Hygiene der Hyäne

Im gelben Licht der Nacht: Gras, das Gras zwischen den Straßenbahnschienen und der Straße. Wenn du darauftrittst, der Widerstand. (Magdeburg, 8.5.)

„Ob meine Bilder nach der Natur gemalt sind, spielt keine Rolle und ist ohne Bedeutung.“ Claude Monet

„Auf dem Keller“ sagen sie in Bamberg, wenn sie im Biergarten sitzen. Da zeigt sich wieder das Erzählerische – nix da Zeitkolorit, Lokalkolorit – des Dialekts und der regionalen Rede: Zur Kühlung lagerte das Bier der alten Brauereistadt früher in Bierkellern. Und über denen waren Gärten. Und nahe lag, oben, auf dem Keller, auszuschenken, was unten im Dunkeln kühlte.

Von Wolmirstedt nach Woldirstedt!

Laut Peter Handke gibt es im Deutschen keinerlei Synonyme. Auch zwischen Leiblichem und Körperlichem besteht demnach ein Unterschied. Gibt es also den leiblichen Körper, den körperlichen Leib? Und lassen sie sich vereinigen? (Stendal, 10.5.)

B. B. King, der King of Blues, ist gestorben. Sogar der us-amerikanische Präsident schmunzelt nicht länger, sondern trauert, heißt es. Und im Radio, das weniger lügt, heißt es dazu, schließlich sei ja auch B. Obama Teil der Popkultur. (15.5.)

Jenseits der Hecke flitzen bunte Flecken entlang – die Mützen der Kinder, die hinunterspurten zum Spielplatz am Fluss.

Da ist der zerrupfte Vogel wieder, scheinbare Amsel, die aussieht wie Emily Dickinson und seit Wochen im Vorgarten herumhüpft. Sie blickt dich an mit erwartungsvollen Augen. Sie wartet. Auf dich? Jedenfalls wartest du auf sie.

Der Schmunzelpräsident der Popkultur regt sich nicht, als am Tag, nachdem B. B. King starb, das Todesurteil für den „Boston-Marathon-Attentäter“ verkündet wird. Pop war stets nichts als Verharmlosung.

Das Kind, elf Jahre alt, erklärt mir an einem Regenvormittag den Dreisatz der anti-proportionalen Zuordnung.

„Die Konstruktion (das Konstrukt?) des Körpers gleicht der Erfindung des Einhorns (der Erfindung Einhorn?)“, schreibt Michel Serres.

Zu Hause die Hygiene der Hyäne.

Der Lockvogelstreik

„Stars, hide your fires; / Let not light see my black and deep desires.“ Shakespeare, „Macbeth“

Das Kind fragt, als es vom erneuten Streik der Gewerkschaft der Lokführer hört: „Die Lockvögel wollen nicht arbeiten.“

„Was du gesehen hast, verrate nicht – bleib in dem Bild.“ Orakel von Dodona

Lies nicht nur die Neuerscheinungen. Lies auch, was früher schon erschien, lies das Erschienene und die Erscheinungen! Und lies nicht nur in Büchern. Sondern auch in Gesichtern und Gesichten. Lies nicht bloß Zeitung, sondern lies lieber in der Welt.

Noch immer beschäftigt der Lokführerstreik viele, auch das Kind. „Nimm doch einfach ein Pferd“, sagt es ernst.

Weißt du noch? Das eine Gemälde von Camille Corot, entstanden (in deiner Erinnerung) um 1864, betitelt (in deiner Erinnerung) „Sommerlandschaft“ (bei Pontoise?). Doch in keinem Archiv, in keinem Katalog findet sich das Bild. Auf einer lichten Baumgruppe, die den Eingang eines Waldes markiert, liegt schräg und stufig ein auffälliger Schatten, der dem Ganzen ungeheure Tiefe verleiht. Du warst, als du den Schatten lange betrachtet hast, in dem Bild, leibhaftig ein Teil davon. Und spürtest Wärme und Leuchten eines seit anderthalb Jahrhunderten vergangenen Sommertags.

It Takes An Ocean Not To Break

Das Hochhaus, in dessen Penthouse im 18. oder 20. Stock ich vor zwanzig Jahren Gedichte von John Keats und meine Übersetzungen las, wurde abgerissen. Links und rechts die beiden Türme der Dreierstaffette stehen noch, doch wo an der Esplanade der Glaxo-Turm stand, klafft nun ein Loch, groß genug für das Bett Hyperions.

Nie aufgefallen bis heute: „Dynamik“ und „Dynamit“.

Nachts in Berlin, die stille blaue Kälte.

Bäume wie wir Das Geheimnis, ist es ein Heim – ein Zuhause –, gar die Heimat? Es ist jedenfalls vom Heimlichen so weit entfernt wie vom Offenen, dem offen zu Tage Liegenden. Wie das, was man Top Secret nennt, immer auch mit Sekreten zu tun hat. Verzeihung, Herr Geheimrat, aber ich bin mein eigener geheimer Sekretär. Das Geheimnis ist das Eigene, das Heimliche erwächst aus der Angst – und ist damit immer schon im Besitz aller.

„Die abhandene Welt“ heißt Margarethe von Trottas neuer Film – ein Titel, der keinerlei Sinn ergibt. Was soll denn da fehlen … die Welt ist ja da, nur mein Sensorium für sie stumpft ab, stumpft immer weiter ab. Ganz zu schweigen davon, dass es aus diesem Grund auch gar nichts gibt, was abhanden wäre. Alles ist da. Erst wenn es verloren geht, kommt es abhanden. (1.5.)

„Ein Meer ist nötig, um sich nicht zu trennen“, singt Matt Berninger von The National. „Wasser in einem Glas ist das Glas, Wasser in einem See ist der See“, sagt Bruce Lee. „Wasser ist so hart, wie es weich ist.“ Und zu einem Reporter, der ihn interviewte, sagte Lee: „Be water, my friend.“

Foto: Bäume wie wir

Die selige Stunde

„Ich bin kein Ballerina-Typ!“ – Sondern?

DIE VEREINIGTEN STimmen VON AMseln

Eine Frau steht am Weiher und umarmt einen Baum. Sie hat die Schläfe an die Borke gelegt, hört der Pappel zu und blickt dabei übers Wasser.

Seit vier Wochen der Schmerz im Kopf, ein nachmittägliches Pochen hinterm Auge – durch das die Welt wirklicher wird, weil sie vergänglich und bedroht erscheint. Ja, überhaupt: erscheint. (23.4.)

Die selige Stunde – die der Stille und leeren Fülle frühmorgens gegen vier.

In den Auenwaldstreifen verdunstet die Wasserkloake des Herbstes und Winters, und auf dem Schlamm sprießt die Buschwindröschenschwemme.

„Einen Freund haben kann nur, wer selbst einer ist.“ Emerson

Ein Kauz in Rouen

„Ich bin dein Schutzenkel“, sagt ein kleiner Junge in der U-Bahn zu seinem Großvater, der daraufhin nicht länger sterben will.

Die Toten lesen. Die Toten, sie lesen.

Treuhandstelle für Dauergrabpflege!
Treuhandpflege der Dauergrabstelle?

Ein kleiner, ein winziger Junge kommt auf seinem Zwergenrad in einem Affenzahn die Straße vom Friedhof heruntergefahren, Wimpel an der Stange im Wind, Helm auf wie auf Honda, verbissenes Gesichtchen! Und oben im Dorf, am Kreisel bei der Schule, rangeln zwei andere Kleine in Judoanzügen in der Sonne. Da ist jede Menge Licht auf dem Fluss! „Endlich“, flüstert eine Alte in der Bank, „es ist Frühling.“ (20.4.)

Auf dem Mittelmeer vor der libyschen Küste sind hunderte, an die tausend, in Wirklichkeit unzählige Flüchtlinge aus den ausgebeuteten und kollabierten nordafrikanischen Ländern ertrunken, als ein weiteres schrottreifes Boot kenterte. „Wir brauchen“, sagt der christdemokratische Minister, der nichts begreift, weshalb er, in seiner Not, Christdemokrat zu sein vorgibt – Lügner vor dem Herrn –, „neue Seenotrettungskreuzer.“

Vergiss nicht den Kauz, den du in Rouen mitten in der Stadt rufen hörtest, in Rufnähe zur Kathedrale.

Jeder Tag, ohne schreiben zu können, sei ein verlorener, ein Tag ohne Atem, sagt W. H. Auden.

Feste Adressen

Desert Ship Günter Grass ist gestorben. 87 Jahre wurde er alt. Einige Male sah ich ihn in den letzten 15 Jahren über die Buchmessen schlurfen, immer kleiner und kleiner, aber immer auch mit denselben wachen, wütenden, neugierigen, nach Geltung heischenden Augen. Gelesen habe ich ihn kaum, verehrt noch weniger. Doch wohin ich auch kam, Grass war schon dort gewesen. Ich mag im Grunde nur vier Zeilen von ihm, sein kleines Gedicht „Glück“: „Ein leerer Autobus / stürzt durch die ausgesternte Nacht. / Vielleicht singt sein Chauffeur / und ist glücklich dabei.“ (13. April 2015)

„Poésie = Gemütherregungskunst“ heißt es bei Novalis. Schön der Akzent, schön auch das Gleichzeichen, beides verweist auf die Bedeutung der Übersetzungen, die in der Tat wahre Kunst sind, ohne dass sie es nötig haben, darauf zu bestehen und sich großzutun.

Wir sind doch alle Flüchtlinge, gerade wir mit unseren vermeintlich festen Adressen.

„,Meine hellste Zeit‘, sagte Colin, ,die verbringe ich damit, sie zu verdunkeln.“ Boris Vian

Runaway Boat

In dem von Tag zu Tag (und Nacht zu Nacht?) rascheren Knospen, Treiben und Blühen wird auch der Fluss grüner mit jeder Stunde. (14.4.)

„Sonderbare Dinge geschehen im Licht der lebendigen Gegenseitigkeit.“ Martin Buber

Fotos (Cut-ups): Desert Ship (1), Runaway Boat (2)