im Licht. (Volx, Luberon, 6.8.)

Wer bist du in einem Haus, das du seit elf Jahren aus Erzählungen kennst, von dem dir erzählt wurde, als würde das Haus selber erzählen? Du bist hier, unglaublich. Du bist hier ein Unglaublicher. Ein Anderer.

Das verrostete Gerüst ohne Schaukel, ein Mahnmal.

Wie die Schatten auch die Ausgezehrtheit der Dinge, der Gegenstände wiedergeben.

Behutsam den großen Terrassenfeigenbaum zurückgeschnitten, der den Ausblick auf die Dorfkirche versperrt. Sein weiches Holz, seine duftenden Früchte. Eidechsen und Wespen leben in der Krone. In seinem Schatten ist der Tisch gedeckt. Er wurzelt unter dem Haus. Der Großvater deiner Liebsten hat den Baum gepflanzt, in dem er den Eimer mit dem rasch in die Höhe strebenden Setzling immer tiefer pflanzte, bis der Boden im Erdgeschoss in Reichweite rückte. Ankommen in der Erde.

Avenidas

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un admirador

Eugen Gomringer

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ein bewunderer

1953 / 2017

Aus den nördlichen Regengebieten

Dürer auf Durchreise
stieg in Bamberg immer
in seinem Lieblingskrug
Zum Wilden Mann ab, dann
eilte er sofort, rannte
mit wehenden Locken,
in denen der Wind
knisterte, hinaus an
die Regnitz, seinen Herz-
fluss, um am Ufer zu zeichnen.
Zeichnen die Pferde, die
über die Felder zogen
zwischen Nürnbergs
Waldungen, am Himmel
die Schwärme der Stare,
der Schwalben, der Krähen
und der Tauben. Zeichnen
im grünen Wasser den Fisch,
der dastand, still, zwischen
den lang behaarten Steinen
am Grund der Schilfbänke.
Die Köche zeichnen, jungen
Mägde, die Alten wie Geister
in den Augärten Kleinvenedigs.
Kleine schwarze Rose, gestochen
mit Tinte auf den Handteller, sein
Bamberger Blümla. Zeichnen Julie
und zeichnen Juliens Busch.
Den Hasen. Den Hohlweg.
Tout s’était passé
d’une manière révoltante,
sagte auf der Unteren Brücke
ein Franzose, und Dürer war heftiger
Widerspruch peinlich. Die Zeichen
im Zeichenbuch wuchsen. Wolken-
vielfältig Bambergs Abende.
Am nächsten Mittag der kalte
Regen von Franken, die Weinberge,
Würzburg, wozu immer weiter, weiter,
weiter in die nördlichen Regengebiete.
Das Licht war ein Puls, langsam,
beständig langsamer, beinahe
glaubte man, es hört auf.