Vom Reden und vom Erzählen

Wenn du nicht von dir erzählst, was willst du erfahren, hm? Du erfährst doch nur dann von dir (und mir), wenn du erzählst!

„Kann ein Vergleich ,erscheinen‘? Ja doch: Nur so, kommt mir vor, ist er am Platz und es ist zumindest was dran an ihm.“ Peter Handke

Denk an Berlin: Nachts auf einem Dach sitzen, mit lauter jungen Leuten, die rauchen und trinken und klagen, dass sie schon 34 sind … „Hilfe, der Anfang vom Ende!“ – Nein, viel schlimmer: die Mitte der Mitte. (Und da hilft dir keiner.)

Während sie dir die Haare schneidet, erzählt die Friseurin von Key West, wo sie im Urlaub war. Sie erzählt von den Hunderten von Brücken, eine flacher als die vorige. Von dem Wasser zu beiden Seiten der Straße. Von der Farbe des Wassers in Key West erzählt sie, während sie in den Spiegel blickt.

Gefragt, ob er etwas über seine Inspirationsquellen sagen könne, antwortete Leonard Cohen – es war auf seiner „Bird On A Wire“-Welttournee, es ist 40, 42 Jahre her –, nein, dazu könne er absolut nichts sagen. Der Reporter (war er Deutscher?) fragte Cohen daraufhin, worüber er denn gern reden würde. Cohen sagte: Am liebsten würde er überhaupt nicht reden.

Das Brennstoffzellenpostauto

Die tiefschwarze Tätowierung auf dem Unterarm des australischen Dichters entstand, erzählt er, über einen ganzen Tag hinweg. Ein Maori-Hüne aus Neuseeland fragte ihn nach seinem Leben, Alltag, seinen Kindern, Frauen, seinem Scheitern, seinen Verletzungen und Freunden – alles findet sich wieder in den Mustern aus Tieren und Schatten auf dem Arm. (Berlin-Wilmersdorf, 18.9.)

Der Taxifahrer, der mich zum Haus des Rundfunks fährt, erzählt, eigentlich sei er Buchhändler – und legt mir Fontanes „Unwiederbringlich“ ans Herz.

Suppenwetter!

Alles, was du sagst, ist wahr, nur dir nie passiert.

Auf dem gepflasterten, wie spätmittelalterlichen Platz vor dem Salzhaus steht ein mächtiger Brunnen, ohne Figur, nur das Becken. Ein Junge planscht in dem seltsam hellblauen Wasser (wie in einem Traum), und auf die Frage, ob der Brunnen tief sei, springt er vom Rand, taucht und bleibt lange verschwunden (wie in einer Zeit aus Wasser). (Brugg, Aargau, 19.9.)

„Immer“, sagte sie, „immer sagst du immerhin!“ – „Immerhin“, dachte er. „Immerhin sage ich nicht ständig immer.“

Ein Mann steht auf dem Weg und hat den Kopf in einen hohe Hecke gesteckt, er raunt und murmelt, als ich vorbeigehe, er blickt mich an aus einem tropfnassen Gesicht, dann steckt er den Kopf zurück in die Hecke, und ich, voller Neid, gehe weiter, hinunter zum Fluss.

Egal ist bald vorbei.

„Das Brennstoffzellenpostauto?“ – „Ja, genau, und das Kind des Fahrers.“ – „Die Brennstoffzellenpostautofahrertochter?“ – „Sieht so aus.“

Dahintreiben im Eigenen

Im hinteren Teil des Hauses steht die Tür offen, darin zerschneidet der Schlachter ein großes Tier. Der Bus fährt um das Haus herum, und vorne stehen die Frauen im Laden und fressen. (Frankfurt-Seckbach, 12.9.)

Vor einem Laden, in dem sich der Preis der gewünschten Bücher nach dem Umfang bemisst, bleibt das Kind stehen, deutet auf das Geschäft und sagt: „Da! Ein Vater mit Papageigesicht …“

Tatsache, d. h. Oberfläche.

Im Reich des Erbes aus Rauch: im Raucherbereich!

„Immer hat sie Hunger, immer“, sagt ein Junge über ein Mädchen, das neben ihm steht und auf den Fluss blickt. (Fuhlsbüttel, 15. September)

Er möge die Ruhe, schreibt mir der Freund, der in Schweden lebt. Und dass er immer noch nichts verstehe. „So kann man noch einmal anders im Eigenen dahintreiben.“

Nanas Minze

In der Abendsonne treiben unter den Bäumen lauter gelbe Blätter auf dem Wasser – als hätte der alte Sommer die Haut abgeworfen und triebe davon. Es ist das Spätsommergefühl, das sich einstellt und deutlich von dem im Frühherbst unterscheidet – Wehmut (Sommerabschied), Demut (Herbsteinverständnis). Die Zeit zeigt sich. Das schreckliche Wunder Vergänglichkeit. (Fuhlsbüttel, 8.9.)

Der Wind in den Baumkronen erzählt, ja, aber nicht von sich. Dir erzählt er von dir.

Zurückgeschenkte Erinnerung: „Nanas Minze“ – schmeckender Name. So hieß das Kraut, der getrocknete Kräutertee, mit dem wir auf dem Schulhof den Tabak bestreuten, damit unsere Zigaretten rochen und schmeckten wie das unerreichbare Gras, das wir „Marie-Johanna“ nannten.

Das pummelige Mädchen, das traurig aus dem Zugfenster blickt, hat auf dem Busen seinen Namen stehen: Blume 2000.

Vergiss nicht die Schönheit der Absurdität.

Im Grunde eine Liebe wie zum Schreiben und Lesen, meine Liebe zu Hamburg.

Jede Straßensperrung ist ein Fest

Was wir alle am längsten beherrschen und am besten können: das Verbieten – ihr, ihm, ihnen, uns. Daher sind wir alle – du auch! – am schlauesten im Umgehen von Verboten.

Das Kind im Sand baut Berge, Wüsten, Türme, Vulkane, Schluchten, Straßen, Wolkenkratzer. Das Kind im Sand sagt: Ich baue Amerika. (Planten un Blomen, 3.9.)

„Please keep in mind to avoid foul language“ heißt es mit Hinweis auf jugendliche Leserinnen und Leser (die sich darüber schief lachen) von den Political Correctness-Heinis aus der europäischen Sicherheitshauptstadt London.

„Da, eine Blühbirne“, sagt das Kind.

Jede Straßensperrung ist ein Fest, der Leere und der Stille, und jede Sperrung einer Kreuzung eine neue Straßengattung.

„Haben Sie eine Nasenatmungsbehinderung?“

„Jetzt geht’s los!“ – „Let’s get lost!“

Meine Stimme ist nicht meine

Es geschafft haben … was denn? Geschafft? Doch nur sich abzulenken von der Angst.

In der U-Bahn, eine junge Frau, ein junger Mann, sehr unterschiedlich, anfangs fast stumm, finden zueinander, als sie entdecken (zufällig, im Gespräch, die Augen fliegen ihnen auf), dass sie beide je ein Paar Mississippi-Höckerschildkröten zu Hause sitzen haben.

Es gibt Menschen, denen liegt am Herzen, wie es dir (er)geht, und es gibt Menschen, denen liegt am Herzen, welche Auswirkung es auf sie hat, dass es dir so geht, wie es dir geht (was ihnen herzlich gleichgültig ist). (29.8.)

„… mit Permanent-Anfangsfinder!“

„Ihre Stimme ist nicht Ihre“, sagt die junge Ärztin (HNO) und hantiert herum mit ihren verchromten Gerätschaften. „Nach all diesen (falsch gesprochenen) Jahren müssen Sie herausfinden …“ – „… wie ich klinge?“ – „… wie sich Ihr Körper wirklich anhört, ja.“ – „Ja?“ – „Ja!“ – „Nein.“

Die beiden älteren Frauen, die bei jedem Wiedersehen neu die Gründung ihrer Freundschaft, ihres Befreundetseins feiern: das Erröten der einen aufgrund des Lobes der anderen. Und die sich immer weiter und tiefer entwickelnde Geschichte dieses Ur-Errötens, indem sie beide sich und aller Welt bei jeder Gelegenheit davon erzählen.

Aber die Wege

Im Treppenhaus der Radiologie-Praxis steht in einer Ecke ein See aus Erbrochenem.

Das 1. Hamburger Poesie- und Literaturfestival wirbt auf seinen Plakaten mit den Visagen von zehn abgehalfterten Schauspielern. Viva Las Vegas!

„Kein Wunder, dass wir zeitlebens versteinern“, schreibt ein Dichter in einem Kalender – und irrt gewaltig. Angesichts der Welt, ihrer Schönheit, ihres Reichtums, ihrer Widerständigkeit gegen den Tod, angesichts unserer Fantasie, der Liebe, der Kinder, der wundervollen Tiere – ist es ein Wunder (und eine Schande), DASS wir zeitlebens versteinern.

Über die Felder, durch den abendlichen Wald, das Gras, das herbstliche Laub an den Knicks. Disteln, Schnecken, deine Schritte, es scheint alles wie ehedem, vor 25 Jahren, als du täglich hier gingst.

Aber die Wege, die Ränder, die Schatten – erinner dich – stimmen nicht. Einmal mehr gehst du mehr in dir selber spazieren als dort, wohin du zurückzukehren versuchst. Du hast dich verirrt, mein Freund.

Da liegt im letzten Licht der Weg, den du gesucht hast: guter Weg! Ganz zugewachsen, ungefunden von den Golfplatzärschen. Wie oft du hier gingst! Und jetzt wieder. Noch immer am Leben. Lebendig. (Escheburg, 26.8.)