Das Gras

Some things about death

Der Verdacht liegt nahe, dass jedes Gedicht, jedes literarische Partikel, ein Stück Welt mehr ins Virtuelle hineinexpediert. Der Verdacht liegt nahe, dass du deshalb das Schreiben sein lassen solltest – um dir nicht selbst die Wirklichkeit zu entziehen. Aber – du tust es nicht. Wieso tust du’s nicht? (25.1.)

„Wie zäh man daran festhält, am Leben der anderen, so zäh wie am eigenen, es ist kein Unterschied.“ Canetti

Handke schreibt: „Kafka ist nicht gestorben“ – eine der wenigen seiner Äußerungen zum Tod.

Schön, wenngleich nach Canetti-Art eitel und selbstbezogen, was er über die Aborigines – welche? – schreibt: „Die Australier also, diese Steinzeit-Menschen, glauben an eine ewige Traumzeit, aus der sie kommen und in die sie wieder gehen. Es ist seither nichts dazugekommen; es ist nur weggenommen worden. Ihr Glaube ist der höchste; der einzige, den ich manchmal teile; wäre ich ein Australier, ich hätte ihn immer. Aber da ich das zweifelhafte Glück habe, ein moderner Mensch zu sein und in London lebe, habe ich ihn meistens nicht; und nur soweit ich ein Dichter bin, bin ich noch ein Australier.“

Ich denke auch: Der Tod ist nicht nur ungerecht, er ist ebenso Unrecht, da kein Recht existiert, auf das er sich begründen ließe. Daher ist Aufbegehren gegen den Tod Pflicht zum Widerstand. Canetti: „Ich anerkenne keinen Tod. So sind mir alle, die gestorben sind, rechtens noch lebendig, nicht weil sie Forderungen an mich haben, nicht weil ich sie fürchte, nicht weil ich meinen könnte, daß etwas von ihnen noch wirklich lebt, sondern weil sie nie hätten sterben dürfen. Alles Sterben bis jetzt war ein vieltausendfacher Justizmord, den ich nicht legalisieren kann.“ Das ist es, was Simone de Beauvoir schrieb: Jeder Tod sei ein unverschuldeter, ein unschuldig erduldeter Gewaltakt.

Buddha und Ananda. Der Meister sieht sein Leben in die Hand des Schülers gelegt. Da er erkennt, dass Anandas Liebe zu ihm Grenzen hat, beschließt Buddha zu sterben. Es ist die Liebe, die am Leben erhält. Alter Verdacht: Du stirbst, sobald du nicht liebst, sobald du nicht geliebt wirst. (Wien, 26.1.)

Überall, allenthalben, suchst du nach Zeichen wirklicheren Lebens. Ist die Suche dieses Leben, und ist sie ein Hinweis darauf?

Ehre und Auge

Zwei einander nahe Begriffe: Nähe und Nähen. Jetzt nähen wir zusammen, was viel zu lange aufgetrennt war und auf zwei verschiedenen Seiten immerzu weinte.

Ein Pulk Geflüchteter, ein halbes dutzend Frauen und Männer, aber auch Jugendliche und drei kleine Kinder. Jeder trägt eine schwere Tasche oder hat einen Rucksack auf dem Rücken, einen ganzen Schrank. Ein ganzes Zimmer tragen die Frauen, ein ganzes Haus schleppen alle zusammen, alles versprengt, zigfach aussortiert und minimalisiert. (Berlin, 20.1.)

Die seltsam schöne Uckermark. Die stillen großen Seen, das Hügelland, die Schneefelder voller Baumruinen. Brandenburgische Ebenen, blickweit aufgetan. In Staub mit allen Freunden der Enge. (Prenzlau, 20.1.)

Bei Ehre denke ich an Getreide.

Auf dem weiß überfrorenen Bahnhofsvorplatz steht im Morgenlicht ein großer Lastwagen, meerblau. Auf den Seitenwänden prangt das Wort AUGE. (Greifswald, 21.1.)

Glaub nicht, die vermeintlich einfachen Leute, die Arbeiter, die Arbeitslosen oder Schicksallosen hätten einander nichts zu erzählen, ja würden sich nicht austauschen! Du musst (dir) auch ihre Stimmen übersetzen. (Berlin-Charlottenburg, 22.1.)

Der Schmerz nach einem Verlust – noch der geringsten Dinge! – ist immer auch die Trauer darüber, dass es den Tod gibt und der ein Verhängnis ist.

Ul-, Ul-, Ultimat-!

Wenn du Schatten sein willst, musst du bereit sein, keinen Schatten zu werfen.

Die vielleicht fantastischste Band in der Mitte meines Lebens hat ihr Ende angekündigt: Death Cab for Cutie.

Bittere Kälte – bitter wie die Zeit, in der du zu leben verdammt bist. Erinnere dich der eiskalten Abende in den Vierlanden, als du ein Junge warst und vom Training heimfuhrst auf deinem Fahrrad, an dem du jede Schraube so gut kanntest wie jedes verfluchte Körperteil. Ah, was für eine wirkliche Kälte! Die Kälte der Wirklichkeit. Ja, da staunst du.

Der alte Verstotterer Ede Stoiber fordert ein Ul-, Ul-, Ultimat-, Ultimatum von der Kant-, der Kanzler-, der Kanzlerin in der Flü-, Flücht-, in der Flüchtlingsfrage. Hau, ab, Edmund.

„So wie wir trotz unserer Bemühungen allein bleiben, bleiben wir trotz unserer Umarmungen frei. Niemand gehört jemals irgendjemandem.“ Guy de Maupassant

Der Irrsinn der Metaphern Canettis – die Finsternis seiner Welt im Konjunktiv: „Wenn das ganze Meer vergiftet wäre, und alles übrige Wasser dazu, und die Menschen sich vor jeder Berührung damit zu schützen hätten, weil sie tödlich wäre, dann, aber nur dann hätte man eine volle Vorstellung davon, was es heißt, heute, in dieser Welt, zu leben.“ Das schrieb er 1947, und man möchte das für verständlich halten angesichts der aufgedeckten Nazi-Gräuel und Verbrechen beinahe aller Deutschen. Die Welt aber war nicht gestorben, nur die Menschlichkeit.

Wilder Traum. Totentanz. Einer zerbröckelte in meinen Armen, eine zerriss wie alte Zeitungen, einen aber musste ich wegbrüllen, weil er mich in sein Grab zerren wollte. STANFIELD stand auf dem Stein. (19.1.)

„Jeder ist zum Hüter mehrerer Leben bestellt, und wehe ihm, wenn er die nicht findet, die er hüten muß. Weh ihm, wenn er die schlecht hütet, die er gefunden.“ Elias Canetti

Dieser Tag, schrecklich

„Aber wenn du träumst: wie reden da die Leute, wie sehen die Wege aus, aus welchem Haus kommst du, in welches gehst du hinein?“ Johannes Bobrowski, „Das Käuzchen“

„Un jour arrive où plus personne ne vous est étranger. Ce jour-là, terrible, signe votre entrée dans la vie réelle.“ Christian Bobin

Vergeblichkeit, Vergebung, da ist ein Zusammenhang, aber welcher?

„Das ist die karge Ausbeute, die mir der Überlieferungszufall beschert hat – ein paar liegengebliebene Halme auf dem abgeernteten Feld.“ Arno Geiger

Jeder, der schreibt, bitte um Vergebung, sagt Derrrida, irrt damit aber, tut mir leid.

„The stars look very different today“ – David Bowie ist gestorben. Viele Tränen. (11.1.)

Über den allmorgendlichen Pendlerverkehrsstau, der in die Innenstadt hinunterkriecht, zieht ein Geschwader Wildgänse ostwärts, sechzehn, achtzehn Vögel, ruhig, ein deutlicher Keil in Haushöhe über den kahlen Wipfeln.

Die sogenannte „CSU“ umbenennen, in UCUSU, oder UUU – Unchristlich Unsoziale Untote.

„La guerre des vivants ne s’arrête jamais“. Christian Bobin

Die Fasane bei Gryphius

Auf den Hecken wildes Schimmern,
Raureif. Und die Sternen gehen unter,
gehen wandern und leuchten auf fernen
Bahnen, den Zeilen am Himmel. Fasane.
Greif hörte ihr Rufen, aber bei Gryphius
verstecken sie sich zwischen Bildern.

Die gefrorenen Laken

„The people we met in the last five years / will we remember them in ten more?“ Death Cab for Cutie

Die allmähliche Verfertigung der Erinnerungen beim Schreiben – das Fehmarnbuch.

„Silvester ist mittelmäßig“, sagt das Kind, „weil es da so viele Tote gibt!“ (31.12.)

Einen Abend und eine Nacht lang lief er durch die Stadt mit dem neuen Hemd und fühlte sich sonderbar gehalten darin, aufrecht, gelassen, gestützt und unangreifbar glücklich – bis er am Morgen den von einem Pappstreifen verstärkten Plastikkragen bemerkte, den sie zu entfernen vergessen haben musste, als die Freundin ihm das neue Hemd ausgepackt, angezogen und mit vorsichtigen Fingern zugeknöpft hatte.

Der Kommentierpark!

Deutlich gehört: In der Abenddämmerung dringt lautes Wehklagen vom Friedhof herüber.

Gesichtsreparatur: Eine Stunde lang lässt du dir die hypertrophen Äderchen auf Nase und Stirn veröden. Der Laser brennt sich ein unter die Haut, und mehr und mehr kommst du dir gefotoshoppt vor unter der weißen Schutzbrille. Die Ärztin meint ja, du seiest ein besonders hartnäckiger Fall, aber bald schon würdest selbst du wieder wie früher aussehen, wie ein Kind!

Aus der Kälte unterm Dach kommt mir die Nachbarin entgegen, vor Bauch und Brust wie Styroporplatten die zusammengefalteten gefrorenen Laken.

Meine Blume!

Du stehst in deinem Leben wie ein Schwan im Fernsehen.

Slogan: „Geben Sie Ihren Notizbüchern Namen!“

Wahrscheinlich folgt jedes Gespräch einer Art von offenen Partitur. Nie könnte man das unter Beweis stellen.

Ich werde alles den Gänsen erzählen.

Manchmal denkst du, dein Hund ist gestorben, ja, aber er ist jetzt zwei Katzen.

Ein Junge im Muskelshirt geht vorbei, nackte Arme, nackte Schultern, 20. Dezember.

„Eine alte Baumgruppe kann ich immer aufs neue beschreiben, aber wenn ich einmal merke, daß mein Beschreiben nichts Entdeckendes mehr hat, interessiert mich auch die Baumgruppe nicht mehr.“ Jürgen Becker

„He? Wohin ist meine Blume verschwunden?“, fragt das Kind und erhält zur Antwort, dass sie verblüht war und deshalb weggeworfen wurde. „Meine Blume!“, ruft das Kind empört, als könnte es die Blume damit zurückholen. „Meine Blume!“ (22.12.)

Sehr eng zusammengefalteter Mantel

„Für das farbige Bild gilt nicht die Eigenfarbe der Dinge. Sie ändert sich mit ihrer Beleuchtung und Nachbarschaft anders gefärbter Dinge.“ Ernst Ludwig Kirchner

Und noch einmal Kirchner, über Fehmarn: „Ich male so viel wie möglich, um wenigstens etwas von den tausend Dingen, die ich malen möchte, mitzuschleppen.“

Eine Amerikanerin, wahrscheinlich aus Wyoming, im Bus: „The only thing we managed to eat was like a salad.“ (Berlin-Dahlem, 12.12.)

„Man hat kein Maß mehr, für nichts, seit das Menschenleben nicht mehr das Maß ist“, schreibt Canetti und benennt damit, vor über 70 Jahren, den Beginn unseres heutigen Dilemmas: die Maßlosigkeit der Deutschen.

Selbst einen wie Kirchner, den wilden Ernst, stelle ich mir vor als jemanden, der schlafen konnte – plötzlich, früh am Abend, noch in Kleidern, auf der kleinen abgewetzten Liege mitten im Steglitzer Atelier.

„Wir sind ernster als die Tiere“, schreibt Canetti. „Was wissen die Tiere vom Tod!“ Ja, hätte Canetti sich das mal gefragt: Was wissen die Tiere vom Tod? „Und welches ist die Erbsünde der Tiere?“, fragt er. „Warum erleiden die Tiere den Tod?“ Sie erleiden ihn nicht. Wer Tiere sterben sieht (nicht die Millionen, die täglich getötet werden, um uns zum Fraß zu gereichen), weiß augenblicks, dass das Tier stets ist, was es ist, noch im Sterben, ja noch im Tod. Es fügt sich nicht, sondern setzt dem Tod sein Wesen entgegen.

Großmutter, Oem, nahm die Wörter „Tod“ und „tot“ nicht in den Mund. Sie sprach von „de dood“ und „doud“, mitten in hochdeutschen Sätzen.

Jeder Geruch an deinen Fingern … zehn Stunden, und weg ist er, nur noch Erinnerung. Woran du dich erinnerst, ist es dasselbe, was du wiedererleben willst?

Forever West

Schreib ein Gedicht mit dem Titel „Wirklich in Wyoming“, obwohl du dort nie warst, nein weil du dort nie warst. Das Gras in Wyoming. Die Hunde in Wyoming. Die Bäume in Wyoming. Die Kinder von Wyoming. Die Frauen von Wyoming. Du, du in Wyoming, du fragst dich, ob es Wyoming wirklich gibt.

Am Postschalter steht ein Mann mit einem kleinen Paket, das ihm soeben der Postler ausgehändigt hat. „,Mantel‘ steht darauf“, sagt der Mann. Und der Postangestellte: „Sehr eng zusammengefalteter Mantel.“ (Fuhlsbüttel, 18.12.)

Bianchon

Warum das Kind in der Schule keine 2 schreibt: „Die Zweien sind ausgestorben.“

Sätze und Verse gibt es, die verfolgen, nein begleiten mich seit Jahrzehnten, damals herbeigeflogen und nie wieder fortgezogen: „Wieder in den Wicken erwacht, / am Morgen …“, „Abendsommerland, / die Mücken spielen …“, oder, seltsamer Ohrwurm: „I’m a poet, I’m a tumbler“. Ich weiß es aus eigener Erfahrung: Meine Sprache ist klüger als ich.

In Worpswede, der ganze Kunsthandwerk- und Kitschzirkus kann die so erregende wie erschütternde Schönheit vieler Bilder von Overbeck, Vogeler, Mackensen, Modersohn-Becker und anderen, zu Unrecht heute Vergessenen nicht kaputtkriegen.

Angeblich Balzacs letzte Worte: „Huit jours avec la fièvre! J’aurais encore eu le temps d’écrire un livre. Ah oui! … je sais. Il me faudrait Bianchon … Bianchon me sauverait lui!“ Horace Bianchon ist eine Gestalt Balzacs aus zwei Romanen der „Comédie humaine“: „Acht Tage Fieber! Da hätte ich ja noch ein Buch schreiben können. Ja! … ich hab’s. Ich bräuchte Bianchon … Bianchon würde mich retten!“

Du glaubst also, es gibt sie, die Schuld? Seit vielen Jahren frage ich mich, ob Schuld nicht eine Leerstelle ist, um die wir herumrennen, um sie einzukreisen und zu rufen: „Du bist schuld!“ oder „Ich bin schuld, ich!“ Bin ich’s? Bist du’s? Wer, wenn keiner von uns? Darauf bleib ich eine Antwort schuldig.

Das schöne englische Wort „lacuna“, die Lücke, aber die wirkmächtige. Das Nichts im Tag, in der Welt, die Lücke als integraler Bestandteil, das stützende Manko.

Der Klippengarten

Ein junger Arzt sagt achtlos
deiner Tochter, die erschrickt:
„Der Tod seiner Frau, laut Akte
ist das kein halbes Jahr her.
Ein Glück, er erinnert sich
an nichts, weiß davon nichts.“
Aber wer weiß schon, hm,
was du spürst, was du
verstehst und welche
Bilder dir als wilde
Möwen um die Augen
segeln? Der Augensommer,
die Kirschbäume, die Wolken,
so weiß wie Krankenschwestern
im Klippengarten bei La grève blanche.
Natürlich, alle müssen wir sterben, solange
keiner den Tod in Frage stellt. Jede Liebe
ist ein Anker, und dein Körper, Claude,
weit oben auf der Oberfläche
der schwarze Rumpf,
treibt dort und dreht sich,
als wäre Wind aufgekommen.
Aber sieh doch das Erschrecken.
Diese Frau, die weiterlebt, weißt du,
das ist nicht deine, sie ist zur Hälfte
aber aus dir, deine Tochter ist sie,
und sobald du davontreibst,
hält sie alle davon ab,
dich aufzuhalten.

Ich habe diese ganzen Erinnerungen

Dichtung, nach der glücklicherweise unmaßgeblichen Ansicht Dieter M. Graefs, der über Rainer René Müller schreibt, diene der Wahrheitsfindung – was ein Schrott. Unwahrheitsfindung, das vielleicht. Wirklichkeitsfindung, schön wär’s. Unwirklichkeitsfindung – ja. Ja! Und daher: Widerstand. Poetischer Untergrund.

Ich bin mein eigenes Durchhalteradio.

Heute vor acht Jahren, am 29. November 2007 – liefst du durch Buenos Aires.

„Taumel, Taumel. Taumel, Taumel“, sagt die Waschmaschine im Abpumpgang, „Taumel, Taumel. Taumel, Taumel …“

Ein Pulk Pfadfinder stürmt in die S-Bahn. „Werft die Affen dorthin!“, ruft der Anführer, der etwas älter ist als die Jungs, und die schnallen ihre Rucksäcke ab und stapeln sie im Gang. (Barmbek, 29.11.)

„Check mal unsere LED-Acryl-Rentiere!“

Der Olympische Gedanke? Klei mi an‘ mors …! Auch Hamburgs Nein beim Referendum zur Olympia-Bewerbung für die Spiele 2024 ist ein Zeichen der Angst. Wie eh und je öffnet sich die Hansestadt nur dem Handel. Hamburgs Offenheit ist eine rein merkantile. Dabei wissen es die Leute besser, so offenherzig sie sind gegenüber jedem, der es erst geschafft hat ins Herz der Pfeffersack-City.

„I have all these memories I don’t know what for / I have them and I can’t help’em / some overflow and spill out like waves / some I will harbour for all of my days / I burnt like oil / you blew like a flower …“ Mark Kozelek, „Like A River“

Blasse Blumen

Von der „totalen Solidarität“ schwadroniert der us-amerikanische Präsident gegenüber dem französischen. (24.11.)

Schlagzeile: „Obama begnadigt Truthähne.“

Erinnere dich an die Weihnachtsstollen, die stets in der Adventzeit aus dem Osten kamen, aus Karl-Marx-Stadt und Dresden, und immer waren sie in der Mitte durchgebrochen. Blasse Blumen auf dem Pappkarton, der seltsam dünn war. Und damit der Stollen auch ja kam, schickte deine Großmutter Geschenkpakete los, nach Dresden, nach Langburkersdorf. „Müssen im Gespräch bleiben“, hieß das bei ihr.

Die Flüchtlinge, glaubst du wirklich, du kannst sie erkennen an den neuen Turnschuhen und den viel zu alten Handys, an dem dunklen Teint und dem großen Staunen?

Alte Familienerzählung: Einem zwar gelungenen Essen fehle dennoch „das Gewürz der Seligen“ – nämlich das der (wer weiß wann?) Verstorbenen im Reigen der Toten, die stets das Essen anbrennen ließ.

Was ich noch weiß

Meine Zweifel – so eine Art Peschmerga-Miliz in der Wüste rings um die Oasen meines Gemüts.

Auf dem abendlich dunklen Parkplatz steht ein Mann im Nieselregen, er hat einen Deckel im Pflasterboden hochgeklappt und leuchtet dort hinein, während irgendwo aus einem Auto der Singsang eines Muezzins ertönt. (Fuhlsbüttel, 17.11.)

Das Kind gibt zu: „Hamlet ist ein fantastisches Stück. Denn es handelt ja eigentlich vom Leben heute.“ Und das Kind erklärt dir: „Alles Wichtige, was zu sagen ist, wird bei jeder Aussage mit den ersten beiden Sätzen gesagt. Der Rest ist Schmuck.“

„Es gibt Geschichten, die Jörn schon erzählt hat. Wenn er sie noch mal erzählt, sind es nicht mehr dieselben Geschichten. Eine Geschichte, sagt er, besteht ja auch aus dem, was man nicht gesagt, was man weggelassen, verschwiegen oder vergessen hat zu erzählen. Wann ist eine Geschichte wirklich einmal vollständig und abgeschlossen, wo sie doch von Erfahrungen, Geschehnissen und Erinnerungen lebt, die einen unendlichen Hintergrund haben, einen Raum voller Leben und Zeit, die kein Aufhören kennt. Also immer aufs neue, immer weitererzählen … nein, sagt Jörn, darum geht es mir nicht. Um was geht es dir denn? Es gibt kein Konzept, sagt er, aber ich möchte herausfinden, was ich noch sagen kann, was ich noch weiß.“ Jürgen Becker

Das Kind wünscht sich, in eine Aufführung von Romeo und Julia zu gehen.

„So langsam ich lebe, sagt Jörn, und dabei merkt er, wie sich im Alter zunehmend die Binsenweisheiten einstellen, so schnell zieht das Leben weiter.“ Jürgen Becker

Erster Nachtfrost – erster Schnee.

Hasse nicht!

Helmut Schmidt ist gestorben, im Alter von 96 Jahren, in Hamburg, das ihm mehr verdankt, als sich sagen ließe – im Unterschied zur Bundesrepublik und dem Selbstverständnis ihrer Bewohner. Von Langenhorn, wo er immer lebte, bis zur Elbe will er in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 in acht Minuten gefahren sein, vollkommen unmöglich, auch wenn er sich als Bürgermeister gegen die Sturmflut stemmte. Ich war nie ein Anhänger oder gar Bewunderer Schmidts. Der Lotse? „Ihr Punker werdet’s auch noch lernen!“, rief er uns auf dem Rathausmarkt zu – und sprach „Punker“ aus wie „Bunker“. Adieu, alter Mann. Grüß Loki.

12. November: Zwei Wespen – Geschwister vielleicht – verirrten sich ins Wohnzimmer. Ich brachte sie ins Freie, wo sie erzürnt, mit zuckendem Hinterleib in die Luft stechend – wundervoll! – davonflogen. Und ich wusste: Sie sind wie wir.

Die zweiten Terroranschläge in Paris in diesem verfluchten Jahr (eines der schönsten meines Lebens). Deutlich wird nicht, dass wir uns im Krieg befinden, sondern dass der Krieg, den sie uns vor langer Zeit aufoktroyiert haben, ohne uns davon in Kenntnis zu setzen, endgültig Mitteleuropa erreicht hat. Glaub den Politikern nichts, nie wieder. Dennoch, die Kinder sind alt genug, um Freunde zu haben, die in Paris dabeiwaren und ihr Leben lang diese Nacht nicht vergessen werden. Stell dich gegen den Hass – hasse nicht!

Das Kind liest Shakespeare. In der Buchhandlung im Hauptbahnhof will es keinen Manga, sondern Hamlet. Auf dem Bahnsteig lacht es über Shakespeares alte Sprache. Aber das Kind liest, und liest, und liest weiter. „Nice“ findet es ihn, Hamlet!

Heute vor vier Jahrzehnten: Ich war zehn und kam hier an, in Hamburg. Erst Meckelfeld, dann Curslack, Bergedorf, Dulsberg, Barmbek, St. Pauli, Eppendorf. Dann Hoheluft. Holstenplatz. Portugiesenviertel. Dann Eimsbüttel. Und Klein Borstel. In Hamburg sagt man „tschüss“. In Hamburg sagt man: „Mit einem Messer im Rücken gehn wir noch lang nich nach Haus.“ Good old Hamburch, hier bin ich zu Haus. (15.11.2015)

Das Gegenteil von Blumen

„Ich zeig dir die Angst in einer Handvoll Staub.“ T. S. Eliot

Die Bürgerinitiave „Lebenswertes Dorf“ hat die geplante Unterkunft für Flüchtlinge im Stadtteil per Gerichtsentscheid stoppen lassen. Am Friedhofrand wird nun nicht länger gebaut. Es kann alles weiter totgeschwiegen werden.

Wanderung von Eckernförde nach Kiel, im weiten Morgenlicht Richtung Süden. Die Stille! Die Glätte der See! Die gelben Wälder und Hohlwege! Und wir, die einander erzählen. Von unserem langen Leben. (Kiel, 5.11.)

Ich frage mich: Bin ich ein Mensch mit Bleibeperspektive? Gilt für mich eine Residenzpflicht, und wenn nein: Warum nicht?

„Laub ist das Gegenteil von Blumen“, sagt das Kind.

Der gestrige 7. November war laut Meteorologen der wärmste je gemessene Tag mit diesem Datum in Deutschland. Heute fliegen bei warmer Mittagssonne die Wespen über die Gärten heran. Und auf der Straße sagt jemand: „Morgen werden die gelben Blätter an den Bäumen wieder grün.“

Das „Deutsch-Dominikanisches Finanzbüro S.A.“ legt mir per E-Mail „Kapitalbeschaffung mit finanzielle Hebel- ohne Wenn und Aber“ nahe – danke! Danke, danke!

Venceremos

Auf dem Parkplatz drüben, der Mitte
des grauen Morgens, lehnt eine Frau
mit Wintersonnenbrille an ihrem Auto.
Sie raucht hastig. Sie scheint zu warten.

Nur kommt keiner. Und es wird nicht hell.
Leichter Sprühregen, in dem sie ausharrt,
in die kahlen Wipfel zu den Krähen blickt,
auf ihre Uhr aus Gekrächz und Gekrächz.

Der Augenblick, vorbei. Der Paketdienst
liefert Pakete. Aus einem roten Reisebus
mit spanischem Schlachtruf an der Flanke
steigt ein Blasorchester. Worauf warten?

Such keinen Ausgang, such den Eingang.
Jeden erwartet viel Besseres als Träume!

Bär und Slogans

Auf Futtersuche, wie es heißt, sei im östlichen Sibirien ein ausgewachsener Braunbär in ein Einkaufszentrum eingebrochen und habe sich dort verirrt. Das große Tier. Das Gefährliche. Im Einkaufszentrum. Der Einkauf des Tiers. Im Zentrum. Das Tier, ausgewachsen, eingedrungen ins Zentrum: Bär, der Mensch sein will. Der Bär soll schließlich durch eine Wand gebrochen und so ins Freie zurückgelangt sein (er hat es uns gezeigt), und ich bin mir sicher: Er war erleichtert. Ein Polizist (Putins Onkel vielleicht, oder Putins Sohn, wenn er einen hätte), hat das Tier auf dem Parkplatz abgeknallt.

Das Agentenzentrum!

Slogan: „Fenster machen Häuser.“

Wandspruch an einem Haus mit der Nummer 37: „Merde 37.“

Der Nebel morgens über den Bankentürmen steigt aus den Schluchten des Bahnhofsviertels. (Frankfurt am Main, 19.10.)

Und wieder kommt die Kälte. Du fühlst sie, spürst sie, oder?

Slogan: „PEGIDA nach Aleppo!“

Und die Antwort lautet … nein. Es kommt keine Antwort.

„Ich spende mein Gesicht“, sagt das Kind.

Die drei wichtigsten Wörter: Nein. Doch. Wieso.

Am Morgen blickt das Kind aus dem Fenster und ruft, empört: „Es ist immer noch Herbst!“

Der hässlichste Buchtitel des Monats Oktober wurde gewählt: „Herzrasen kann man nicht mähen.“

Das Kind streichelt die Katze: „Genauso riecht das Pinguingehege im Tierpark.“

Die Poesie wird niemals sterben, aber du.

Ein selektives Gedächtnis

„ … Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön, / Liebend unterzugehen, / In die Fluten der Zeit sich wirft.“ Hölderlin, „Heidelberg“

„Nee, nee, nee!“ – ewiger Gesang derer in den nördlichen Regengebieten. (Zurück bei di, old Hamborch, 7.10.)

„Ich denke, ich habe ein selektives Gedächtnis“, sagt das Kind.

Erstaunlich, wie viele Leute in der Zwischenzeit so einfach in der Gegend herumstehen, an Kreuzungen, an denen der nichtsnutzige Verkehr vorüberbrandet, an Waldstücken, in denen nur die Bäume noch wachsen, in den Flughafenterminals, wo die Sicherheit ihr Reich hat und gegen die Verunsicherung verteidigt, vor den Schulen, wo wir alle einmal wussten, was wir nicht wollten. Da stehen sie und sehen in die Weltgeschichte hinein. „Hallo.“ – „Hallo.“ — „Hallo?“ — „Hallo!“

Wie doch jedes Buch, das neu erscheint – von dir, von einem anderen geschrieben – immer und für immer die Spuren des Manuskripts, das es einmal sehr lange war, und Erinnerungen daran trägt. Ich lese meine in diesen Tagen erschienene Übersetzung von Stevensons „Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde“ und finde darin allenthalben meinen Alltag von vor anderthalb Jahren.

Mittagsschlaf

Zeit war es, dass es Zeit war?
Nie war’s Zeit gewesen, nie
würde es Zeit werden. Es war
die Zeit der Spinne, der Schlange.
Sie waren Mauereidechsensekunden,
diese Minuten des Hundertfüßlers, und
wurden endlich zur Heuschreckenstunde,
zu den Zikadentagen. Im Jahr der Agave
lehnten wir schlafend in der Macchia
an einem entzweigegangenen Boot.

Stari Grad

Im Hafenbecken spüren die Fische, dass der Sommertrubel vorbei ist. Die Münder aus dem grünen Wasser gereckt, schnappen sie in große Gruppen zusammengedrängt zwischen den Booten nach Luft – immer in unsere Richtung. Oder wollen sie uns etwas verraten, uns warnen? (Stari Grad, 1.10.)

Im Museum des Dominikanerordens von Stari Grad eine Reisegruppe us-amerikanischer Senioren, allesamt auf Krücken oder am Stock. Als sie hinausgehumpelt sind, bin ich allein mit Tintorettos Pietà, gehe hinein in das Gemälde und empfinde die ganze Ergriffenheit und Rührung.

Der letzte Geruch jedes Landes: Kerosin.

Die Flugbegleiterin geht durch die Sitzreihen und singt: „Abfall! Abfall! Noch jemand Abfall? Dankesehr! Abfall! Abfall …“

Der Erste Geruch jedes Landes, jeder Stadt: Kerosin.

„Jetzt waren wir wenigstens etwas: wenigstens unglücklich.“ Peter Handke, „Die Abwesenheit“

Hvar

Die Kinder spielen vor dem zugesperrten, klinkenlosen Kirchenportal. Die Katzen schlafen im Park des Dichtersommerhauses, in dem verrostete weiße Gartenstühle stehen für eine Lesung vor Gespenstern. Auf den Steinstufen vor den leeren Altstadtboutiquen sitzen die Verkäuferinnen mit den Glitzerfingernägeln und lachen, weil niemand kommt. Der Wind bläst durch die Gassen seine drei Namen: „Die Bora!“, „Die Bura!“, „Der Boreas!“ Die Sprachen werden durch die Gassen getragen. (Hvar, 29.9.)

„Die Abwesenheit“ als eine von Peter Handkes zentralen Aussagen, eine Art heimliche Poetologie, ein „anschauliches Heim“: „Das Wahrnehmen blieb nie bloß äußerlich, sondern war jedesmal zugleich ein Innewerden, womit sich die Dinge als Farben, Formen und gegenseitige Beziehungen unvergeßbar in uns einschrieben und uns stärkten; die Sachen für sich, ohne dabei einen Gedanken ans Sammeln aufkommen zu lassen, erschienen uns als ein Wert: angesichts ihrer war es, als würden wir von etwas genesen. Wir waren voller Lust, sie zu umgreifen, zu betasten, zu messen und zu überliefern; verdiente nicht selbst ein unscheinbarer Grashalm bemerkt und wenigstens mit einem kleinen Ausruf weitergegeben zu werden? An unserem Entdeckertag war von ihm eine Neuigkeit abzulesen, welche uns, zusammen mit den ergänzenden anderen, jede nur denkbare Zeitung ersetzte.“ Und kurz darauf: „… an diesem Tag geschah mit dem Gehen und Immer-weiter-Gehen zugleich auch ein beständiges, unablässiges Ankommen.“

Hier haben die Todesanzeigen alle noch Gesichter: Hier sterben die Leute noch nicht einfach weg. Hier werden sie noch festgehalten, fest gehalten. Hier nimmt man den Tod noch nicht einfach hin.

Dub

Dub? Dahin geht es
bergan, bergauf, bergan,
so kommst du nach Dub.
Nur was anfangen da?
Da endet bloß alles.
Dort gibt es ja nichts,
es ist alles aus in Dub,
Dub ist selber nichts.
Es ist nicht Žrnovo.
Es ist auch nicht Brno.
Dub war noch nie Dubrovnik.
Wer nach Dub kommt, fragt sich:
Das hier also soll Dub sein,
dieses durchsichtige
dubiose Dunkel?
Duplizier Dub,
und du bekommst
nichts, du kriegst
nur Dub. Aber gut, los,
geh nach Dub! Dub wird dir
zeigen, wie es ist: Dub!
Dub ist, wie du bist.
Also bist du Dub?
Du musst Dub sein.

Im Gras zu unseren Füßen

Die alten Frauen ganz in Schwarz, langsam wie die Hundertfüßler die Hauswände herabsteigen, gehen sie durch die engen Wohnstraßen. Sind sie denn wirklich alle in Trauer? Ja. Sie scheinen um das Leben zu trauern, das verstrichen ist, um die Kraft, die sie noch, aber bald schon nicht mehr haben, sie wissen, auf ihren Schultern ruht die Welt, und es ist ihnen egal, ob sie sich irren.

Schwalbe müsste man sein.

Am Notausgang schläft eine Nonne.

„Unten im Gras zu unseren Füßen ein fortwährendes Grünen, im Himmel zu unseren Köpfen ein pulsendes Blauen, und dazwischen, in Augenhöhe, das immer neu ansetzende Durch-die-Ebene-Ziehen und Die-Hänge-Emporsteigen der Wälder, die einzelnen Bäume, auch sie taten, wie in Betrieb, laternenhaft, in langen Reihen einer dem andern vorangehend, die Zweige sich tatkräftig kurvend – was war, ereignete sich, mit dem Takt des Schreibwerkzeugs, wieder und wieder, und wurde in einem fort, was es war.“ Peter Handke, „Die Abwesenheit“

Ein dunkelgrüner Streifen, ein gestreiftes Band läuft durchs türkise Wasser des Hafens – ein Zug sehr schmaler und ruhiger Hornhechte schwimmt dort vor deinen Augen in die besonnten Bereiche.