Bussard über dem Einwohnermeldeamt

Vor dem Fenster sehe ich den verschneiten Sportplatz. Dort ging ich, unterwegs mit meiner Schulklasse, vor 39 Jahren, verpflichtet, durch die zerstörten Wälder des Harzes zu wandern. Der Schneefall erleichtert die Erinnerung an das zurückliegende, zugleich zurückbleibende Haus der Jugendherberge, die Tannen, die jetzt weiß bereift sind und drei Meter hoch, gab es noch nicht, und auch mich gab es nur ansatzweise – auf der einen Seite. Andererseits hatte ich gerade 1979 oder 1980 im Harz begonnen, die Augen zu öffnen. Es gab erste ernste Freundinnen und Freunde, und die Eltern verloren endlich ihre oft grausame Macht. Da ist der Schnee dieses Lebens. Er wirbelt hin. Ein einziges weiches Treiben. Es ist gut, zurückzukehren. Dort drüben, an dem Zaun vor der Straße nach Altenau, sprach ich seinerzeit kurz mit einem Mädchen mit Down-Syndrom, einer Mongoloiden, wie man da hilfesuchend noch sagte. Sie habe, verriet sie mir, am 23. September Geburtstag (warum sprachen wir darüber? Weil mein eigener Geburtstag in Kürze bevorstand und ich dem fremden Mädchen in meiner Euphorie davon erzählte? Oder begann sie unvermittelt von dem ihren zu reden?) – und seither, ich habe es schon des Öfteren geschrieben, denke ich an jedem 23. September an diese unvergessliche Begegnung mit dem Mädchen in der roten Jacke, eine Begegnung, die für mich auf rätselhafte Weise so blieb, wie eine jede es sein sollte. (Torfhaus, 27.1.19)

„Es müsste eine Stunde voller Lösungen geben, den wogenden Rausch einer lebendigen Welt.“ Teofilo Cid

In Elend im Harz begann der an schweren Fußerfrierungen leidende Wolfgang Borchert im März 1943, Prosa zu schreiben. Nach dem Seuchenlazarett Smolensk im Reservelazarett Elend. „Man wird tierisch. / Das macht die eisenhaltige / Luft. Aber das faltige / Herz fühlt manchmal noch lyrisch …“

U2 – The unforgettable fire

„Du bist ein guter Mann“, sagt der Gleisarbeiter zu dem Imbissverkäufer, der antwortet: „Natürlich bin ich ein guter Mann, so wie du! Wo arbeitest du gerade?“ So kommen die beiden Männer ins Gespräch. So kämst vielleicht auch du ins Gespräch mit dem Anglistikprofessor oder dem Literaturhausprogrammleiter, wäre das möglich: „Du bist ein guter Mann …“ (München, 30.1.)

Rodeln im Regen.

Wieder in Bamberg. Das Vertraute wird wieder zur Fremde. So muss es sein. Ich gehe an der Regnitz spazieren. Ich denke an die Freunde, die mich besuchten, als ich hier ein halbes Jahr lang lebte. Nachts trug ich den kalten Weißwein in gestohlenen Gläsern durch die gepflasterten Gassen heim. Im Glockengebälk der Bamberger Morgenluft wachte ich auf. Gewitter kamen über die Hügel gerauscht, furienartig erinnerten sie an meine Mutter in ihrem grünen Morgenmantel. Mit dem dichtenden Publikumsliebling besuche ich den Vogelsaal. Er macht sich Notizen für neue Gedichte über begeisternde Absonderlichkeiten, z. B. die vierbeinige Ente. Ich finde mich selbst als Strauß im Glasschrank.

Slogan: „Tausend Kraniche in deinem Warenkorb!“

Am frühen Morgen kreist seelenruhig – ja, seelenvoll ein Bussard über dem Einwohnermeldeamt. Während die Singvögel im Viertel Alarm schlagen, aber alle nur Musik hören. (Eppendorf, 14.2.)

Suite et fin.

Die dottergelbe Ruine der Tankstelle

„Ich muss froh sein“, sagt das Kind lachend, „und ich muss alle Leute froh machen. Das ist Welt messen.“ – „Welt messen?“ – „Ja! Nicht Fett, sondern Welt messen.“ – „Sehr interessant! Wie kommst du darauf?“ – „Gelesen.“ Das Kind zeigt einen Prospekt: FITNESS UND WELLNESS. Fett messen und Welt messen. „Da! Siehst du? Du musst froh sein!“ – „Ja! Ich bin froh!“

Alter Herr mit Rollator tippelt vorbei, auf seinem Umhängebeutel der Aufdruck: KIND.COM (Barmbek, 18.1.)

Die dottergelbe Ruine der Tankstelle (der Tanke) neben dem Stadtteilbahnhof ist abgerissen worden (weg, nur mehr Erinnerung, meine, bin jetzt Tankstellenbesitzer). Darauf gesprüht stand (steht): BURN, SUN, BURN.

Auch Wochen nach dem Tod ihrer engen Freundin spricht die alte Frau in der Gegenwartsform von ihr: „Sie ist krank. Sie lebt mit Mann und Katze in Bayern. Ihre Kinder alle im Ausland. Zur Beerdigung erwarten wir Schnee.“

Zur Lesung aus dem neuen Gedichtband kommen zwei zahlende Zuhörer. Die einführenden Worte des Veranstalters sind von ausgesuchter Herzlichkeit, und die Lesung bereitet dir besondere Freude. Die Frankfurter Allgemeine, für die du 17 Jahre lang Bücher besprochen hast, kündigt dich an als Bremer Hörspielautor. (Frankfurt, Ostend, 23.1.)

Bis zum Rand voller Tränen. Keinen des Kummers. Seltsamere Tränen. Uralte. Wie fremde. Immer schon unverstandene.

Sale. Cut. Sing.

SALE, das französische „schmutzig“, hängt jetzt wieder überall in den Schaufenstern und den Läden.

„Ich schwitze wie die Sonne!“, ruft das Kind.

Jeder schreibt das Drehbuch seines Lebens und Alltags selbst, aber nur den wenigsten steht die Möglichkeit offen – um im Bild zu bleiben –, auch Regie zu führen, Produzent zu sein und Cutter. Cut. (28.12.)

Destroyer – Kaputt

Seit Mitte der Neunzigerjahre brauche ich die Restbestände an Heftklammern aus dem Konkurs gegangenen Kolonialwarenladen meiner Großmutter auf, Woche für Woche, Jahr für Jahr seit zweieinhalb Jahrzehnten. Und ich habe noch genug Klammern übrig, um im Jenseits, in dem Haus dort am Flussufer, in dem ich eine Wohnung mit Balkonen über die Auen und die Felder voller Vögel haben werde, alle meine viertausend in meinem zum Glück nichtsnutzigen Leben geschriebenen Gedichte zusammenheften zu können zu einem weiteren lachhaften Buch, das endlich keiner lesen muss. (31.12.2018)

„Sing – und geh deinen Weg.“ Marc Aurel

„Mein Leben ist eine einzige Hetzjagd“, sagt die Frau gehetzt in ihr Handy und dreht sich zwei, drei Mal im Kreis, in der Sonne vor dem morgendlichen U-Bahnhof.

Sun Kil Moon – The ghosts of the great highway

Vertrau jedem, der ein Buch in der Gesäßtasche hat (nur Buchhalter und Besserwisser haben ein Notizbuch in der Brusttasche).

Fitness to hell.

The Whitest Boy Alive – Rules

Slogan: „Der Booster für Ihre neue Jugendlichkeit!“

Die Frau in der U-Bahn liest „Piensa positivo“ und isst dabei laut krachend eine Mohrrübe. Ihre Hand ist beringt, und ich vis–à-vis lese in „Das Weite suchen“ von Christian Saalberg: „Ich weiß, daß es die Freude gibt, sie hat sich nur versteckt. Die Pappeln, der Wiesenrain, das Domänental. Überall höre ich es rascheln. Alles übrige vergeht, ist namenlose Röte, beständiges Gestirn, ist das andere: trauriger Wind, während das Laub in Schwärmen flieht (Lorca).“

Lehre des Scheiterns

Noch einen kurzen Blick geworfen auf Château d’If. (Marseille, 14.12.)

Chevaucher, chevaucher, chevaucher!

Kafka irrt – wie so oft (der Irrtum ist sein Ziel) –, wenn er behauptet, ein Buch müsse (es muss gar nichts) die Axt sein (ein Buch ist aus Papier, aus Gedanken) gegen das gefrorene Meer in uns (in wem? Uns? Wer ist damit gemeint? Und gäbe es ein uns, gäbe es dann noch ein Inneres? Im Innern – wo ist das? – ist nichts gefroren – es wäre sonst tot – und liegt auch kein Meer – kein Meer liegt irgendwo innen –, ganz zu schweigen davon, dass ein Meer nicht einfrieren kann, nicht ganz, nur stellenweise, buchtweise). Nichts könnte eine solche Axt einem solchen (rein metaphorischen) Meer anhaben. Die Antarktiker seiner-, nein ihrerzeit gingen mit Eissägen vor gegen das in Sekundenschnelle zufrierende Wasser im Packeis, zwischen den Schollen im Weddellmeer. Axt? Ein Buch sollte (nein, nicht mal das) vielmehr Begleiter sein, Säge, Schiff, Boot, Schlitten oder Schlittenhund auf dem – wenn schon, denn schon – zugefrorenen Meer der Wirklichkeit.

Sonderbar – auf ganz besondere Weise – gepackt und innig bewegt von Hemingways „Inseln im Strom“, der gedehnten Zeit, der Langsamkeit der Handlung, die eine Nicht-Handlung ist, vielmehr die sprachliche Decke über einer furchtbaren, einer furchtbar effektiven Verdrängung. Der endlos tiefe Kummer des modernen Mannes. Der Irrsinn des Verlorenen. Die Lehre seines Scheiterns.

Im Zug liest ein älterer Mann Jörg Steiner – Grund genug, ihm deinen Platz zu überlassen.

Zwanzig Jahre lang hingen an der Wand hinter deinem Arzt die Kalender von dessen Kindern – den beiden blonden Jungs, beim Spielen, auf Reisen, auf dem Rücken von Tieren, mit der Mutter, ihm, dem Vater, deinem Arzt. Jetzt aber sind die Wände leer – denn die beiden Jungen sind erwachsen geworden, sie studieren, erzählt dein Arzt, in Budapest, in den USA … studieren Medizin. „Sie haben es schwer, Menschen zu bleiben.“ Dir fehlen nicht die Menschen. Oder doch? Dir fehlen die beiden Jungen auf den zwanzig Kalendern.

„Das Allerbesonderste an Schmetterlingen“, sagt das Kind, „das ist, dass sie sterben und wieder leben können. Sie schlafen einfach.“