Mitsterne

Noch einmal Novalis, dessen Fragmente unauslotbar tief und schön sind: „Wie wir, schweben die Sterne in abwechselnder Erleuchtung und Verdunklung – aber uns ist, wie ihnen, im Zustand der Verfinsterung doch ein tröstender, hoffnungsvoller Schimmer leuchtender und erleuchteter Mitsterne gegönnt.“ Mitsterne. Gegönnte Mitsterne! Vergleiche das mit dem Mitstern Gryphius, mit dessen „An die Sternen“.

Kerzen für den Dornendocht?

Alles überprüft!

„Review“ heißt das Label der Klamotten, in denen ich am Fluss entlang trabe, und der Slogan dazu: Review loves to dress you. Liebend gern kleidet die Rückschau dich ein.

Ein Wintersonnenuntergang, gelb vor dunkelviolettem Himmelshintergrund wie das Flutlicht über dem abendlichen Sportplatz, als ich ein Junge war. (2.2.)

Heute hat das erste Mädchen, das mich küssen durfte, Geburtstag. Es wird ein halbes Jahrhundert alt.

Alles getestet!

„Von dem negativen Prinzip des Staats (Sicherheit) und dem positiven Prinzip des Staats (Erweiterung oder Sicherheit im höhern Sinn). Beide greifen ineinander ein. / Polizei – und Politik“ Novalis, 1797

Blick der Landschaft

Die Landschaft … „Schwer zu verstehen / ist nämlich die Landschaft, / wenn du im D-Zug von dahin / nach dorthin vorbeifährst, / während sie stumm / dein Verschwinden betrachtet“, schreibt W. G. Sebald, ein Gedicht, entstanden in den frühen Sechzigerjahren, das er an den Anfang des zu Lebzeiten nie veröffentlichten Bandes „Schullatein“ stellt. Das verwirrend spiegelbildliche Verhältnis von Landschaft und Beobachter, von Betrachtetem und Betrachter scheint zurückzugehen auf Sebalds Lektüre der Schriften von Maurice Merleau-Ponty, von dem er, ohne es kenntlich zu machen, später in einem Aufsatz über Gerhard Roth die Aussage übernimmt, „wir“ würden „im Schauen“ spüren, „wie die Dinge uns ansehn, verstehen, daß wir nicht da sind, um das Universum zu durchdringen, sondern um von ihm durchdrungen zu sein.“ … blickt ins Zugfenster Sebald, so hat es auch hier den Anschein, muss das Weltall interviewt haben. Merleau-Ponty beschreibt dagegen schlicht einen Eindruck, der zum Alltag nicht nur des Dichters, sondern eines jeden empfindsamen und mit den eigenen Zweifeln lebenden Menschen gehört. In „L’œil et Jillian Edelstein. W. G. Sebald l’esprit“ heißt es: „Action et passion si peu discernables, qu’on ne sait plus qui voit et qui est vu“ – ein Gedanke, den Sebald in der drei Jahre vor seinem Tod erschienenen Porträtsammlung „Logis in einem Landhaus“ auf das bildnerische Werk Jan Peter Tripps bezieht und dem er auch in seinem einzigen auf Französisch geschriebenen Gedicht Ausdruck gibt: „J’ai senti // certains jours / que c’étaient / les arbres qui / me regardaient“. In der Übersetzung von Juliette Aubert lautet dieses micro poem, das von der lebenslangen Beschäftigung Sebalds mit einer intersubjektiven Poesie erzählt:

Mir schien

an manchen Tagen
die Bäume
waren es
die mich ansahen

Ein Brief aus Venedig

Wo er sei, da sei oben! Er habe sich gut verkauft, sagt der Skisportler noch, bevor er abtransportiert wird und man ihn für immer vergisst.

Hurra! Hurra! In drei Monaten ist Ostern! Hurra! Viva Las Vegas!

Im Schneetreiben die davonstürzenden Vögel wie Flocken.

Am Morgen wurde mir klar: Der Teufel kommuniziert mit den verlorenen Seelen per SMS. Falls er überhaupt kommuniziert.

Der Brief eines älteren Herrn aus Venedig traf heute ein, dezent parfümiert, voller Noblesse und Zurückhaltung.

„Der Baum kann mir zur blühenden Flamme – der Mensch zur sprechenden – das Tier zur wandelnden Flamme werden.“ Novalis

Sophie_Gray O Sophie! Nicht erst seit dem Tod seiner fünfzehnjährigen Verlobten Sophie von Kühn war der Begriff Philosophie für Novalis von zentraler Bedeutung: Hardenberg war Philosoph im romantischen Sinn, war es durch und durch. Eines seiner verblüffendsten Notate aus dem „Blüthenstaub“ könnte ich auch heute Abend in der U-Bahn von einem halbstarken Slammer gehört haben: „Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Phil(osophie).“

Bild: „Portrait of a Girl“, das 1857 gemalte Porträt der Sophia (Sophy) Gray von John Everett Millais

Das Wacholdergewehr

„Das Herz ist der Schlüssel der Welt und des Lebens. Man lebt in diesem hülflosen Zustande, um zu lieben – und anderen verpflichtet zu sein. Durch Unvollkommenheit wird man der Einwirkung anderer fähig – und diese fremde Einwirkung ist der Zweck. In Krankheiten sollen und können uns nur andere helfen. So ist Christus, von diesem Gesichtspunkt aus, allerdings der Schlüssel der Welt.“ Novalis

„Ich warte immer noch auf Ihre Antwort“ heißt eine Spam-Mail, die ich seit Jahren immer wieder erhalte, obwohl (oder weil?) ich nie darauf reagiert habe. Stets von Neuem denke ich nur: Da kannst du (wenn es dich überhaupt gibt) warten bis in 120 Jahren.

„So ist das nun mal im Alter“, sagt in der U-Bahn ein kleines Kind zu seinem Großvater, der es darauf nur stumm anblickt.

Über hundert, wenn nicht 130 Jahre lang lehnte ein Winchester-Repetiergewehr an einem Wacholderbaum im Great Basin-Nationalpark von Nevada. Wacholder, lese ich, wächst langsam. Beinahe reglos aus einer in eine andere Zeit. Und der Winkel in dem Park in Nevada muss sehr einsam gelegen sein. Dennoch war die Welt auch dort dieselbe. Die gesamten - Leben meines Großvaters und seiner Mutter begannen und verstrichen, während das Gewehr bewegungslos an dem Baum lehnte – für unser Auge bewegungslos. Denn langsam ist es in den Boden eingesunken, über ein Jahrhundert hinweg etwa um eine Handbreit. Und es hat sich in sich auch bewegt. Hart ist das Holz eines Gewehrschafts, oft ist er aus Nussholz. Der Nussholzschaft der Wacholderwinchester ist nur noch mürbe, er ist halb zerfallen und zerfressen.
Und wer war er, der das Gewehr an den Baum lehnte seinerzeit? Wieso hat er die Büchse stehen lassen? Da ist vieles möglich, und sicher nur, dass hier ein Gewehr erzählt … schon fühle ich mich gerettet. Es wird noch erzählt. Wir erzählen einander noch! Und die Dinge uns. Von sich. Und wir ihnen? Ja.

Wo du ankommst

North Brother Island Jedes Haus, in das ich zog, fing auf der Stelle an zu verfallen. Ruinen. Ein Leben lang! Von überall, wo ich fest glaubte, angekommen zu sein, trieb es mich weg und weiter, als hätte ich im Innern einen gewaltigen Sturm.
Wie davon einem erzählen, der nicht nur unterwegs sein kann.

Das Adieu, das lange Adieu

„Keine Angst vor der Wahrheit“ lautet der neue Werbeslogan des Nachrichtenmagazins, das mir seit Jahrzehnten Angst einjagt, da diese Leute allen Ernstes zu wissen glauben oder zu wissen vorgeben, was wahr ist und was nicht. Keine Angst vor der Unwahrheit. Keine Angst davor, nicht zu wissen, was die Wahrheit ist!

„… die wechselnden Jahreszeiten, die Flamme des / Herzens in einem Taumel der Liebe, das Rumoren des Vögelchens, welches / in meine Kammer sich verflogen hatte, das Adieu, das lange Adieu / z. B. am Ende, das lange Adieu am Ende unseres Lebens nämlich ,wie / vordem die Birke oder Weide den Blick hielt‘, so Elke Erb“ Friederike Mayröcker

Zwei Eichhörnchen, ein braunes flinkes und ein dunkelgraues vorsichtiges, springen durch die Gartenhecken und in die kahlen Haselwipfel hinauf. Einer wartet auf den anderen, wer schneller ist auf den, der Nachzügler zu sein hat, genauso wie eine Stunde später auf dem S-Bahnsteig eine alte Frau im braunen Mantel auf ihren dunkelgrau eingemummten Mann. (Ohlsdorf, 20.1.)

„Es war noch mitten am Tag, und die Sonne schien, die Sonne des Zeithabens.“ Peter Handke

Nach Novalis ist alle echte Mitteilung „sinnbildsam“. Er fragt: „Sind also nicht Liebkosungen echte Mitteilungen?“ Ich denke an den Vogelflug. Jeder fliegende Vogel ist eine Mitteilung. Bleib unterwegs!

Das Sorry Center

Schön, der Donner, wenn er alle im Zimmer gleichzeitig zusammenzucken lässt und einer dann sagt: „Es donnert!“

Wie Camus richtig bemerkt: Das Wetter ist das, was ein jeder erlebt und was uns alle verbindet. Nur erlebt es jeder unterschiedlich (wie alles andere auch). So mein Bruder, der mir mit einem Mal anvertraut, wie sehr er durch den Schneewald zu rennen liebe, „weil die Schritte dann verstummen“. Wie schwer, von deinen Wetter-, deinen unterschiedlichen und deinen sich unterscheidenden Empfindungen zu erzählen!

Auf die ersten Fingerglieder seiner Rechten hatte mein Anwalt einen Stern, die Mondsichel und noch einmal zwei Sterne tätowiert. Heute ist er gestorben, und ich trauere, ich vermisse Ingo Lill. (13.1.)

„Immer stürzt mir die Zeit zurück“, sagt der Mann neben mir in sein Festhalte- und Gesprächersatzgerät, „und ich finde mich wieder und verliere mich in einer Zeit, als du mich nicht geliebt hast.“ (Im Gnosa, St. Georg, 14.1.)

Letzte Überraschung!

„Da, das Sorry Center!“, sagt das Kind. (Berlin, Potsdamer Platz, 16. Januar)

An die sechseinhalb Millionen Menschen hören in Manila Papst Franziskus sprechen von Gnade und Mitgefühl, „mercy and compassion“.

„Du musst nicht sterben, wenn du spielen kannst.“ Tomas Tranströmer

Ja, der Schnee

Ja, in schwarzer Nacht
hat es endlos geschneit!
Und am Morgen da kam
schön wie du ein Licht.

Ja, golden leuchteten
als Sterne alle nackten
Wipfel drüben zwischen
Flussufer und Fenster!

Ja, der Schnee überall!
Ist aus dem Himmel, ist
eine Zusammenzeit, ja
ist das weiße Wunder.

Selbstporträt als Blässhuhn

Die alte Schlagjeans, ein altes Schlachtschiff.

Durch den vom Himmel stürzenden Regen getrabt, Schwächling! Bah, das ganze apokalyptische schwarze Laub vom Vorjahr, der reinste Blättermorast, ein Schmodder, wie meine Großmutter gesagt hätte, und die einzigen Zuschauer auf den Schlammtribünen längs der Wege sind zwei Blässhühner, armselige Sauriernachfahren und -nachahmer. „Vöschel!“ Blässhuhn Winterlich dürre Biester. Schön aber ist das ganze Wasser überall, Teiche, Seen, Pfützen, alles braun, schwarz, und der Fluss doppelt so breit. Der Himmel ist ein Meer über mir, über Kopf renne ich von Woge zu Wolke.

Als hätte der Sturm eine riesige Baumkrone gesprengt, so fliegt ein Schwarm Stare auf und stürzt über den grauen Januarhimmel weg.

Der ganze Schmerz, der ganze Hass, die ganze Angst, die ganze Gier. Die ganze Zerstörung und Vernichtung im Namen dieses und jenes Gottes. Ich verneige mich vor jedem, der sein Maul hält in einer Unterhaltung über den sogenannten Glauben. Verlass ist nur auf den leeren Himmel: der voller Vögel ist, voller Wolken und Luft zum Atmen. (7. Januar 2015, Paris)

Fuhr in einem geheim gekauften Polizeiwagen mit einer Polizistenuniform in Memphis herum und verteilte lachend Autogrammkarten: Elvis.

„I wonder if I’ll ever wake up
I mean really wake up
wake up and wake you too
first thing I will do“
Bill Callahan

Ich gestehe: Mit dem Blässhuhn kann ich mich voll und ganz identifizieren.