Archiv für den Monat Dezember 2017
Wulin
Von den binnen Wochen erbauten Wolken-
kratzern hängt das Grün aus dem Himmel
in die Straßen hinunter. Alte mit einem Eisberg
aus Styropor fahren vorbei, und in den Augen
der Kinder liegt die Tiefe der konfuzianischen
Zeit. Kummer ist eine Art schwerer Zweifel.
Eine Reklame, groß wie eine Schule, bunter als
die Nacht unter Vögeln: Betrink dich im Bezirk
Wulin! Spür den Wind dort! Die schlaflose Stadt
ist das Paradies! Im selbstfahrenden Bus nach
Wulin. Der eingeschlafene Fahrer, dem ich den
Anorak über die schlotternden Beine breite.
Kanalbaumuseum, Schiffbaumuseum, Vögel-
museum, Scherenmuseum, Messermuseum,
Wundenmuseum, Schießpulvermuseum, Katzen-
museum, Tannenbaummuseum, Regenschirm-
museum, Regentropfenmuseum, Tränenmuseum.
Komm nach Wulin! Bleib in Wulin! Für immer!
Selbstporträt als Raumsonde
Reste von Licht
Nach 37 Jahren wurden heute die stillstehenden Triebwerke der in die Weite des Alls hineinfliegenden Raumsonde Voyager 1 erstmals wieder gezündet. 1980. Ich war 15. Zwei Wochen zuvor hatte ich meinem Vater ins Gesicht gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Im Jahr darauf verließ der Tyrann mein Leben und überließ mich den Scherben meines Gemüts. Ich fing an zu schreiben. Ich fing an zu lieben. Ich fing an zu rauchen. Die 37 Jahre alte Software an Bord der Voyager soll tadellos funktioniert haben. Die Dunkelheit, die Stille, in die man hineinfliegt. So ist die Zeit. So bin ich. So bist du. (4.12.2017)
Eine neue Steuernummer. Im Brief des Finanzamts wird mir auch die Bezeichnung meines Betriebs mitgeteilt: Selbst. Journal. Pressefot. Richtig muss sie lauten: Selbst. Gras. Irrt.
Morgen in Kiel. Mit dem Blick auf die Förde aufgewacht, und da kam tatsächlich gerade der große Dampfer des Lichts hereingefahren.
„Fern, fern geht die Weltgeschichte vor sich, die Weltgeschichte deiner Seele.“ Franz Kafka
Und noch mal Kafka: „Nichts davon, quer durch die Worte kommen Reste von Licht.“
Manche, ja viele Erwachsene, Männer und Frauen, schaukeln, rollen, wackeln dahin wie kleine Kinder, die erst vor vielleicht Wochen oder wenigen Monaten laufen gelernt haben. Manche, nein viele Kinder gehen, schreiten dagegen vermeintlichen Erwachsenen ähnlich, hoch erhoben, den Rücken durchgedrückt, gravitätisch, Kraniche, Mischlinge aus Kran und Ich. Alle sind wir immer Kinder. Bleiben es immer. Tun alles, damit es unbemerkt bleibt, und scheitern darin minütlich. (8.12.)
Jede Nacht die Sterne
Jede Nacht zwischen halb
vier und halb fünf wachte er
auf und trat ans Fenster, und
stets war er da auch draußen
unterwegs auf der Straße,
als Hund vielleicht,
oder
er schwankte als welkende
Stockrose an einem Zaun durch
das Dunkel. Er lag im Bett. Er
schlief und war zugleich
unterwegs unter
Bäumen.
Lange stand
er im Zimmer am Fenster,
war ruhelos und lief so müde
wie unermüdlich, ob in seiner Stadt
oder einer anderen, zugleich
durch das schlaflose
Hereinbranden,
das Herein-
branden und -branden des Lichts
der Sterne. Das Sternenlicht.
Jede Nacht die Sterne.
Die gestohlenen Stunden
„Gestohlene Stunden“, sagt ein junger Maler (Handwerker) zu einem älteren in der U-Bahn. „Sie vergessen, dir deine Stunden aufzuschreiben, manchmal absichtlich.“ Die Poesie zieht sich zurück in die Gespräche der sogenannten einfachen Leute. Gespräche finden in sogenannten Intelektuellenkreisen gar nicht mehr statt. Schriftstellerunterhaltung heißt: Unmittelbarer Austausch Fehlanzeige. Wie das Telefonieren verlorengeht nach dem Briefeschrieben, indem wir einander (eigentlich aber uns selbst) Sprachnachrichten schicken (vorsprechen), geht der innige Austausch kaputt und verliert sich. „Gestern bin ich wieder allein rauchen gewesen“, sagt der junge Maler. „Ich stand an der Hecke. Kennst du ja.“ – „Allein, an der Hecke?“, fragt der ältere nach. Er schüttelt den Kopf. „Ja. War ein guter Moment. Aber mich ärgern die gestohlenen Stunden.“ (Berlin-Zehlendorf, 24.11.)
Der überall sein Rad mit hinnimmt – er hat Angst, nicht schnell genug wegkommen zu können. Er hat Angst vor dem Feuer, dem Lebensfeuer.
Auf dem Bahnsteig kommt dir der frühere Großstadtbürgermeister entgegen – an dessen Frau du gerade dachtest. Er wirkt wie ein weißer, alter, ein welker Schatten. So wie sie auf dem Podium, das greise Mädchen, die Erfolgsdichterin.
Reiß dir alle Wimpern aus. Wünsch dir, was zu wünschen ist. Es ändert nichts, es ändert nichts. Nur deine Augen werden frieren.
Auf der Straße zwischen den Mietblöcken streiten sich lautstark – und schubsen und rempeln einander – ein Paketkurier und ein Mieter, beide auf Arabisch.
Im Laden an der Ecke, erster Frostmorgen. Ein alter Herr, offenbar Witwer, erzählt mir vom Winter ’46, zwischen den „stockwerkhohen Trümmerhügeln“. (Eppendorf, 2.12.)
Traum, ich wäre ein wilder Hund und lebe in den Hügeln über einer Metropole. Wie der Lärm am frühen Morgen in die Bäume heraufzieht, gefolgt vom Qualm des Smog. Gestalte deinen Tag. Nie vergessen, welche Freiheit diese Freiheit bedeutet.
Foto: Alec Soth, „Dog Days Bogotá“, 2007
Grüne Kräne
Fenster auf Dunkles, die Stadt dort,
weihnachtlich beleuchtete Kräne – Zimmer
mit Ausblick aufs Jenseits. Im Park sieben
Stockwerke tiefer liegt der alte Stutt-
garter Friedhof, aber du fliegst da
nicht hinunter, gehst noch nicht
durch die Luft, und pfeift auch noch
so lockend ein tödlicher Adventwind. Du bist
noch ganz von der Welt umgeben. Die Kräne schwenken
grün durchs Dunkel, sie sind Wolkenkuckucke, sie
kokettieren wie Lilith mit dem Teufel. Last-
brennnesseln, die du fassen zu können
glaubst, indem man sie beherzt
packt, ohne Furcht.
Anmerkungen zur Ungerechtigkeit
Jonquillen kamen verhältnismäßig früh in die Gartenkultur, lese ich. Als Gartenflüchtling ist die Jonquille verwildert und bildet in Südfrankreich, Italien und Dalmatien – wer kann ihr das verdenken – wilde Populationen. Jonquillen, eine südeuropäische Narzissenart. Helmut Scheffel übersetzt ein schönes Wort in Claude Simons Roman „Die Schlacht bei Pharsalos“ so: „… jonquillengelb färbt sich der Dunst des Himmels.“
Welches Befremden in dem morgendlichen U-Bahnwagen, als das Mädchen am Fenster (vor dem Licht steht) lauthals singt. Ja, welches, welches Befremden, deines, unser, euer? Bist du überhaupt imstande, überhaupt befugt, so etwas zu mutmaßen? Vertrau(st) du deinem Gespür (?)! (Barmbek, 6.11.)
Ausgebootet. Die Hawkins-Bande meutert und übernimmt deinen Segler. Sie setzen dich in die alte Schaluppe. Und jetzt, was tun? Rudere ihr nach, solange du kannst, bleib ansprechbar, bleib in Rufweite. Viva, Hispaniola!
Erstes weißes Licht. There he goes again. Wilder Winter. Wieder Winter. Widerwinter.
Zwei Krebsleiden muss jede Liebe überleben: Ironie und Antizipieren.
Der Dichter, der mit seiner Familie auf dem Land wohnt und in der Stadt ein kleines Pflegedienstunternehmen leitet, das er selbst gegründet hat und von dem sie alle leben, er ist am Abend, bevor er wie üblich den Zug nahm, in dem er für gewöhnlich weiterschreibt an einem Gedicht, in seinem Büro überfallen und verletzt worden, sodass er operiert werden muss. Was sagt das aus, sagt es etwas aus über die Ungerechtigkeit? Oder die Barmherzigkeit? Gar nichts? Was würde dann überhaupt etwas aussagen? (Barmbek, 16.11.)
„,Mit jemand wie dir ist kein Staat zu machen.’ – ,Das will ich auch hoffen.’“ Peter Handke
„Das Erinnerungsvermögen des Eises“, sagt der Glaziologe. (Innsbruck, 20.11.)
Wenn ein jeder dir ungerecht gegen dich erscheint, zieh in Erwägung, dass dein Gerechtigkeitssinn dich trügt. Immerhin gut möglich, dass in Wahrheit du es bist, der gegen dich ungerecht ist. (Nein.) (Doch.) (Nein!) (Doch.)
Portrait ohne Cheever
Im Sargzimmer
Nur erfolglose Vertreter und mittel-
mäßige Autoren bringt man so unter,
zumindest in Berlin. Die Hauptstadt?
Nicht deine. Deine Hauptstadt ist eine
unsichtbare, umso hörbarere dafür. Dort
rauschen die Bäume, braust der Regen,
sind die Tiere freie Bürger, ist verkappter
Selbsthass unbekannt. Im Sargzimmer
der deutschen Hauptstadt weißt du es
wieder, du bist nicht besser als jeder
ausrangierte Güterwaggon, abgestellt
an einem Feldrand an der polnischen
Grenze oder tief in Belgien irgendwo.
Niemandszüge rattern vorüber, und
einer wird kommen, dich anzukoppeln,
wart’s nur ab, zwei, drei Jahre noch, und
Schluss! Du horchst. Von Wand zu Wand
sind es anderthalb Meter. Träum schön.
Unterwegs unter den Bäumen
Berlin, im Sargzimmer. Nur erfolglose Vertreter und mediokre Autoren werden so untergebracht, zumindest in Berlin. Hauptstadt? Nicht die meine. Meine Hauptstadt ist eine unsichtbare, umso hörbarere dafür. Dort rauschen die Bäume, braust der Regen, sind die Tiere freie Bürger, ist der verkappte Selbsthass unbekannt. In dem Sargzimmer der deutschen Hauptstadt weißt du, dass du nicht besser bist als ein ausrangierter Güterwaggon, abgestellt an einem grauen Feldrand an der polnischen Grenze oder tief in Belgien irgendwo. Niemandszüge rattern vorüber, und einer wird kommen, dich anzukoppeln, in zwei, drei Jahren. Horch! Du lauschst. Von Wand zu Wand sind es anderthalb Meter. (Charlottenburg, 19.10.)
„Jedes Tagebuch“, sagt das Kind, „besteht aus Briefen, die unbeantwortet bleiben.“
Bitte achten Sie darauf, dass sich auf Ihrer Kleidung keine Schmetterlinge befinden.
„Wirr sind das Volk! Wir sinnt das Volk!“
Das Problem des Fränkischen ist das Fränkische. Eine außerfränkische Welt scheint es von Franken aus betrachtet lediglich in Form von etwaig zu beliefernden Betrieben zu geben. Mirr sinn mirr. Über die außerhalb Frankens bestimmt irgendwo liegende Außenwelt wird das fränkische, das frängische Schweigen gebreitet. (Nürremberg, 25.10.)
Jede Nacht zwischen halb vier und halb fünf wachte er auf und trat ans Fenster, und stets war er da auch dort draußen auf der Straße unterwegs, als Hund vielleicht, oder er schwankte als welkende Stockrose an einem Zaun durch das Dunkel. Er lag im Bett. Er schlief und war zugleich unterwegs unter den Bäumen. Er stand im Zimmer am Fenster, war ruhelos und lief so müde wie unermüdlich zugleich durch die Straßen, ob in seiner Stadt oder einer anderen.