Erlösung

Wenn Michail Eisenstein nachmittags in die Alberta iela ging, um in der Rigaer Neustadt den Bau eines neuen Jugendstilhauses zu beaufsichtigen, schickte er seinen Sohn währenddessen ins Kino Splendid Palace. Schnell ging Sergei davon und heftete die Augen auf die Erker, die Arkaden, die Gesichter, die Eulen, die Greife, die Sphinxe und die Frauen mit den großen Augen und nackten Brüsten, die sein Vater gezeichnet hatte und die in der Alberta iela zu Stein geworden waren.

„Remember: No one questions a snow-leopard.“ Paddy McAloon

Eine riesige hölzerne Lunge, die pumpt und saugt, klingt und singt – die große Orgel im Dom zu Riga. Lize Reine spielt die Toccata aus Charles-Marie Widors fünfter Sinfonie. Spielt unsichtbar. Hunderte Menschen sind aus dem Schneetreiben in die Kathedrale geströmt und sitzen, viele mit geschlossenen Augen, in den Bankreihen. Die Musik. Als äußerte sie Empfindung. Als spendete sie unmittelbar Trost. Mehr noch, als wäre sie selbst der Glaube, sichtbar auf den Gesichtern, die wieder Antlitze sind. Als nähme sie die Sorgen, schluckte sie, um sie Musik werden zu lassen, so spürbar erlöst bin auch ich. (7.12., Rigas Doms)

Im Restaurans

Während die leeren Straßenbahnen durch den Abend surren, lese ich in einem Restaurans am Zigfrīda Annas Meierovica Bulvāris achtzig Seiten von Bruno Schulz‘ „Zimtläden“: „Die Dämmerung auf dem Marktplatz hatte die Farbe goldenen Rauches angenommen. Einen Moment lang konnte dieser rauchige Honig, dieser milchige Bernstein die allerschönsten Nachmittagsfarben hervorbringen. Doch der glückliche Moment verging, das Amalgam des Morgenlichts war verblüht, das quellende Tagesferment, beinahe schon ganz aufgegangen, fiel wieder in sich zusammen, zurück in kraftloses Grau.“

Feuerländer.

Barack Obama, diese bislang größte Enttäuschung des neuen Jahrhunderts, trauert um Nelson Mandela. Ein unverfrorener Zynismus. Das Einzige, was Obama mit Mandela gemein hat, ist das A am Ende des Nachnamens. Wo Nelson Mandela für die Freiheit in Gefangenschaft war, ist es bei Barack Obama genau umgekehrt: Unter seiner Administration sind Sicherheit und Freiheit einzig Vorwände für Kontrolle und Überwachung. Wo Mandela sagte: Habt keine Angst! – sagt Obama aus eigener Furcht heraus das Gegenteil.

No, you cannot!

Katze mit Mütze

Das Tier ist ein Phänomen. Das Tier ist eindeutig mehr als eine Katze.

Weißer Nebeldunst morgens und abends, dazwischen drei Stunden Licht, sonst Taggrauen. In drei taggrauen Tagen bin ich in Riga, wo es schon schneit, und in vierzehn auf Madeira, wo noch vieles blüht. (2.12.)

Vorgestern noch lief ich an der Kieler Förde entlang durch die kalte Nacht. Ein pechschwarzes Wasser, durchdringende Stille, in der draußen auf See Möwen riefen. Und gehe heute in denselben Stiefeln durch die Altstadt von Riga. In feuchter Dunstkälte ist ein Weihnachtsmarkt vor dem Dom aufgebaut und begeistert keinen Menschen. Bernsteinladen an Bernsteinladen. Mit leeren Blicken die Büste Herders. Niemand wird sich an eines der Souvenirgeschäfte je wieder erinnern. Ihr schönen Pelzmützen, wie wieder lebendig werden? Birkenmoore, Birkenmoore! Und Trabantenstädte mit minoisch-labyrinthischen Einkaufszentren in den Schlamm gebaut. Unter dem riesigen Himmelshellblau. (Riga, 5. Dezember)

Brunnen im Ozean

Seit vier Wochen wandert ein Schmerz durch deine linke Hand. Vor vier Wochen bist du nachts volltrunken über den Basketballkorbständer auf dem Grundstück des Freundes gestürzt. Der Schmerz saß seither im Daumenballen, und so saßt auch du im Dunkeln, im Nieselregen, unter den schwarzen Fenstern von F. Und immer wieder seitdem: Träume von den Sekunden des Sturzes. Der Schmerz in deiner Linken, beweist oder widerlegt er Wittgenstein? Er schrieb, die Dichtung sei wie ein Brunnen im Ozean der Poesie der Erde.

Novemberreste

Der Winter ist wach. Sternenklare Frostnächte. „Ich möchte ein Eisbär sein. Eisbären müssen nie weinen.“ Grauzone. Selbst Orions Schwertgehänge, selbst sein in der uralten Vorstellung winziges Haupt – er ist ja blind! –, deutlich zu sehen.

Durch den Bienenwabendrahtzaun flieht ein Vogel, wie ein Pfeil so schnell. Erst weit überm weißgefrorenen Garten klappt er die Flügel auf und setzt in seinem Schnellen Segel.

In jedem seiner Bücher taucht es auf: Lars Gustafsson vergleicht das Pupillenschwarz (des Tiers) mit dem Schwarz der Galaxis zwischen den Sternen.

Der November ist die Zeit der Dorsche.

Das Bundesverdienstbrot!

„Es ist eine Art Terminmoos, das mir das Leben überwuchert. Und ich habe keine Messer dafür, bin kein Vertikutierer.“ – „Sei Schaf.“

Nach Benjamin Franklin gibt es drei Arten von Menschen: diejenigen, die unbeweglich sind, diejenigen, die beweglich sind, und diejenigen, die sich bewegen. Vergessen hat der kluge Einsortierer diejenigen, die zusehen: die Beobachter. Sie scheinen unbeweglich, bewegen sich ruckartig, stehen scheinbar erneut still. Sie bewegen sich innerlich, sie erinnern sich! Zum Beispiel an dich, Franklin.

Wovon wir nicht sprechen können, darüber müssen wir reden.

Dein Sternenzelt

Wenn du morgens aufwachst und denkst: Wieso hat mich die Rezeption nicht geweckt? Und wenn du in die Küche kommst und das Frühstücksbüffet nicht findest. Und stehst du dann vorm Haus, im Regen, und kein Taxi wartet. Dann bist du zu Hause.

Käsereklame, aus Frankreich, mit Aufklebern: „Jetzt gratis: Dein Sternenzelt!“

Das Kind beginnt Musik zu hören, wie du sie selber hörst: nicht Lieder, sondern „Stellen“ – „jetzt kommt die schönste Stelle“. Ablösung von den wirklich Musik Hörenden: Sie hören Strukturen, die Musik ganz, das Kind und ich hören Stellen. Und während wir die schönsten Stellen hören: stumme, schweigsame, verschwiegene Blicke ins Leere, in die leeren Stellen im Freien (Winterhude, 23.11.).

Das Uferwäldchen

Der Winter ist erwacht. Déjà l’hiver. Weißgefroren das Gras, die noch nicht kahlen Bäume, die liegen gebliebenen Äpfel. Das beschwichtigende Glitzern des Frosts. Der Winter räumt das Jahr aus, unbarmherzig Inventur haltend lässt er sterben, Meisen, Schnecken, Libellen, damit sie landen kann: die Schneearmee. Drei aneinandergekoppelte Dieselloks rasen führerlos durch den weißen Dunst und verschwinden darin. Bauarbeiter lachen in der gedämpften Stille, weil sie die Kunst der Gleichgültigkeit beherrschen. Die Kate, die sie abreißen, stand 347 Winter lang am Rand des Uferwäldchens (21.11.).

Eine andere Wirklichkeit zieht vorüber: U eines Wildgänseschwarms am wolkenverhangenen Novembernachthimmel.

Die Na-ja-Böschung

Ein britischer Junge erklärt seinem Bruder den Unterschied von Ritter und Nacht: „At nighttime the knight went for a walk.“ Und der kleine Bruder antwortet: „And so the night became knighttime.“ (Hameln, 15.11.)

Ich erinnere mich deutlich an lang zurückliegende Gedanken über die Unwirklichkeit.

Die Na-ja-Böschung. Zwei Mädchen kommen mir auf Fahrrädern entgegen, Ranzen auf dem Rücken, das Zippelhaar flatternd im Regendunst, vertieft in ein Gespräch über … die Zeit … den Körper … Bedeutungen … Erzählen. An einer schlammigen Grasböschung trennen sie sich, ein Mädchen biegt ab, eines fährt weiter: „Na ja, bis morgen!“ Diese Böschung im Regen, das graue Gras und den Morastgeruch erkenne ich wieder: Das Gespräch pausiert an der Na-ja-Böschung, es regnet weiter, und morgen der Tag wird ein neuer sein (19.11.).

Warten auf die Welt

Scheinbar vertieft in eine Botschaft, vielleicht bloß eine Neuigkeit, stehen oder sitzen die jungen Leute da und blicken auf den Bildschirm in ihrer Hand. Und nicht selten entlarvt ein heimliches Aufblicken das vermeintliche Vertieftsein als vorgegeben oder gespielt. Das Handy in der Hand, es schirmt wohl ab, es zerstreut, auch die Angst, und scheint zu schützen. Wie war das früher? Als Junge oder junger Mann hatte ich nichts in der Hand, erst später das tarnende Buch als Schutz, als Schirm. So stand ich am Busbahnhof, saß im Bus und in den Wartezimmern der Welt. Ich muss gezwungen gewesen sein, in die Welt hineinzusehen, und habe nichts tun können als zu warten. Worauf? Warten sie auch, die Handygucker? Das Warten also ist gleich geblieben? Ich habe auf die Welt gewartet, und ich warte noch immer.

Tod und Teufel

Auf dem Küchenfußboden liegt rücklings, die schillernde Flügelunterseite nach oben gekehrt, eine türbisblaue Libelle. Sie stellt sich tot. Denn vor ihr sitzt das Tier, das sie gefangen und hier hineingetragen hat. Das Tier betrachtet die Libelle, die grünlichen Flügel, die schimmern, sich sonst aber nicht bewegen, und hält den Tod offenbar für unglaubwürdig.

Vergiss nicht: Beim Schreiben, von Sätzen, von Versen, geht es (dir) nicht darum, was am Ende auf dem Papier (diesem Bildschirm) steht. Geht es dir nicht um das Schreiben selbst? Lange dein Irrtum. Wenn es (dich) nicht lebendiger macht, lass es sein. Pull down, I say, pull down. Verhilft es Anderen nicht dazu, sich lebendiger zu fühlen, scher (du) dich mit deiner „Lyrik“, deiner „Literatur“ zum Teufel und unterhalte lieber den (13.11.).