Blick voraus

„Ich hab Mathematik in den Fingern“ – lächelnd zählt er an seinen Handknöcheln die Monate ab, ganz so, als gehöre das kommende Jahr ihm (25.12.).

So tief der Schmerz auch sitzt, so schmerzhaft es ist – egal. Gleich gültig ist im selben Moment schon der Augenblick danach, wenn der Schmerz nachlässt. Der Schmerznachlass – weit mehr als bloß Schmerzlosigkeit.

„Blick zurück im Zorn“ (vor lauter Angst) – blick voraus mit Gleichmut („Hab keine Angst“).

Ein warmes Omen

Ein Heiigabend mit lindem Frühlingswind, fünfzehn Grad warm, sodass der Schnee der letzten Tage nicht schmolz, sondern in Nebeln verdunstete. In älteren Zeiten ein Omen (fürs Zweite Kommen des Erlösers), heute nur beängstigende Bestätigung für den (Klima-)Wandel (24.12.).

Keine Gäste, keine Lieder

Ja, das bin ich: ein Bestattungswesen (schon immer gewesen).

An kein einziges Weihnachtsfest ihrer Kindheit kann meine Mutter sich erinnern – an keine Gäste, keine Tafel, keine Lieder, keinen Baum, keine Geschenke: 1946 bis 1957. Mir geht es genauso (obwohl es zig Fotografien von diesen elf Heiligen Abenden gibt): 1965 bis 1975.

Die Fallkonferenz!

Lesbarkeit

George Steiner über die Lesbarkeit des Blitzes („Wenn der Blitz spricht, sagt er Dunkelheit“):Blitz „Alle Formen und Codes, organische oder konstruierte, können Information vermitteln, können Emotion auslösen. Unsere bloße Existenz ist ein kontinuierliches Lesen der Welt, eine Entzifferungs-, eine Interpretationsübung in einer Echokammer, deren Volumen an Botschaften, an semiotischem Input unvergleichlich ist. Doch dies ist nicht unbedingt mit Verständlichkeit verbunden. Es gewährleistet mit seinem Potential und Ertrag nicht unbedingt Sinn.“ Vergleiche damit Coleridge über Wordsworth (mal runterscrollen: „An Inexhaustible Treasure“), aber auch Celans „Sprachgitter“, wo das Auge nicht einfach liest, sondern, zweifach, zudem gelesen wird: „Am Lichtsinn / errätst du die Seele“.

Aus: George Steiner, „Fragmente (leicht verkohlt)“
Sinn und Form 6/2012. Aus dem Englischen von Heide Lipecky

Sternbild

Der in der hohlen Faust die Zigarette entzündet, blickt in sein erleuchtetes Herz, der sieht das Blut davonwirbeln als Rauch.

„Konstellation“ – das Sternbild, an der Schädeldecke.

An Inexhaustible Treasure

Die Stärke von Wordsworths Poesie liegt nach Coleridge in der Kraft, mit der sie „die Aufmerksamkeit aufweckt aus der Lethargie der Gewohnheit und hinlenkt zur Schönheit und den Wundern der Welt vor uns – ein unerschöpflicher Schatz, für den wir infolge des Films von allzu Vertrautem und selbstsüchtiger Bekümmerung zwar Augen haben, die aber nicht sehen, Ohren, die nicht hören, und Herzen, die weder fühlen noch verstehen.“

Wie das geht

Während der anderthalbstündigen Anamnese immer wieder das Gefühl und daraus der Gedanke: Das bin doch gar nicht ich! Einmal mehr deutlich die Unmöglichkeit sich mitzuteilen – sich zu übermitteln. Zurückgeworfen aufs Vergessen, wie das geht, wie das alles zusammenpasst: Amnesie bei Anamnese (Hoheluft, 21.12.).

Flamme

Ein Teppich aus Plastik, groß wie Mitteleuropa, treibt auf dem Atlantik. Der Müllkontinent.

Adveniat – endlich wird es auch für mich Weihnachten. Flamme, die die Angst verbrennt. Ich höre Rubinstein Mozart spielen. Ich blicke meinen Freunden ins mit jedem Schmerz gleichmütigere Gesicht (20.12.).

Die Gedächtnisambulanz!

Die Taube

„Da tanzt er! Und zu mir sagte er, er wäre tot.“

In der Bäckerei am Fleet ist die Verkäuferin außer sich: Eine große graue Taube sitzt zwischen den Broten in dem menschenleeren Geschäft – menschenleer, weil auch die junge Frau lange nicht mehr weiß, was sie ist. Und die Taube? (19.12.)

Das Blumengymnasium!

Vergeblich ist die Pracht des Himmels

Noch mal, noch immer Wordsworth: „Vain is the glory of the sky, / The beauty vain of field and grove / Unless, while with admiring eye / We gaze, we also learn to love“ – das Lebensgefühl der Zeit in Marxen, der Keats-Jahre 1989 – 95.

Vor der Großbaustelle, einer im Abriss befindlichen Kaufhauszeile mitten im Zentrum, bleibt er stehen und zitiert mir einen Helden: „,Was sind schon die großen Architekten verglichen mit den großen Zerstörern‘, sagt Donald Duck.“ (Hamburg, Rödingsmarkt, 18.12.)

Lebendig getragen

Warum sehen wollen, wo sich das Tier versteckt? Glaub doch, dass es dich beobachtet, die ganze Zeit, da du nach ihm suchst.

Ja, das bin ich: der von morgens bis abends zwischen Hemden, Jacken, Hosen und Reißverschlüssen in seiner Änderungsschneiderei sitzende Alte mit dem silbernen Schnauzbart (17.12.).

Für William Wordsworth, den Erstaunten, ist die Poesie die Wahrheit, die „durch Leidenschaft lebendig ins Herz getragen wird“ – „carried alive into the heart by passion“.

Zwischen Hut und Schal

„Zwischen Hut und Schal“, sagt die Hutmacherin, „sollte das Verhältnis von Anfang an geklärt sein. Ein Schal muss wissen, wo es langgeht.“

Leb mit einem Tier zusammen, und du kannst nicht länger verdrängen, wie furchteinflößend deine Augen sein müssen (16.12.).

Das Zimmer und das Tier

Nirgends war das Tier zu sehen, nicht im Schrank, unter keinem der Schränke, Stühle, Tische. Das Tier saß nicht hinter dem Vorhang am Fenster. Es war vollkommen ruhig in dem Raum, in dem ich mich ratlos nach dem Tier umsah. Es saß auf dem Schrank. Mit großen schwarzen Augen blickte es mich an. Es war rätselhaft, wie es dort hinaufgelangt war. Dort, das Zimmer, es war nicht mehr nur Zimmer (15.12.).

Vermessen, Vermissen

In seinem „Versuch über den Stillen Ort“ erwähnt Peter Handke eine Inschrift im Giebeldreieck eines alten Hauses in Griechenland: „Aeï ho theós geométrei“ – und übersetzt: „Der Gott, beständig geometert er (= vermißt er die Erde).“ – „Immer vermisst der Gott die Erde“ übersetze ich und glaube, auch wenn man die Doppeldeutigkeit im Griechischen nicht vermisst, so ist sie bestimmt im Sinn des Vermessenden.

Die dunklen Schwestern

In der Dunkelheit stapfen zwei dick eingemummte Frauen durch den Schnee in den Ort hinauf. Sie gehen gleich schnell und wirken, wie da jede der beiden auf ihrer Straßenseite dahinschlurft, als wären sie Schwestern, zerstrittene Geschwister. Die Eine scheint in ein Handy zu sprechen, mit einem Mal nämlich fragt sie: „Und du trägst alles den Berg rauf?“ Aber es ist die Andere, ihre dunkle Schwester, die antwortet: „Es ist so schöne Luft.“ (12.12.12.)

Die Auslegeware

Zwei Arbeiter setzen eine Art Saugmagnetenbügel auf dem Redaktionsflur auf und heben damit die Auslegeware an: Darunter kommt ein Kabelschacht zum Vorschein, hautfarben rosige, zu armdicken Strängen gebündelte Kabel verlaufen unter dem Filz. Tipp du die Wörter in die Tastatur, in den Rechner, tausend am Tag. Du fütterst eine Maschine – und dachtest immer, du hilfst Leuten, sich zu entscheiden.

47 Winter

Gesetzt den Fall … Quatsch. Stell dir vor, an alle Wintertage wie diesen könntest du dich erinnern: an einen milchigen Himmel 1967 – den Schneematsch an einem Dezembertag 1973 – Wildgansschwirren eines kalten Abends 1986 – das erste plötzliche Graupeln 1995 – die schmale Sonne Ende November 2002 – – was würde es ändern? Nichts als siebenundvierzig durchlebte und nur mehr virtuelle Winter hättest du vor Augen. Erleben ist anderswo: hier. Erinnerung ist leblos (9.12.)

Eindrücke

Äußeres Ansehen – inneres Erleben: Angst um Geltung – drängendes Sichäußern: Der Stau an dieser Membran sorgt immer wieder (seit Jahrzehnten unaufhebbar) für Eindrücke von Unwirklichkeit.

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Die „Hoffnung“, sie hat Federn –
Und nistet in der Seele –
Nie endet ihre Melodie –
Auch wenn ihr Worte – fehlen –

Und klingt – bei Böen – besonders süß –
So sehr der Sturm auch lärmt –
Der so ein Luftding fast verdrießt
Weil es so viele wärmt –

Ich lauschte ihm im kältsten Land –
Und auf dem fernsten Meer –
Doch, selbst in größter Not, wollt es
Kein Krümelchen – von Mir.

Emily Dickinson

Weitwach

Schlafen – im Zug, der durch verschneite Landschaft fährt, so lange, bis du aufwachst, hellwach (weitwach: wide awake) neu beginnen willst und aussteigst, ohne zu wissen, wo (Berlin – Hamburg, 7.12.).

Schnee

Die Tage lärmen grau, die Abende sind schwarz, die Nächte, wenn die Kälte kommt, weiß vom lautlosen Schnee.

Schnee – die Besinnung. Schnee – das Feierliche. Schnee – die Ruhe. Schnee – die Pause. Es – was? – schneit. Es hat aufgehört zu schneien – was hat aufgehört?

Überall tropft der tauende Schnee, das schmelzende Eis mit leisem, plinkendem Aufprallen, Aufklopfen, sodass es exakt wie das Knispeln der Meisen an Körnern, ihr Aufknacken klingt (6.12.).

Landkarte ohne Meer

James Blakes berückender Dubstep von „The Wilhelm Scream“: Das Elektronische setzt neu an zu empfinden und will erzählen, nicht immer nur tanzen. Es ist die hörbare Ablösung, die Bilder der Lyrics noch ganz medial: „like a waterfall in slow motion, like a map without an ocean“ (4.12.).

James Blake, „Klavierwerke“ (0:00) und „The Wilhelm Scream“ (6:28), Haldern Pop Festival 2011

Drei Stimmen

„Ich hatte Freundinnen, und meine Freundinnen hatten Geschwister. Meine Geschwister waren Tiere.“

„Angehörige von bereits Verstorbenen“, sagt die Stimme im Radio und gehört offenbar zu Einem, der sich für einen Untoten hält – so wie uns alle.

Lebendigkeitsgeräusch, Klang: das Tropfen von tauendem Schnee in der unerwartet warmen Dunkelheit der Nacht (3.12.)

Eine Vielzahl von Ursachen

„Ein Vielzahl von Ursachen, die früheren Zeiten unbekannt waren, wirken jetzt mit vereinter Gewalt, um die Unterscheidungskräfte des Geistes abzustumpfen und ihn, indem sie ihn zu jeder spontanen Anstrengung unfähig machen, zu einem Zustand von beinah roher Stumpfheit degradieren. Die am stärksten wirksamen dieser Ursachen sind die großen nationalen Ereignisse, die sich täglich abspielen, und die zunehmende Ansammlung der Menschen in den Städten, wo die Gleichförmigkeit ihrer Beschäftigungen ein Verlangen nach außerordentlichen Vorfällen hervorruft, welches die schnelle Mitteilung von Nachrichten stündlich befriedigt.“ (William Wordsworth, Vorwort zu den „Lyrical Ballads“, 2. Ausgabe, herausgegeben mit Samuel Taylor Coleridge, Bristol 1800).

Gitter und Rückwand

Nichts verwandelt den Garten im Lauf des Jahres außer der Garten selbst – bis der erste Schnee fällt (1.12.).

Schwarze Vögel, weiße Vögel – im kahlen Geäst die hängengebliebenen Äpfel, eine Handvoll Meisen. In der dunklen Voliere wehen mit jedem Windzug Tauben hin und her zwischen Gitter und Rückwand (2.12.).

Überallhin

Kurz vor Abschluss eines Romans und Figuren- und Empfindungsgewebes wie nun nach zweieinhalb Jahren von „Nie mehr Nacht“ tauche ich aus einem Tunnel auf und stehe zurückgekehrt zur Lichtwelt an einer hellen Kreuzung, von der hunderte Straßen und Wege abzweigen. Überall Häuser, mit überall offenstehenden Türen, Fenstern, Einfahrten, Durchgängen und Eingängen. Überallhin kann ich gehen – darf nur nicht vergessen, dass ich nicht allein, sondern dutzende bin (30.11.).

Recoleta

Fünf Jahre her, da liefst du am dem Namen nach dunkelsten Tag des Jahres, am 29. November, durch Buenos Aires, und es war heiß, hell, Hochsommer am Rio de la Plata. Du warst ein Verlorener und bist es heute nicht mehr, so grau und dunstverhangen der Tag in Hamburg („Amburgo! Amburgo!“) auch ist. „Zurückgekehrt zur lichten Welt“ bist du, und den Ausweg aus dem Inferno, den Noteingang, fandst du heute vor fünf Jahren unter den großen alten Bäumen auf einem anfangs gehetzten, dann immer langsameren und schließlich endlosen, bis heute andauernden Spaziergang durch die fremde Stadt hinauf nach Recoleta (29. November, 2007 / 2012).

Kalenderblätter

Gut, es zu sehen: Dein Arzt altert im selben Tempo wie du – und wie deine Kinder älter werden, so auf den monatlich wechselnden Kalenderblättern auch seine.

„Wenn du fürwahr dein Licht vom Himmel hast, / Dann, Dichter, leuchte mit dem Himmelslicht“ – (William Wordsworth – heute beginnst du deine Exkursion zu ihm und mit ihm)

Die Nachbarn motten ihre Sommerwohnmobile ein – oder verproviantieren sie, um noch diese Nacht auf und davon zu fahren.

Einbildung

„Ab heute darf geschmückt werden“ – was ist damit gemeint? Etwa alles? Und wie lang darf geschmückt werden? Von wem? Von allen? Für immer?

Einbildung – dass diese Stille im Krankenhauspark eine abwartende ist? Worauf würde sie warten? Oder ist es umgekehrt: Wartest du auf die Stille im Krankenhauspark? (Bergedorf, 27.11.)