Archiv für den Monat Oktober 2015
Tot. Tot. Tot. Am Leben
Da ist er wieder: der auf Zehenspitzen, mit durchgestrecktem Rücken, erhobenem Kopf und oft ausgebreiteten Armen und sehr geradeaus blickendem Gesicht vor dem Haus vorübergehende Mann – der so erstaunlich unwirsch ist, wenn du ihm zu nahe kommst. Der unfreundliche Engel. (18.8.)
„Sie sind ein KA28B-Fall, ich verstehe“, sagt die Dame vom Telekom-Störungsdienst am Telefon.
„Alle tot“, sagt der alte Dichter, während er in seinem Telefonverzeichnis blättert. „Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Aber der S., wo ist der? Der ist doch noch nicht tot … Aber die hier: tot. Tot. Tot. Tot …“
„Ach, Elend. Nicht mein Tag …“ – was soll das bedeuten? Gerade die elenden Tage sind und waren ja schon immer deine. Und haben dich zwar nicht weitergebracht, nein, wohin auch, aber doch spüren lassen, was du bist: am Leben. (21.8.)
Keinen Trinker darfst du verdammen. Die Trinker ertrinken – und sie zeigen dir den Weg, der ins Ertrunkensein führt.
Trakl hatte recht, nicht absolut, sondern wirklich: Alle Menschen sind der Liebe wert. Jeden könntest du lieben. Die Frage ist nur: Warum tust du’s nicht?
Die Frau mit den schönen Wimpern: In der S-Bahn steht einer auf und sagt zu ihr: „Entschuldigen Sie, Ihre Wimpern … sind wunderschön“ – und geht und steigt aus. Erst da fällt dir auf, wie recht er hat.
Eine Zeitlang war ich in einem Baumklub. Aber irgendwann wurde ich hinuntergeworfen.
Korčula
Lauter Lügen
Freunden ist ihr Hund gestorben. Seither sprechen sie nur noch das Nötigste miteinander.
Schuldenerlass für Griechenland? Nicht mit uns raffgierigen Angestellten des Konzerns Deutschland. Ausgeklügelte Finanzjochs der Noch-und-Nöcher-Macher: Dafür, dass die Griechen weitere Milliarden geliehen bekommen, erwirbt der Frankfurter Flughafen das Recht, griechische Flughäfen aufzukaufen.
„Wohin versinkt unaufhörlich, was wir erleben?“ Angela Krauß
Es gibt keine Verbesserung deiner selbst, die du eigenmächtig herbeiführen könntest. Das einzig Förderliche am Glauben an eine Selbstoptimierung ist, dass er deine Mängel offenbart, dein Mangelempfinden! Setze auf die Selbstmarginalisierung. Am Rand, da ist noch Luft, wenn auch nicht nach oben.
Im Regen geht eine Weinende vorbei.
Peter Waterhouse macht darauf aufmerksam, dass die Dichtung der Wiederholung und des Gesangs, des Repetierens und Memorierens in Paul Celans Sammlung „Die Niemandsrose“ bereits mit dem Titel und der Widmung einsetzt, nämlich im dreifachen Nennen der Silbe „mand“: „Die Niemandsrose – Dem Andenken Ossip Mandelstamms“. Die NieMANDsrose – DeM ANDenken Ossip MANDelstamms.
Lauter Lügen. Lüg lauter!
Der liebe Freund schenkt mir ein schmales dunkelgrünes Buch, das seit seiner Herstellung vor 30 Jahren in seine Folie eingeschweißt ist – ein unberührtes, wie verwunschenes Büchlein. Und nur zehn Wörter muss ich lesen, und ich weiß wieder, warum das alles: „… unvermittelt betrat man eine Zone gespitzt lauschender Stille, die, Freundin des Wassers wie der Nebel, lediglich das flache, schnelle Abtropfen der gehobenen Ruderblätter brach“, schreibt Julien Gracq in seinen Kindheitserinnerungen an das Loire-Nebenflüsschen Evre „Die engen Wasser“.
Die letzte Möglichkeit zur Bereinigung der Bilder
Mit demselben Stoß Jungs, den der Wind durchs Städele getrieben hatte (erinnerst Du Dich, mein Leser?), fuhr ich im Bus durch den Schwarzwald, von Elzach nach Haslach, von Haslach nach Hausach. Ihr Anführer war Südamerikaner, er trug einen verwegenen Schlapphut und wurde von den anderen „Gilette“ genannt.
Manchmal habe ich ein Wespenherz.
Die Trauer ist der eigentliche Abschied, nicht mehr oder nicht nur von dem Menschen, den man verlor. Sie ist die letzte Möglichkeit zur Bereinigung der Bilder, die man sich von dem Verlorengegangenen gemacht hat. Die Trauer ist das letzte wirkliche Gespräch, und ich glaube , mag irren, jeder sollte dafür allein mit sich sein, auch wenn er es nicht ist.
Ich las „Götter-“ statt „Güter-“: Götterabfertigung.
Am Rand des Waldhangs entlang fliegt ein alter Habicht in Wipfelhöhe, landet in einem Apfelbaum, kackt und fliegt dann erleichtert weiter und um die Ecke.
„In den Brachfeldern“ – Name einer Straße, an der zwei Supermärkte, sieben Lagerhallen und eine Neubausiedlung liegen.
Geh über den Narrensteg, so oft wie möglich.
Am Wegrand ein riesiger Birnbaum, mit so kleinen gelben quittenartigen Früchten, dass sie wie seine Blätter anmuten. Schöner Gefährte!
„Außerhalb unser gibt es kein Feuer.“ André du Bouchet (übertragen von Paul Celan)
Das Kieselereignis
Beleuchtete Platane, nachts im Regen: Jedes einzelne Blatt streckt sich, und der ganze Baum zittert und klingt vor Wasser und Licht. (Freiburg, 9. August 2015)
Traum in der stickig heißen Regennacht: Ich hatte ein Zimmer am Meer, doch diese See war ganz aus Sand. Überall: die Dünung und Brandung versandet, überall Sandburgen, aber alle halb zerfallen und verweht. Ich fragte meine Wirtin, wo denn das Wasser sei, und sie führte mich ums Haus. Dort brauste blau und schwarz die wilde See. Es wurde Abend, und die alte Frau sagte zu mir: „So wie mein Haus, so ist Ihr Leben.“
Die Kindheit hat nie aufgehört. In Elzach im Schwarzwald gestrandet, kann ich zwei Stunden lang einen Pulk Jungs beobachten, die sich in dem vor Ödnis krachenden Städtchen, dem Städele, herumtreiben und von einem geschlossenen Geschäft zum nächsten und wieder zurück und so immer fort hin und her geweht werden. Wie viele solcher Sommernachmittage verbrachte ich in Waakirchen, als ich neun oder zehn war! Jeder Kieselstein war ein Ereignis, jeder Fremde ein Raubritter, jede nackte Achsel einer Frau verfolgte mich wochenlang im Schlaf. (Elzach, 10.8.)
Aus einer E-Mail: „Bei der Sonne habe ich angerufen und das Zimmer abbestellt. Ich wohne jetzt für zwei Nächte in der Blume.“
Zwei Fenster, Wien
Die Wien
Am Wiener Stadtpark entlang fließt der Fluss, der der Stadt den Namen gibt, die Wien, einbetoniert, schnurgerade, durch Röhren und Tunnel, ein nach drei Hitzewochen beinahe ausgetrocknetes Rinnsal. (Wien, an der Wien, 3.8.)
Seltsames Wien: Durch Graben und Kärntner Straße, vorbei an der Pestsäule, strömen wie durch die venezianischen Hauptadern die Touristen in unfassbarer Menge, zehn, zwanzig Schritt abseits in den Nebenstraßen und -gassen aber ist es still, streunen die Vereinzelten und Vereinsamten und sitzen sie, die Sitzengebliebenen, in den Cafés und den Kaffeehäusern. Der Stumpfsinn der Leute, die zu reisen glauben und vielleicht sogar von Herzen gern reisen würden (was weißt du von ihnen – nichts) – am deutlichsten wird er wohl in den Innenstädten der Touri-Hochburgen. Natürlich sind wir alle Flüchtlinge, oder nenn es Geflüchtete. Flüchtig sind wir eh. Unendlich viel zu entdecken gäbe es, auf Abwegen, in Steinwurfnähe.
Der wundervoll übellaunige Mark Kozelek („Hello, Australia – I’ve never been to Melbourne!“) mit seinen Sun Kil Moon: spielte, wenn er trank, einhändig Gitarre, sang minutenlang ohne Mikro, erzählte von seiner Kindheit in Ohio und war dabei ganz da und unverwechselbar, unverbesserlich. Hochkomplex und diffizilst, zugleich aus Dekonstruktion und Rock’n’Roll zu kommen, vom Alltag zu spielen und zu singen („Yesterday morning I woke up to so many 330 area code calls / I called my mom back and she was in tears and asked had I spoke to my father / Carissa burned to death last night in a freak accident fire / In her yard in Brewster her daughter came home from a party and found her“ – „Carissa“, 2014) und dabei lebendig zu wirken, indem du es bist. (Arena Wien, 3.8.)
Dreibeiner
In der Schule des Frauengefängnisses verboten: Küsse.
„I care for the animals / that gather round my house / for my sister’s children / and I care for my garden“ Mark Kozelek
Und wieder heißt es: „… in den Tod gerissen …“, von einem Terroristen, einem Selbstmordattentäter. In den Tod gerissen, wie muss ich mir, soll ich mir das vorstellen? In-den-Tod-Reißen heißt doch wohl eigentlich In-den-Tod-Mitreißen oder -Mithineinreißen. Jemanden in etwas hineinreißen kann ich aber doch nur, wenn ich selbst darin bin, selbst darin fest stehe und Stand habe, oder? In den Tod reißen kann ich jemanden nur, wenn ich selbst tot bin! Diese Menschen leben also nicht?
Vergessen, oder halb vergessen, Leonard Cohens Vers von dem dreibeinigen Hund im Nebel (pseudoromantischer Schmu) – aber, seltsam: Da sehe ich doch in letzter Zeit immer wieder dreibeinige Hunde (wenn auch nicht im Nebel), sogenannte Dreibeiner.
Lancelot und sein Ozelot.
Zusammen Pferde sein
Meer und Fjorde, die weiten Felder, der schmale, niedrige Wald, und beinah beständiger Wind, eine große Leere, die aber völlig erfüllt ist, als ein See voller Schwäne und endlich der Mohn. (Thy, 22.7.)
„Irgendwann sah die Welt so aus“, sagt das Kind und zeigt es dir: „Es gab nichts, nichts als Gras.“
Slogan: „Die Schweiz wird schuppenfrei.“
Goddammit.
„Wollen wir zusammen Pferde sein?“, fragt das Kind.
Noch einmal zu dem, was du gestern sahst im Thy, zu den blassen, aber vollen Farben, den Weiten: „Eine Landschaft, ,in extremis‘ gesehen (ohne dass man irgendeine Melancholie empfände, weil man sie auf diese Art überrascht, ganz im Gegenteil). Etwas, das sich auszehrt, sich klärt, ehe es schwindet; sich verklärt, wenn man so will, jedoch bescheiden, fast unbemerkt vorübergehend, sich verbergend. Etwas letztes auch, oder besser: vorletztes; fast schon Dunkelheit, und in gewisser Weise unüberwindlich; man sagt sich, darin könnte man nicht spazierengehen, auch
wenn man es wollte, oder es wäre so wie jene Trugbilder, die sich auflösen, sobald man näherkommt oder sich ihrer zu vergewissern sucht. Ein kurzer Augenblick vor der Nacht, eine Erhellung? Keineswegs: ein anderer Zustand der Farben, etwas wie ihre eigene Erinnerung, ihr Abschied, enthalten in ihrer Gegenwart.“ Philippe Jacottet (deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz)
Der Freund, das Glück in den Augen, hoffnungsvolles Glück sein ganzer Körper, als er in die kühle See taucht – die lesbare Freude am Wasser. (Klitmøller, 22.7.)
„… Freude regte sich in seiner Brust; er wünschte plötzlich, eine Mauer möge aus dem Boden herauswachsen und ihn nicht weiterlassen, und er bliebe dann allein mit der Vergangenheit zurück.“ Tschechow, „In der Schlucht“