Stadthausbrücke

Unter dem Krähenhimmel,
durch den Regen so stürzt,
die Kreuzung, die Ampeln,
der Wind in den rasselnden
Wipfeln, und wie eisig Luft
durch das Fensterglas will,
zu dir, weil du noch lebst,
nicht mal frieren musst du,
du in deinem Zimmerchen
zum Schreiben und Schlafen.

Der Kummer in der Milch

Gegen Ende fällt in seinem Roman „Der See“ selbst einer wie Gerhard Roth auf die blutrünstige Lockung von Spannungs- und Verstörungsramsch herein. Splatter pose. Doch immer wieder wühlt sich schöne Poesie ins Freie: „Er faltete die Hände vor dem Bauch zusammen, bewegte die Lippen, ging zwischen den Bäumen herum und riß Äste und Blätter herunter. Er war anfangs vor den Bäumen gestanden wie vor großen Problemen.“ Oder der Schluss, der nach viel Hanswursterei versöhnt. Wundervoll, die ganz unprätentiöse Syntax, die so blass daherkommt und doch so lebendig macht, weil sie dich in deiner Freiheit fordert: „Ein Schwarm Stare erhob sich aus den Weingärten. Eck hatte plötzlich das Gefühl, selbst ein Vogel zu sein, der schwerelos auf das Blau des Himmels zuflog, während vor ihnen die Stare begannen, ihre rätselhaften Zeichen in die Luft zu malen.“

Griechenland – die so genannte Finanz- oder Schuldenkrise ist in Wahrheit eine Politik- und Demokratiekrise. Die Habgier verhindert das Teilen, mithin das behutsame Regieren und Regiertwerden. Das Teilen aber ist immer notwendig, d. h. nötig, um eine Wende herbeizuführen. Das Teilen ist dasjenige, an dem es uns Europäern gebricht, weswegen ein vereintes Europa auch nicht der Wirklichkeit entspricht. Wir sollten jedem Flüchtling, der zu uns kommt, allein schon deshalb dankbar sein, weil er uns die Augen öffnet für unsere eigene Ich-Angst und Ich-Sucht. (6. Juli 2015)

Sommerhitze. Die Leute sitzen auf den Stufen vor ihren Läden und erwarten den Regen. Und wenn er dann einsetzt, gleichgültig, wie stark sein Prasseln und Pladdern, bleiben sie noch eine ganze Weile sitzen. So, viel öfter, leben. (Fuhlsbüttel, 7.7.)

Die blauen Mädchen gehen langsam durch den Sommerregen nach Hause, sind ja Pfadfinderinnen.

„I live in a city sorrow built, / it’s in my honey, it’s in my milk.“ The National

Erzähl noch mal, von dem jungen Mann, der in die Bank kommt, um eine Überweisung zu tätigen, und nur einen Stiefel anhat. Der andere Fuß ist nackt, und so steht er vor dem Schalter. Wo war das noch? Überall! So steht jeder, immer, in einer Bank vor einem Schalter, um eine Überweisung zu tätigen.

Vor dem Supermarkt an eine Laterne geleint wartet ein großer schwarzer Hund, der ich sein könnte.

Im Schatten des Waldrands stehen zwei gesattelte Pferde. Ihre Reiter, ein Wankender, eine Kichernde, trinken an der Waldschenke im strömenden Regen Weißwein und Bier, Bier und Weißwein, ehe sie aufsitzen und davontraben in die graugrüne Brandung. (Rissen, 12.7.)

Das Holz der toten Jahre

Berliner Tratsch: Futter für vertrocknete, verhungerte Herzen. Herzfraß.

Selbst bei den sogenannten Inklusionsklassen spricht man von Förderung der Stärken und vom Ausgleich der Schwächen von Schülerinnen und Schülern. Warum nicht Schwächen fördern und Stärken ausgleichen? Wieso nicht Schwächen stärken? Und Stärken schwächen! Peter Handke forderte schon vor 30 Jahren einen mongoloiden Bundespräsidenten für die Republik Österreich, von dem dann so manches zu lernen wäre. Ein starkes Stück! (1.7.)

„Jetzt ist Pizza angesagt!“ – „Morgen erst mal Schwimmen angesagt.“ – „Zuerst bin jetzt ich angesagt …“ – wie viele Leute heutzutage Bahnhöfe sind. Oder Bahnsteige? Aber noch mehr scheinen mir aufgegebene und lange verlassene Regionalbahnhaltestellen zu sein, an denen nur noch der Wind aus den Lautsprechern kommt: „Jetzt ist erst mal Wind angesagt …“

Hitzetage, nah an 40 Grad. Im Treppenhaus kracht das Holz jeder Stufe. Es scheint lauthals erzählen zu wollen von vergangenen heißen Sommertagen, Hitzefrei-Tagen, Kindern, die im kühlen Treppenhausschatten saßen. Aber das Holz der toten Jahre kracht bloß.

Graspause

Das Gras scheint in seinem Wachstum wider Erwarten eine Pause einlegen zu können! Was Mut macht, dass auch ein Grasende möglich ist.

Das Tier in der Tasche

„Immer wenn ich einem wirklichen Menschen begegne, vergesse ich alles, was ich gekannt habe.“ Angela Krauß

1852 malte Eugène Delacroix eine Studie aus der Erinnerung und schrieb darüber, jetzt atme die Landschaft auch ohne seine Lunge.

Im Flughafen Wien-Schwechat wird ein Passagier Franziskus ausgerufen, und die Leute blicken einander lächelnd an, um nicht nach dem Papst Ausschau zu halten.

Das Tier in der Stofftasche, das der Flugpassagier neben mir mit sich führt – es scheint wechselweise Angst zu haben und neugierig zu sein. Irgendwann, schon in der Luft, wechseln beide Empfindungen so schnell, dass das Tier einschläft.

Eugène Delacroix

„Das Bier kühlte seinen Körper, er spürte es unter der Bauchdecke fließen wie eine Infusion. Ein Segelschiff tauchte gravitätisch im schmalen Kanal zwischen dem Schilf auf. Eck war glücklich, aber er wußte nicht warum. Er bekam nasse Augen. Schwalben flogen zwitschernd über dem Wasser.“ Gerhard Roth, „Der See“

Eigentlich das wichtigste Wort meiner Zeit: „eigentlich“.

Die Beschreibung des katastrophalen Einzelnen, der Vereinzelung – ein nicht großartiges, ein wundervolles Buch ist Gerhard Roths „Der See“.

Weder bin ich Nutzer noch Verbraucher. Ich bin ein Braucher und ein Verschwender. Es ist mir das Glück, gebraucht zu werden, und mein Unglück ist oft, dass ich mich an vieles und so manchen bloß verschwende. (26.6.)

Foto: Eugène Delacroix, Daguerreotypie, 1842, aufgenommen in Frépillon von Léon Riesener

Hoffnungssüchtig, hoffnungsblind

Die daumendicke, daumenlange Hornisse, die sich ins Zimmer verirrt hat und versucht, das Fensterglas zu durchbohren – wie panisch sie zu fliehen versucht! Wovor? Dem Unbekannten, mir, dem noch größeren, noch gefräßigeren Tier? Was wäre es anderes als Angst, was die Hornisse am Wohnzimmerfenster verspürt? Und Angst soll die einzige Empfindung sein, die eine Hornisse hat? Niemals glaube ich das, und alles andere, das nicht von Angst und Liebe spricht, ist mir gleichgültig.

Die schöne ruhige Oker in Wolfenbüttel – die meiste Zeit versteckt unter Feldrandwipfeln, so rieselt sie eher dahin, als dass sie fließt. Unterhalb einer Brücke, als uns ihr schon vergessener Name wieder einfiel – die Oker! –, lehnte ein halbes Fahrrad an einem Brückenpfeiler, als könnte es sein früherer Besitzer vielleicht vermissen und würde es demnächst abholen. Oder ist er ertrunken?

„Die Menschen waren nach Hoffnung süchtig und vor Hoffnung blind, das war ihr Verhängnis.“ Gerhard Roth

„My friend, don’t confront me with my failures, / I have not forgotten them.“ Jackson Browne, „These Days“

In Innsbruck an einer Kirche: „Universitatis morbuis“ – die Universität der Toten?

Ein Mann und seine greise Mutter sitzen auf einer Bank am Ufer des Inn und blicken wortlos auf den gespenstisch schnell vorüberbrausenden Fluss. Was sie (sich und einander) sagen müssten, brauchen die beiden nicht zu äußern, weil der Fluss es schon sagt. (Innsbruck, auf dem Weg zum Traklpark, 19.6.)

Das Ameisenauto

Die polnische Dichterin, keine 25 Jahre alt, recherchiert für ihr Studium in Schottland und lebt dort davon, Fisch zu entgräten – eine Fabrikarbeit, schreibt sie, noch härter als das Rhabarberstechen in ihrer Jugend.

Auf der kleinen Elbinsel erschien dir jedes Gestrüpp einzigartig in seiner Gestalt, mit unverwechselbarem Schatten, besonderem Rauschen im Flusswind, seltsamen Amseln im Gezweig. Erstaunlicher Strauch – als wäre er selber Insel. (Lühesand, 7.6.)

Die schönen Zuckungen so vieler Leute im Gesicht, das sogleich wieder Antlitz wird, sobald sich einer unbeobachtet wähnt. Alles Kinder.

Setz dich irgendwo – gleich, wo! – hin, und sie kommen, scharen sich um dich und machen dich zum Teil und Mitglied, zum Mitmenschen! „Mit“, eines der bedeutsamsten Wörter, das Mitwort. (Braunschweig, 11.6.)

Das Kind hält ein Schulreferat über den blauen Anteil des Lichts, „das, was ich Himmel nenne“. Das Kind erzählt, Mitschülerinnen würden Tipp-ex als Nagellack benutzen. Und du erinnerst dich an deine ersten Typoskripte, die du nicht bloß geschrieben, sondern auch gemalt hast. (13.6.)

Slogan: „Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klasse.“ (Barmbek, 14.6.)

Dem Kind auf Krücken kommt im Gewimmel des Hauptbahnhofs ein Kind auf Krücken entgegen – das stumme Lächeln auf beiden Gesichtern: Sind die Zukunft.

Das Auto des Nachbarn – voller Ameisen. Er sagt: „Das Ameisenauto.“