Talla

Tallaght at night Die Leute von Tallaght, „Talla“, wie sie selber sagen zu ihrer Stadt an Dublins Rand – stark und freundlich sind sie. Seit es eine Tram gibt, die sie geradewegs in die Hauptstadt hineinfährt (und wieder nach Haus in die Dublin hills), öffnet sich ihnen die Welt und fangen sie zu erzählen und zu glauben an: dass es doch weitergeht!

Berge und Gras. Keating Über die grünen Hügel kommt am Morgen ein ungeheures Licht. Es ist die irische Dämmerung, und die Möwen segeln darin über die verwaisten Parkplätze vor dem großen und noch vollkommen menschenleeren Tesco-Einkaufszentrum „The Square“. (27.2)

Blumen. Condron Ich besuche Dominic’s Community Centre in Tallaght. Als Unsichtbarer, als deutsches Gespenst sitze ich am Tisch, als drei Alte ihr Vorhaben besprechen: eine Kupferstecherwerkstatt für vier Senioren und vier Jugendliche! Draußen im Innenhof, im hellblauen Frühlingslicht, spielen Kleinkinder mit molligen Erzieherinnen, die lachen wie die Februarsonne.

Zeichnungen: Isobel Shah Keating, 7 Jahre alt, „Mountains and grass“, John Paul Condron, „Flowers“ und „More flowers“, RuaRed, Tallaght

Deine Aufgabe

„Ich verhandle mit der Zufälligkeit.“ Willy Ronis

Ronis. Ile-Saint-Denis 1956 „In England heißt jedes Pferd Horst“, sagt das Kind, „wusstest du das?“

Betrachte viel mehr als deine Aufgabe. Sag dir, auch das ist dir aufgegeben, wie ein Rätsel!

Der einzige Mensch, der mich im Bus zwischen Heathrow und Gatwick etwas fragte, war eine Taubstumme. Und ich verstand ihre lauten Gesten. Wir lachten miteinander, und vor den Fenstern das Nieseln, das graue Land vor der Riesenstadt. (London, 26.2.)

Foto: Willy Ronis, „Île-Saint-Denis, 1956“

Obacht

Was mein Nebenmann im Zug liest: „Die Seattle-Studie von der Vergebung“?

Am Morgen im Schneetreiben aufgewacht, Flensburg im Februar.

Dem Teufel geht es immer gut, das ist das Teuflische an ihm. Und daher kann ich der Teufel nicht sein.

„Obacht!“ – so hieß es, als ich ein Junge war, wenn wir mit den Fahrrädern auf die Straße oder, später, an den Bahnübergang kamen, wo der Zug nach Lenggries einmal den Fendt-Trecker des berühmtesten Bauern im Ort samt dessen Sohn plattgefahren hatte. Wie, frage ich mich seither, übersetze ich das: „Obacht!“ – mit „Vorsicht!“ oder mit „Achtung!“ – oder mit „Pass auf!“, „Aufpassen!“? Denn das Erstaunlichste an dem „Obacht!“ ist ja, dass mich der Ausdruck bis heute Tag für Tag begleitet im Wort beobachten. So bin ich ein Be-Obachter geworden. Als Beobachter nähere ich mich vorsichtig, im besten Fall achtsam möglichst vielem und passe auf, worauf ich zugehe. Auf dich. (21.2.)

Was die junge Tochter ihrer Mutter zu deren 50. Geburtstag schreibt: „Glaube an die Liebe. Erinnere dich an die schönen Dinge. Erinnere dich an den Anfang.“

„I repeat the word ,stricken‘ to myself / and stand bareheaded under the banked clouds / edged more and more with brassy thunderlight.“ Seamus Heaney

Und noch einmal Heaney: „The riverbed, dried-up, half-full of leaves. / Us, listening to a river in the trees.“

Wo du Vogel bist

Sonntagmorgen im Wald am Fluss, das irre Vogelgeschwirr und -geflirr. Gezwitscher und Glockenklang. Die Lieder der Vögel eine in die Morgenluft zersprengte Glocke. (Klein Borstel, 15.2.)

Die Zukunft deines eigenen Lebens – es ist nur wenig, was dich abhält, sie wirklich werden zu lassen, damit du nicht im Unwirklichen untergehst. Frag dich, jetzt, in diesem Augenblick, wen du liebst und was dir so viel bedeutet, dass du es ebenso liebst wie dich selbst, deine Kinder, deinen Glauben, die Leute mit ihren Eigenheiten, ihrem Ringen, am Leben zu bleiben, und ihrer Verzweiflung. Da hast du es. Voilà! Und daran halte fest, solange du aufrichtig sein kannst. „Was du innig liebst, ist beständig. Der Rest ist Schlacke“, sagt Pound. „What thou lovest well remains, / the rest is dross / What thou lov’st well shall not be reft from thee / What thou lov’st well is thy true heritage“. Die Musik deines Wesens. Die Luft, in der du Vogel bist. Die Zeit, die dir beschieden ist. Dein Glück. (16.2.)

Wie war es wohl so für Robert Walser, Robert Walser zu sein?

Trotz aller Tristesse! Trotze dem Trübsinn.

Pferd

Durch den Abend getrabt
als mein eigenes Pferd.
Lief am Fluss entlang,
ging auf die Suche
nach dir und fand dich
nirgends als in Gedanken.
Und zwischen Bäumen, da
standen überall Kinder,
die riefen: Pferd!
Pferd! Wir sind
die Schatten
der Wildgänse.

Irdische Augen

Alles diagnostiziert!

„Wird schon, wird schon, wird schon“, sagt die schlechteste, nein die beste Ärztin der Welt.

„Nur weil wir irdische Augen haben, können wir die, die vor uns ins neue Leben geboren werden, nicht sehen.“ Gustav Fechner

„Warum ist der Regen, wenn er vom Himmel fällt, nicht blau?“ Sylvain Tesson

Alles aufgeklärt!

Treppe

Den Main flussab fährt unter dem Holbeinsteg hindurch ein Frachtkahn. Es ist ein eiskalter und windiger, aber schneefreier Wintertag. Nur auf dem Schiff liegt in dicken, vom Wind gefrästen Rippen der weiße Schnee von sonstwo.

Es gibt unvergessliche Treppen. Man kann auf ihnen hinaufsteigen oder hinab, wie Könige. Treppe durch die Zeit! Wenn du jemanden hast, mit dem du auf ihr stehst, halt ihn fest, gleichgültig, was rings geschieht.

„I am half-sick of shadows!“ Tennyson, The Lady of Shalott

Durch den Schneedunst gelaufen – in dieselbe Richtung wie erst zwei, dann sieben große, laut rufende Wildgänse, die in Dachfirsthöhe über mir hinflogen. (6.2.)

Der traurige König von Schweden

Alles notiert!

Wie ein Ja in einem Saal voller Nein.

KönigEine fantastische Szene, der junge Karl XII. von Schweden, „der letzte König der Wikinger“, wie er in Roy Anderssons Film „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ auf einem großen Rappen in ein tristes Göteborger Vorstadtcafé geritten kommt. In der Ferne sieht man Strommaste. Aber vor den Café-Fenstern marschieren gelb-blau berockte Soldaten mit Lanzen vorüber „in die Schlacht mit den Russen“, während der König in dem Café ein Glas Mineralwasser verlangt und von abgrundtiefer und zeitloser Traurigkeit erfüllt ist.

Überhaupt, welche Demenz, die Liebe zu vergessen, sie vergessen zu wollen! Ich weiß es noch, es war einer der wichtigsten Wandsprüche meiner Jugend: LA TRISTESSE SANS LA TENDRESSE

Heute in der Wintersonne über dem Garten, da sah ich – unfassbar, aber dann doch plötzlich gar nicht mehr unglaublich! – einen großen blauen Raben, eine nachtblaue Krähe tauchen in eine Tanne, wo sie im Dunkeln ausruhte und wieder schwarz war. (4.2)

In der Küche wird gekachelt – und überall in der Bude ist der Staub der passend geschnittenen Fliesen. Staub überall! Da erhalten die Dinge ihre Form zurück. Sie stehen in der Welt, aber werden unsichtbarer jeden Tag.