Landgang, der vierzehnte

In der Mitte der Weite – die Weite ist hier das fast überall flache, immer flachere Oldenburger Land. Oldenburg aber, die alte Burg, Ollnborch ist die Mitte, das Zentrum, und man spürt das, sobald man in die Stadt kommt: Diese Stadt hat nicht nur ein Umland, sie hat ein Land.

Mit Oldenburg verbinde ich auch einen berühmten niederländischen Lyriker. In Glimmen bei Groningen lebte bis zu seinem Tod 2012 Rutger Hendrik van den Hoofdakker, der sich als Dichter Rutger Kopland nannte. Er war in seinem bürgerlichen Leben Psychiater und Schlafforscher, und er schrieb Gedichte mit einem ganz unverwechselbar ruhigen, sonoren Ton. Über seine holländische Heimatregion schrieb Kopland:

Sie haben mir erzählt, wer ich war
und wo sie mich gefunden hatten
das bist du, sagten sie, hier bist du.

Meine Herkunft ist zu rätselhaft
um sie zu beschreiben, zu selbstverständlich
für mehr Erklärungen als diese:
Ich bin, weil ich da bin.

Ich lese im Buch der Psalmen
und erinnere mich, wie schön Twente ist.

„Dank sei den Dingen“, eine Auswahl aus Rutger Koplands Gedichten, übersetzte ich gemeinsam mit meinem Dichterfreund Hendrik Rost. Dessen Frau ist Oldenburgerin, und als wir 2007 nach Glimmen fuhren, um ein Wochenende lang mit Rutger Kopland über unsere Übersetzungen zu diskutieren, machten wir Station in Oldenburg, gingen spazieren an der Hunte und sprachen über Koplands so eindringliche wie zurückhaltende Form von Gläubigkeit. Rutger Kopland sprach mit uns Englisch, bis seiner Frau am Mittagstisch einmal der Kragen platzte und sie zu ihrem Mann sagte: „Ruudi, jetzt sprich in Herrgotts Namen doch endlich Deutsch mit den Beiden!“
Oldenburg ist für mich seither auf sonderbare, auf poetische Weise mit Rutger Koplands Dichtung verbunden, ganz so, als stünde in dem Gedicht: „Ich lese im Buch der Psalmen / und erinnere mich, wie schön Oldenburg ist.“

Mittagsgottesdienst in der Oldenburger St. Lambertikirche, einer österlich weißen Rotunde unter ihrer erstaunlichen Kuppel. Ich lausche den lakonisch-freundlichen Worten des Pastors und bewundere immer wieder das ins Kirchenschiff, ins Kirchenrund herabhängende große violette Lichtkreuz. Neun Zuhörerinnen und Zuhörer. Der Pastor kann uns allen in die Augen blicken. Und wir ihm. In der Lambertikirche scheint der Glaube ein Licht zu sein.

Träfe zu, was der Autor des Erfolgsromans „Konzert ohne Dichter“ Klaus Modick einmal von sich behauptet hat – nicht ohne Selbstironie –, nämlich dass er in Oldenburg offenbar Goethe sei, wer, frage ich mich, wäre dann wohl nicht neben ihm, sondern tief unter ihm Lenz, wer wäre Kleist und wer Hölderlin? Wer wären alle die von dem selbstgefälligen Weimaraner Hofrat aus dem Weg gebissenen Karrierekontrahenten?
Ein Goethe zu sein, und sei es auch ein Goethe von Oldenburg, kann so verstanden niemand wollen. Klaus Modicks Roman „Konzert ohne Dichter“ hätte ich gern als einen lebendigen Roman über Heinrich Vogeler, Rainer Maria Rilke, Clara Westhoff und Paula Modersohn-Becker gelesen – würde darin die Geschichte des Worpsweder „Barkenhoff“ nicht auf Kosten Rilkes erzählt werden, dessen Dichtung und Lebensäthestik Modick unverständlich geblieben zu sein scheinen und den er zur Zielscheibe seines Spottes macht.

Früher stand in der Innenstadt das Geburtshaus des Philosophen, Psychologen und Pädagogen Johann Friedrich Herbart, eines Zeitgenossen Goethes. In den späten 1950er-Jahren hatte es der ersten Oldenburger Einkaufspassage zu weichen, und übrig blieb allein Herbarts Name, denn die Passage heißt bis heute Herbartgang. Klaus Modick beklagt in einem Aufsatz über seine Stadt zahlreiche architektonische „Maßnahmen“, ja schreibt von einem „städtebaulichen Massaker“. Den Namen „Herbartgang“ hält er für eine „zynische Verlustanzeige“.
Wer sich die Zeit nimmt und ohne Dünkel, aber mit wachem Blick durch den Herbartgang geht, entdeckt ein faszinierend vielfältiges Ensemble, dessen künstlerische Gestaltung auf Georg Schmidt-Westerstede zurückgeht, der zwischen 1962 und 1978 hier Glasmosaiken, Wandreliefs, Türgriffe und viele andere Elemente nutzte, um Herbarts pädagogischen Vorstellungen schöpferisch-kritisch zu begegnen.
Schmidt-Westerstedes Mosaiken leben von den satten Farben des Oldenburger Landes, dem tiefen Blau der See, dem Dunkelgrün der Felder und Wälder, dem Türkis des Himmels über der Weser. Der engstirnigen Lehrerbezogenheit des Herbartianismus hält Schmidt-Westerstede das offene Sehen entgegen: Pferde, Schiffe, Häuser, Felder, Kräne, Mühlen, Schafe, Deiche, Wellen, Kähne. Und überall Weite, Bewegung, die Bewegtheit der Weite.

Immer wieder laufe ich vorbei am Schlossgarten und über die Mühlenhunte Richtung Südosten zur Cäcilienbrücke. Die Hubbrücke führt über die Hunte, die hier begradigt ist, künstlich wirkt. Die vier geziegelten Treppentürme erinnern an eine Ruine, und tatsächlich soll die Brücke ja wie ihre Vorgängerbauten in der Geschichte abgerissen und ersetzt werden durch ein nützlicheres, dem Verkehrsstrom gewachsenes Bauwerk.
Seit Jahren schon wird das Gemäuer nicht mehr ausgebessert, der Hebemechanismus nur notdürftig instandgehalten. 2020 dürfte „das hässliche Ding“, „das Trumm“, „der Rappelapparat“, von dem der Antiquar am Schlosswall sagt, er lasse nichts durch, sondern halte alles auf, verschwunden sein.
Die Cäcilienbrücke trägt demnach ihr Verschwinden in sich, während sie noch dasteht, die Leute darauf noch immer von einem zum anderen Ufer gelangen, die Brücke sich hebt und Schiffe passieren lässt. Sie nimmt ihr Verschwinden vorweg, fast so, als wäre es der Brücke gelungen, selber Schiff zu werden und durch sich selbst hindurchzufahren, zu verschwinden aus dem eigenen Bild, auf der Hunte davonzufahren in die Bildlosigkeit.

Abbildungen: Georg Schmidt-Westerstede, „Sehenswürdigkeiten der Stadt Oldenburg“, Öl auf Holz 1972 (1); Ludger Hinse, „Lichtkreuz“, St. Lamberti-Kirche (2); Georg Schmidt-Westerstede, Glasmosaik im Herbartgang, Oldenburg (Detail) (3); Alexander Kleinloh, „Cäcilienbrücke“, Aquarell, 1998 (4); Georg Schmidt-Westerstede, „Cäcilienbrücke“, Tuschzeichnung 1949 (5)

Eine fürchterlich breite Brust

Die Rosenstöcke klopfen an die Fenster. Ende September. Sie wollen herein, aber ich lasse sie nicht.

Das Kind schreibt, in einer selbstentwickelten Zeitschrift: Kunst ist das Einzigartige, das es überall gibt.

Auf die Frage, was oder wo „Heimat“ für ihn sei, antwortet Richard Ford ohne zu zögern: „For me, ,heimat‘ is, where Kristina is.“

Die Bücher im Regal, in den Regalen – dein Leben. Nicht weniger, nicht mehr.

Der Alte sucht unter den Parkbänken vorm Einwohnermeldeamt nach Kippen.

Blumengeschäft. Neben dem Bindetisch flimmert ein Computerbildschirm, darauf ist eine Tabelle voller Ziffern zu sehen und die große Überschrift VERNICHTUNG.

Erster schwerer Herbstregen. Das Laub in den Straßen schwimmt davon. Die Vögel fliehen.

Charles Aznavour ist gestorben. Jeden Tag, seit ich Simenons „Fantômes du chapelier“ übersetze, habe ich an ihn als „Kachoudas“ gedacht. Seltsame Koinzidenz … wo der Film 1982 gedreht wurde, in Quimper und Concarneau in der Bretagne, dort war ich wenige Monate später, ohne jedoch davon zu wissen, überhaupt ohne zu wissen von Georges Simenon, Charles Aznavour oder Michel Serrault. Dennoch binden mich einige sehr konzise Erinnerungen an die Orte und die Zeit. Sie ist für mich nicht vergangen. (1.12.)

Jesu / Sun Kil Moon

Die Freunde haben jetzt alle eine fürchterlich breite Brust. Nur einer winselt und wimmert leise weiter vor sich hin von Kummer, Zweifeln und Enttäuschung, und der bin ich. (Eppendorf, 5.10.)

Eine ganz frappierende Verwandtschaft besteht zwischen Hesses Maler- und Vater-Roman „Roßhalde“ von 1913 und Hemingways posthum 1971 erschienenen Roman „Islands in the Stream“. Die Verwandtschaft ist rein seelischer Natur, drückt sich aber gerade deshalb im Poetischen aus, so in der verblüffend ähnlich lautenden Beschreibung von Fischen und Vögeln.

„Ich würde gern in die Sternengastronomie …“

Was hat dich schon immer so hineingezogen in einen Heckenweg?

Landgang, der dreizehnte

Auch der Cloppenburger Stadtpark war einmal ein Schlosspark. Doch ebenso wie Burg Delmenhorst ist die Cloppenburg vom Erdboden verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. 1716 brannte sie ab, nur der Burgturm blieb für fast 90 Jahre noch stehen, dann aber sprengten die Cloppenburger auch ihn in die Luft und erbauten dort, wo ein halbes Jahrtausend lang die Burg unter den Bäumen gestanden hatte, ihr neues Amtshaus. 1805. In Jena starb gerade Friedrich Schiller. Auch der verschwand und kam nicht mehr zurück. War Schiller je in Cloppenburg?

Dabei steht der Name Cloppenburg im ganzen Land für das Bewahren kaum zu bewahrender Zusammenhänge. Mit meiner mich bewahrenden Frau und den Kindern besuche ich das Museumsdorf, und alle sind wir überwältigt davon, wie spürbar mit einem Mal die Vergangenheit ist. In der Stein für Stein und Balken für Balken andernorts abgetragenen und in Cloppenburg wiedererrichteten Kappenwindmühle – die Mühle hat Flügel und hat eine Kappe, unterhalb derer sie rotieren – riecht es noch immer nach dem hunderte Jahre lang gemahlenen Getreide. In den Stütz- und Tragbalken der oberen Stockwerke entdecken wir eingeritzte Zeichen, Ziffern, Initialen, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Im Heuerhaus in der Nachbarschaft die winzigen Räume zum Essen, zum Schlafen in Alkoven, die die Körperwärme speicherten. Zwei Familien lebten in dem Häuschen zu ebener Erde, wie Zwillingsfamilien, symmetrisch angeordnete Modell- oder Ameisen- oder Roboterfamilien. Wie muss das gewesen sein? Die Kinder fragen nach den Kindern, die in den Häusern gelebt haben werden, den Kindern des Dorfes, das ein zusammengesetztes ist – so wie jedes Museum ein Baukasten. Verschwundene Kinder. Nur hat es sie wirklich gegeben, wir sehen ja die Einritzungen in den Tragbalken der Mühle, in den Pulten der Schule.

Eine absurde Ansammlung metallener Rieseninsekten, die Hässlichkeit des Nutzes, die unnütze Grimasse der Mühsal – Traktoren, Mähdrescher, Dreschmaschinen, Lokomobile und anderes Fuhrwerkzeug von vor hundert Jahren und länger her. Überhaupt erscheint ja in jedem Museum, das sich den Lebensweisen von früher widmet, jedes Gerät skurril, lachhaft, grotesk und absurd. Es mag zu etwas gut gewesen sein – dem Pflügen eines gartengroßen Feldes in nur drei Tagen, dem Quirlen eines Breis aus Getreide, dessen Name keiner mehr kennt, dem Fliegen mit einem papierbespannten Apparat, der dich dreißig Meter weit trägt oder umbringt. Versuchsanordnungen, die nur noch komisch, seltsam oder wie geträumt anmuten, die aber alle immer wieder zeigen, wie vergänglich alles ist: Nützt nichts – es ist vorbei.