Zerlegung des Zerberus

Entsorgen wollen sie mich, meine Lieben,
wie ihre Mutter unseren Hund – nein, das
weiß nur noch ich. Ein gelber Collie-Mix,
der so treu war, dass er mir des Öfteren
zu weinen schien. Jetzt verstehe ich ihn.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Natürlich, seinen Vater soll man zerstören.
Meiner, der schlug einmal meinem Hund
fluchend mit der flachen Hand aufs Maul,
weswegen ich nie wieder ein Wort mit ihm
sprach. Er ist tot, und ich gebe nicht nach.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Innigkeit fällt uns nicht zu, sie hat triftige
Gründe, aber einen Anspruch auf Liebe
niemand. Doch ist jeder ihrer wert, jeder
Hund, der treu war, nicht bissig, nur nicht
beliebt. Gut, wenn es ihn nicht mehr gibt.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Aus den Übersetzungen

Samuel Beckett

was tät ich ohne diese welt ohne gesicht und ohne fragen
wo zu sein nur einen augenblick währt jeder augenblick
verströmt ins leere ins vergessen gewesen zu sein
ohne diese welle wo am ende
körper und schatten einander verschlingen
was tät ich ohne dieses schweigen schlund des murmelns
der rasend um hilfe keucht um liebe
ohne diesen himmel der sich erhebt
über dem staub seines ballasts

was täte ich ich tät wie gestern auch wie heute auch
blickte durch meine luke ob ich nicht allein bin
beim irren und beim kreisen fern von allem leben
in einem hampelmannraum
ohne stimme unter den stimmen
eingesperrt mit mir

(„que ferais-je sans ce monde“; aus: „Six poèmes“ (1947–1949))
*
Aus: Samuel Beckett, „Sechs Gedichte / Six poèmes“
Aus dem Französischen von Mirko Bonné
In: „Halbe Sachen“ Wolfenbütteler Übersetzergespräche IV–VI
Wolfenbütteler Akademietexte 24, Wolfenbüttel 2006

Traumamatura

Auf dem Gelände des abgerissenen Krankenhauses, in dem ich zur Welt kam, entsteht ein Neubau – Luxusappartements mit Seeblick –, und das Schwimmbad, in dem ich schwimmen lernte, war jahrelang Ruine, ehe es ebenfalls verschwand. Tegernsee, Bad Tölz. Am Mauerwerk einer heutigen Boutique die vermoosten Schatten des alten Schriftzugs HIRSCHWIRT. Die Gebäude der auf drei Ortschaften verteilten VOLKSSCHULE, die ich als „Bub“ besuchte, stehen noch, wirken klein wie miniaturisiert, entfremdet, modernisiert, aus dem Vergangenen herausgehoben. Die Dinge helfen, die Zeit entschwinden zu sehen, helfen gegen den Groll und die Bitternis. Die Luft, die Gerüche, die Vogelstimmen unverändert. Das warme Abendlicht. Die die Bergkämme einhüllenden Wolken. Die Singvogeldichte und das ewige Gekrächz der Dohlen und Krähen. In einigen Gesichtern erkenne ich Schulkameraden wieder. Der liebliche Verfall. Die schöne Enge. (Rottach-Egern, 14.7.)

Schreib ein Gedicht: „Traumamatura“

In der Dämmerung der Garten des Hauses, in dem mein Großvater starb. Da steht der Schuppen noch, dicht an der Hecke, wo es so dunkel roch. Habe ich damals schon gewusst, dass ich als Mann mit Kindern einmal hier stehen würde, um mich wiederzusehen?

Aus dem Nebel tauchen die Bergkühe auf wie Geister mit Glocken und haben zarte Wimpern.

Wenn die Erinnerungen sich überlagern, die Rekonstruktionsversuche einander widersprechen, ist die Zeit des Abschieds gekommen. Da ist niemand mehr, anhand dessen Erinnern du dich deines eigenen versichern könntest, und das Interesse an deinen Erzählungen ist schmal, begrenzt, verflüchtigt sich rasch, es zeigt nur, wie dringend du abschließen solltest mit deinem Gestern, um noch einmal im Heute anzukommen.

Schreib ein Gedicht: „Petersburger Hängung“

Alle, alle geliebten Dinge aus deinen Kindertagen tauchen in unwesentlich veränderter Gestalt später in deinem Leben wieder auf – nichts kann verschwinden, es ändert nur den Ort, wie Proust sagt: „alles, was wir in uns haben, verlagert sich anderswohin, ohne zu verschwinden.“ Wohin aber „verlagert“ es sich? Auf dem Vorplatz des früheren Gasthofs deiner Großeltern ergreift dich angesichts der Kleinheit der Dinge und des unverändert wiedererkennbaren Rauschens der hinter dem Haus vorbeifließenden Mangfall die alte schwermütige Beklemmung. Diese Orte sind ihre Wurzelgründe. Diese Orte – die Gasthoftür, den Schuppen im Garten, den Sportplatz im Schaftlacher Forst, das o-förmige Wäldchen – habe ich überall in Ähnlichem wiederzufinden versucht. Er ist eine Sucht, dieser bittersüße unweigerliche Schmerz. (Elmau, 16.7.)

Gondeln im Nebel. Schwimmen in den Wipfeln.

Das Kind legt mir die Tarotkarten und scheint alles von mir zu wissen.

Tegernsee. Reprise

Die einzige Hostie deines Lebens schmolz
    auf deiner Zunge in dieser Bauernkirche.
Deine Jüngste bestaunt die Einritzungen
    im Geländer der Empore: Gleichaltrige
schickten ihr Nachrichten, vom Juli 1759.
    Tölz, Isarhochwasser, und das Spaßbad,
du hast da schwimmen gelernt, abgerissen.

Regenfälle, als versuchten die Berghänge
    flüssig zu werden. Es schwemmt sie weg,
deine Wurzeln, und: Du hast eh nichts mehr
    zu suchen hier, du Spross einer Gegend.
Hirschwirtkind. Du Umbruchsohn. Du Leser
    leerer Schatten, von singbarem Schwund.
Und jedes Und ein Grund zur Versöhnung.