Landgang, der siebte

Am Abend kommt bei Südwestwind ein gelblicher Nebel über die Grasweiten der Seefelder Wesermarsch – Qualm von einem Moorbrand bei Meppen im Emsland. Dort hat die glorreiche Bundeswehr in Zusammenarbeit mit der verdienstvollen Luftwaffe Raketen auf das Meppener Moor abgefeuert, das seither, seit gut zwei Wochen, unterirdisch brennt und vor sich hinschwelt. Während zweihundert Kilometer weiter südwärts der Hambacher Forst dem Braunkohleabbau zum Opfer fallen, ein ganzer Wald weggebaggert werden soll, wogegen junge Leute sich verwahren, – ja, sich! – und demonstrieren, in Baumhäusern verschanzt und angekettet an Bäume, die verschwinden sollen, längst verschwunden wären, gäbe es solches Aufbegehren nicht. Vor diesem Hintergrund wirken die Raketen auf das Meppener Moor fast wie eine Rache-Aktion, eine Vergeltung gegenüber den Hambacher Buchen. Die Bäume wären längst verschwunden, hätten sie nur für eine Stunde die Gelegenheit und die Beine.

Verschwunden ist auch die alte Brücke über die Jade im gleichnamigen Ort. Die Trinitatiskirche steht noch da und wacht über die Friedhofsruhe, aus der sie aufragt, schwarzgrün mit blauem Schimmer rieselt fast lautlos das Jadeflüsschen vorbei, es gibt ein Betonbrücklein mit einem Handlauf, aber die Brücke auf dem Bild in meiner Hand finde ich nirgends, und die Leute aus Jade kennen sie zwar, erkennen sie auch wieder – „Jo, das is’ man de alde Jadebrück“ –, können oder wollen mir aber nicht sagen, wo ich sie finde, ihre Brücke wohin, woher auch immer.

Der Blaufärber von Jever, sein Gesicht und seine Hände waren das einzig Helle in einem durch und durch und ganz und gar blauen Raum. Auch er ist verschwunden, nicht nur im Indigo, das ihn umgab, in den weißen Mustern, die seine Handwerkskunst auf die blaugefärbten Stoffe übertragen hat. Sein Beruf ist so gut wie verschwunden. Verschluckt, wie von der Zeit. Hier endet die Kraft der Metaphorik. Die Zeit wird blau. Die Vergangenheit ist von tiefem Blau.

Abbildungen: 1: Seefelder Grasland mit Blick gen Osten zum Jadebusen; 2: Die Seefelder Mühle; 3: Grabstein auf dem Friedhof von Jade; 4: Die Jade bei Jade

Seefeld

Seefeld, nicht weil hier ein Meer
und Feld sich treffen, Himmel und
das Gras. Nein die See ist hier Feld,
und Feld ist See, ja der Grashimmel
mit der Mühle in der Mitte der Weite.
Oben die Windrose kennt alle Namen
der Windrichtungen, Nord, Süd, Ost und
West und Nordnordost und Nordsüdwest,
Südsüdwest, Westnordost, es sind so viele,
viele auch namenlos dunkle, dass die Mühle
von Feldseefeld mitunter, ja geht sie rückwärts
und sich zurückdreht immer, schneller, immer
rascher, bis ins Gras rauschen alle Stunden,
ins Gras rasch die Stunden fliegen und
ertrinkt in den Salzwiesen das Pech.
Nach Staubjahrhunderten duftet
die Mühle. Und immer räumt
jeder Wind ein Zimmer.
Und immer träumt
der Wind Zimmer.

Zu Haus in meinem Bild

Immer wollte ich
mit den Schatten reden,
 sie aber, diese Spiegel in der Nacht, sagten
nichts, raunten bloß wie ich und
zuckten herum im Dunkeln.

Unter den Espen
die Schatten, und über den
 Schatten die Zweige, dazwischen, vielleicht
im Licht, war ich, und zu Haus in
meinem Bild ein Funkeln.

Landgang, der sechste

Maria von Jever, Edo Wiemkens Tochter und Thronerbin, gilt bis heute als wohltätige Herrscherin. Allen Abbildungen und Darstellungen ihrer Person sieht man die Liebe der Leute an, die weichen Züge, der offene Blick, die schmale Gestalt, das Hütchen mit dem Federbüschelchen daran, fast gouvernanten- oder Mary-Poppins-haft wirkt jenes Fräulein Maria, das Jever und dem Jeverländischen eine eigene Identität verlieh und sie so behutsam wie bestimmt absetzte vom Friesischen. Maria von Jever íst als historische, als zeitlose Gestalt auch deshalb so faszinierend, weil sie ja nicht gestorben sein soll. Glaubt man den Leuten, so lebt Maria noch immer. Sie verschwand, heißt es, in einem Gang unter dem Schlosspark und ward nie wieder gesehen. Jeden Abend schlägt deshalb das Glockenspiel am Schlosspark, dessen Klänge die in der Zeit, in der Geschichte Verschollene zurückgeleiten sollen. Allerdings stellt sich die Frage, wohin Maria denn verschwand – nach Oldenburg? nach Bremen? Wer verschwindet schon nach Bremen! Die wir lieben, verschwinden nur scheinbar. Sie beweisen jeder für sich auf unterschiedliche Weise, wie bedeutungslos die Erfindung des Todes ist. Maria von Jevers Lieblingshund macht dies auf besondere Weise deutlich: Der Windhund, den das Denkmal am Schlossplatz neben der Herrscherin zeigt, schmiegt den Kopf an Marias Hüfte, und sie hält die Hand zärtlich über dem Scheitel des offenbar klugen, ohne Zweifel geliebten Tiers.

Überall in Jever präsent ist das weltbekannte Brauhauserzeugnis. Die ganze Stadt mutet grün-golden an vor lauter Reklame – was verspricht sich der Konzern davon?

Überall in Jever scheint der Stadtrand durch die Häuserreihen, ja die Häuser. Jenseits davon ist es grün, das Land ringsum, Jever, das Jeverland. Und wenn die Sonne scheint, ist es grün-golden.

Die Chorfrauen verabschieden sich voneinander – und singen noch ihre „Tschü-üss“- und „Ja-a“- und „Bis nächsten Mi-itwoch“-Melodien.

Peter Gabriel singt zu Marias Verschwinden am Ende seines Songs „Wallflower“ auf seinem vierten, noch einmal unbetitelten Album von 1982:

„though you may disappear
You‘ re not forgotten here
And I will say to you
I will do what I can do“

Beim Blaudrucker in Jevers Altstadtgasse Kattrepel, einem der letzten noch praktizierenden Handwerker seiner Zunft, sind lauter Seniorinnen und Senioren zu Gast, die die Werkstatt mit den vielfältig blau gefärbten und bedruckten Tüchern, Hemden, Jacken, Mützen und Kissen in einen indigoblauen Taubenschlag verwandeln. Der Blaudrucker beantwortet gelassen und profund jede Frage und kassiert dabei sogar eigenhändig. Die Preise sind stolz, der Mann und sein Beruf aber sind es auch. Ich habe den Eindruck, in einem blauen Raumschiff aus dem sechzehnten Jahrhundert zu stehen, und bewundere vor allem die Schnitte, die Muster, die Darstellungen aus der Tiefe der Zeit, darunter den „harnakischen Tanz“, der verborgen in der blauen Pracht sogar das erotische Flirten seiner Zeit abbildet und anhand seiner so kräftigen Bläue vorstellbar werden lässt. Das Blau wirkt sich sonderbar stimulierend aus, man beginnt tief zu glauben, zu staunen und ahnen. Ein Gedicht von Christian Saalberg kommt mir in der Stunde im Blaudruckerhaus von Jever in den Sinn, „Man sagt“ heißt es, und die letzte Strophe lautet so:

„Der September verbrennt die alten Tage.
Aus den Trümmern klaube ich mir vom Himmel
    das letzte Blau.
Schminke für die Augen, wenn es graut.“

Abbildungen – 1: „Maria von Jever“, Gemälde Caspar Heinrich Sonnekes (1821 – 1899), Stadtmuseum Oldenburg; 2: Indigoblau bedruckte Wandbespannung aus der Blaudruckerei Im Kattrepel, Arbeit von Blaudrucker Georg Stark; 3: Erläuterungstafel zur Wandbespannung in der Blaudruckerei

New Year’s Day

England in 1819

An old, mad, blind, despised, and dying king, –
Princes, the dregs of their dull race, who flow
Through public scorn, — mud from a muddy spring, —
Rulers who neither see, nor feel, nor know,
But leech-like to their fainting country cling,
Till they drop, blind in blood, without a blow, —
A people starved and stabbed in the untilled field, —
An army, which liberticide and prey
Makes as a two-edged sword to all who wield
Golden and sanguine laws which tempt and slay;
Religion Christless, Godless — a book sealed;
A Senate, — Time’s worst statute unrepealed, —
Are graves, from which a glorious Phantom may
Burst, to illumine our tempestous day.

Percy Bysshe Shelley