Archiv für den Monat April 2024
Der Buëch
Er kommt dir
in der Finsternis
aus dem Schädel
gestürzt, der Fluss,
du hast die Alpen
hinter den Augen,
ihr Schiefergrauen
ein Totholzbrausen.
Die Burg von Serres
geopfert Brückenbau,
Brücken weggerissen,
Hindernis, Hindernis,
hinter deinen Augen
rauscht in dir talwärts
der gestürzte Fluss.
Das Schotterwasser.
Ungelebt / Unlived
Der Zweifel ist nicht mehr erlaubt
So erschütternd wie verwunderlich ist, was Christian Bobin über Jesus von Nazareth schreibt: „Il ne dit pas: aimez-moi. Il dit: aimez-vous. Il y a un abîme entre ces deux paroles. Il est d’un côté de l’abîme et nous restons de l’autre. C’est peut-être le seul homme qui ait jamais vraiment parlé, brisé les liens de la parole et de la séduction, de l’amour et de la plainte.“ Er ist vielleicht der einzige Mensch, der, gekappt die Verbindungen des Worts und der Verführung, der Liebe und der Klage, je wahrhaft gesprochen hat. (Volx, 1.8.)
„Le doute n’est plus permis“, singt Jane Birkin, mit deren Tod mitten in diesem Mistralsommer ein weiterer großer und schöner Teil meiner Welt gestorben ist. Der Zweifel ist nicht mehr erlaubt.
Und Du, Sinéad? Ich wusste gar nicht, dass ich älter war als Du. Jetzt bist Du gestorben, mit 56 Jahren. Gott, was habe ich Dich angehimmelt, Deinen geschorenen Kopf, Deinen existenzialistischen Rollkragenpulli mit dem Badge STOP STARING AT MY TITS – was ich verstand und richtig fand, aber genauso von mir wies, um Dich weiter ansehen zu können. O I’m so sorry for my rapture. Du warst mehr als sexy. Du warst der Inbegriff der Sexyness im Fürstentum meiner Bewunderung. Die Stimme und ihre Verkörperung. Es war schwer, Dich unpolitisch, nicht gesellschaftskritisch zu sehen. O yes, but I did. Poetisch gesehen warst Du und bleibst ein selbsterschaffenes Wesen, wie Prince durch Unbilden dem Business entwachsen. Die Tragik Deines Lebens und Endes ist Deiner Musik eingeschrieben. Du hast mich oft begleitet, oft getröstet, oft erschüttert. Viele Landschaften, durch die ich fahre, verbinde ich, Sinéad, mit Dir. (4.8.23)
Im Gartenpark des Konvents Les Cordeliers breitet ein junger Hippie seine im Brunnen ausgewaschenen Klamotten auf den Heckensträuchern aus. Die Mittagshitze brennt herab auf Forcalquier. Die Birnen und Äpfel reifen in Stunden. Die Ameisen wandern durch die Zeit, und wir, der Hippie und ich, müssen bald sterben, aber noch nicht heute, noch nicht gleich. Er da drüben im Schatten der Hecke mit seinen Anziehsachen darauf und ich hier auf meiner Familiensteinbank im Schatten unter der Platane, wo ich frühstücke, wissen es: So wie alles vergebens ist, so ist nichts verloren.
Das Weiterschreiben, das Weiter-und, weiter-und weitere Schreiben als Trost, für dich und für die, die es angeht und kümmert.
In das am Nachmittag abgedunkelte Straßenzimmer fällt durch die Fensterläden ein Lichtstreif, und darin tanzt ein Firmament aus Staubflocken, nur in diesem schmalen, sich verbreiternden Dreieck – das aber ersichtlich macht: Im ganzen Zimmer tanzen die Sterne aus Staub. (Volx, 8.8.)
Die Kebap-Imbisswirtin ist Türkin oder Kurdin, und sie ist müde wie ihr Mann, der hinten im Lokal auf dem Fußboden schläft. Sie bereitet die Fritten und Falafel zügig zu, sie lächelt und gähnt und trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Paillettenaufdruck QUEEN OF DISCO. (Manosque, Anfang August.)
Ungelebt / Unlived
Danse macabre
Der übergewichtige Junge quält sich auf seinem Miniatur-E-Bike die nächtliche Straße herauf – das E-Bike quält sich an seiner Statt. Er blickt nicht her, so wenig wie sein E-Bike, beide klemmen nur die Zunge zwischen die Zähne, bis sie vorbei sind. (Volx, 24.7.)
Das Knispeln der Wespen in der Schilfbalustrade – die einknickt und zusammenbricht nach drei Sommern des Aufgegessenwerdens und Abtransports durch die Luft.
Du siehst sie – Mücke. Du siehst ihn nicht – Moskito. Du spürst sie – Mücke. Du spürst ihn nicht – Moskito. Du findest sie – Mücke. Du findest ihn nicht – Moskito. Sie giert nach dir – Mücke. Er fühlt sich in dich ein – Moskito.
Wie sich meine Augen ans Dunkel in der nächtlichen Straße gewöhnen, so verwandelt sich mein Empfinden die jährlich zunehmenden Schmerzen an.
Genesis – Duke
Genesis – Abacab
Genesis – Three sides live
Diese winzigen Verbindungsglieder, die überall sind und so unendlich wichtig.
Im Herbst, wenn wir das Haus längst verlassen haben, fallen die reifen, noch an den Zweigen von den Vögeln halb verzehrten Feigen auf die Terrasse, und im Verlauf des Winters, bevor wir wiederkommen, zerfallen sie zu süßem Fleisch und wird der braune Brei davongetragen von den Ameisen und letzten Hornissen. Uns unlesbar, wahrscheinlich bedeutungslos, bleibt auf dem Zement des Garagendachs ein Muster aus weißen Herzen, wie eine Konstellation auf dem vom Regen graugewaschenen Stein – das Sternbild der Feige. Die Feigin. La figuière.
Als das Gitarrenquartett in der Kapelle mitten auf den Feldern anhebt, Saint-Säens’ „Danse macabre“ zu spielen, fällt mit einem Mal das letzte Licht des Tages durch die Glasmalereien. Das grüne, blaue, gelbe und rote Flimmern spielt über die Wände in Fensternähe, und das Wunder besteht darin, dass es zeitgleich mit dem Lied erlischt. (Rocher d’Ongles, 30.7.)
Supertramp – „… famous last words …“
Leute, die vorbeikommen, mitten in der Nacht, die miteinander sprechen, on parle, allez, dann abbiegen und verschwunden sind – der Brunnen in der Dorfmitte, unter der neugepflanzten platane de liberté. Sein Plätschern führt das Gespräch weiter, und ich höre zu.
Die Welt ist voller Lösungen – und voller Idioten.
Im selben Moment, als die Blinde vorbeigeht, hinunter ins Dorf – Mitternacht –, geht die Straßenbeleuchtung aus.