Prêt-à-mourir

Kein Lied

Wohin du unterwegs warst,
unbekannt. Ich kenne
deinen Tagesbefehl
nicht, nur den Tag,
kein Lied, das
du sangst,
vielleicht
aus vollem Hals,
heller Heiterkeit. Ich weiß
von keinem Schimmer Licht,
in dem du lagst, froh. War da
ein Duft? Stiller Augenblick so.
Licht. Ferne Geräusche, fremd.
Hat dich jemand geliebt? Wer
war das? Ehe die Geschosse
kamen, und immer näher,
bevor es die Granate
zerriss, die Stille
zersplitterte
und du
mit.

Vor dem Regen her eile ich die Straße entlang. Ich eile die Straße entlang, und hinter mir her kommt der Regen, und er ruft. (Barmbek, 4.9.)

Ein junger Nachbar scheint sich einen Laubbläser zulegt zu haben. Er manövriert mit dem Gerät vor dem Haus und bläst jedes feindliche Blatt einzeln davon.

Auf der Straße heult ein Kind wie der Wind.

„Un jour il y a autre chose que le jour.“ Boris Vian

Eine Handvoll Notizen an einem Sommerabend mit Liedern nach Gedichten von Apollinaire:
„Dass du mich liebst, macht mich mir wert.“
„Prêt-à-mourir.“
„Amourir.“
„Zénith – jardin sans limite.“

Im Orchideenpalast der Aal, der wie eine Zunge im Mund durch das Aquarium züngelt – bis du entdeckst, da sind zwei Aale, zwei Zungen.

Du bist kein Kind mehr, zum Glück, leider, und bist doch noch immer, im Innern Kind. Das innere Kind. Kind-Hyde. Willst geliebt werden (endlich) wie ein Kind (bestenfalls) und lieben wie ein Kind (wie jedes Kind liebt).

Ganagobie

Wir müssen den Blaudisteln folgen.
Falls Blaudisteln ihr richtiger Name ist.
Immer die sonnenverbrannte Mauer lang.
In das Wäldchen hinein dann. Von dort
ist der Blick ins Tal ein Traum. Nein,
kein Traum. Wirklich, ein Tal-
see ohne einen See.

Hier pfiff mal der Wind
meinen Namen. Hier lagen sie,
meine Eltern, als sie noch studierten,
Licht, die Pinien, die Linien. Hier bin ich
bei dir. Hier können wir zusammen
hinuntersehen auf den Sommer,
hören Zikaden, ihre Rhapsodie.

Hier diese Rillen in den Steinen,
meine Mutter erzählte, hier
fuhr ein Klostereselgespann. Hier
schoss mein Vater Fotos von Bussarden,
meinem ausflippenden Bruder, mir als ich schlief.

Alles erzählte sie mir von dem wundersamen Ort.
Wäldchen, Vogelbrunnen, Blick in die Weite.
Und alles fand ich wieder in Ganagobie.
Falls das sein richtiger Name ist.

Mit freiem Atem

„Und du mein Herz weswegen schlägst du // Wie ein schwermutsvoller Wächter / beobachte ich die Nacht und den Tod“ Apollinaire

Hochsommernektarinen!

Die Wespen und Hornissen bleiben aus, sobald es kaum mehr reife Feigen gibt – weil der Baum zwei Sommer lang braucht, um die letztjährige Stutzung zu verwinden (Verwinden? Ja.) – das heißt? Dass sie anderswo nach dem süßen Fruchtfleisch jagen. Oder dass sie warten. (Volx, 21.8.)

Gasflaschenspuren – auf der Rampe der Supermarkttankstelle Hunderte unterschiedlicher Einkerbungen im Beton. Alle erzählen oder wollen erzählen, sobald du bereit bist, sie zu lesen, von unwiederbringlichen Augenblicken, so verschieden wie identisch. (Manosque, 23.8.)

Das Gewitter rauscht heran mit krachendem Gedonner. Die Blitze haben Siebenmeilenstiefel, und ich höre den Regen herabrasseln, hunderte Meter, ehe er die Terrasse unter Wasser setzt.

Im Nationalpark der Toten ist Sommerpause.

The Cure – The top
Talk Talk – Laughing stock

Komm immer wieder – freiwillig, d. h. mit freiem Atem – zurück zu den Büchern, die dir ein eigenes Leben ermöglicht haben. So kommst du auch immer wieder zu dir selbst zurück, kehrst heim in deine Wirklichkeit, liest in der Geschichte deines Wirklichgewordenseins. (1.9.19)

Eines der Bücher: Peter Handkes Journal „Die Geschichte des Bleistifts“ von 1982, als du 17 warst. Darin heißt es – es? das Leben? das Denken? das Fühlen? die Vergangenheit? das Wesen? –: „Für mich bin ich ja oft alles. Aber vor anderen muß ich darüber hinwegtäuschen, daß ich nichts bin.“

Mark Hollis, der Sänger von Talk Talk, über Musik und über das Schweigen, die Stille: „The silence is above everything, and I would rather hear one note than I would two, and I would rather hear silence than I would one note.“