Archiv für den Monat Juli 2016
Tiefe und Bewegtheit
Der junge Freund, noch keine 35, schreibt mir lang von seinem Leben an diesem Tag und weiß nicht oder hat vergessen – es ist auch egal –, dass ich Geburtstag habe. Eine große Freude! Später schreibt er, den ganzen Tag schon trinke er. (9.6.)
Goethe: Wer mit Kindern lebe, werde nicht älter. Pfff. Das Gegenteil trifft zu. Es sind die Kinder, die einen altern lassen – sobald das innere Kind gestorben ist. Auch davon, wie von einem Kindesmissbrauch, erzählt der Erlkönig.
Laut seinem Sohn Ben sagte John Cheever einmal, eine gute Seite Prosa könne nicht nur eine Depression heilen, sondern ebenso die Kopfschmerzen aufgrund einer Nasennebenhöhlenvereiterung – der Dichter als Heiler, natürlich, natürlich und verflucht!
Tiefe und Bewegtheit im Begriff „erhalten“: Du erhältst etwas, hältst es am Leben oder in Bewegung, und erhältst etwas auf der Stelle dafür zurück, bekommst etwas anderes – oder das Erhaltene!
„Wir äschern hier noch persönlich und einzeln ein“, sagt der Bestatter. Und er blickt zum Fenster hinaus, wo fleißig gestorben wird, und fährt fort: „Lassen Sie im Internet bestatten, und Ihr Toter wird mit zwanzig anderen nach Polen gefahren und dort kremiert. Wissen Sie dann, wen Sie zurückerhalten in Ihrer Urne?“
Wenn zutrifft, was Solschenizyn sagt, dass nämlich Gewalt nur durch Lüge verborgen werden kann – so wie die Lüge nur aufrechterhalten werden kann von Gewalt –, dann ist vieles, was wir Lüge nennen, keine Lüge. Die meisten sogenannten Lügen sind und machen gewaltlos, ja gewaltfrei und sogar friedfertig.
Endlich eine kräftige, wahrhaftige, ja philosophische Schlagzeile: WIE VIELE IDIOTEN SOLL DIESE WELT NOCH AUSHALTEN? Auf der Stelle fühle ich mich angesprochen.
Aus einem Kochbuch: „Möhren lieben Koriander!“
Es gibt Menschen, die sind nur auf der Welt, um zu vermissen. So einer bist du.
Was mir das Leben rettet, seit ich denken kann – oder denken muss –: Musik. Also ebenso Dichtung.
In Alis Schatten
In einem Gespräch, das Byron aufzeichnet und das sich um die Frage der Notwendigkeit von Liebesgedichten drehte, soll Shelley gesagt haben, er befürworte Hassgedichte, Hassgedichte müsse es ebenso geben, und gleich jetzt werde er beginnen, welche zu schreiben!
„Das Gras wächst, die Vögel singen, die Wellen spülen den Sand weg, ich verprügele Leute“ – Muhammad Ali ist gestern gestorben, 74 Jahre alt, wovon er sich 32 mit der Parkinson-Krankheit herumschlug. Ich erinnere mich an Nächte in meiner Kindheit und Jugend, in denen wir vorm Fernseher saßen, hundemüde, aber mit großen staunenden Augen, wenn im Ring Ali tanzte und das Aufbegehren sichtbar und fühlbar wurde.
Angesichts des Todes eines Despoten kannst du nur Traurigkeit empfinden – die der Erleichterung, dass schlussendlich jeder ein Mensch ist und jetzt ein Gespräch möglich sein wird: Tod meines Vaters. (4. Juni 2016)
„We have all of us one human heart“, schreibt William Wordsworth. Die Minzeblätter sind alle verrottet – braun, purpurn, schrumpelig, zerknittert, wie alte Haut, altes Leder, alte Taschen, in denen nichts mehr ist, wenn keiner sich erinnert an die Ausflüge, die Lokale, die Tische voller Gläser und Flaschen, das Gelächter, die Gärten. Die Minzeblätter sind auf den ersten Blick allesamt verdorben, erst gepflückt, gestorben, dann verdorben. Doch es ist anders – denn es gibt frischegrüne Triebe, fast Knospen, Minzeknospen, die mitten unter den Gammelblättern wachsen. Wie? Wozu? Da staunst du. Und sie staunen dir entgegen.
Denke: an das schöne flaschengrüne Fahrrad der Großmutter, mit weißen Reifen. Auf dem ich fliehen wollte aus der verhagelten Kindheit. Das dann jahrelang im Garten des Schulkameraden stand, zwischen zwei Häusern, immer sah man es, wenn der Bus an dem Häuserspalt vorbeifuhr, – bis der Freund, der keiner war, sagte, sie hätten es zum Sperrmüll gegeben. Denke: an die Großmutter, die einmal fragte: Mein Rad, wo ist das? In einem Spalt in meinem Gedächtnis.
Das sorglose Leben kehrt nicht zurück. Du musst lernen, musst lernen, mit den Sorgen zu leben, dein Auskommen haben mit den Sorgen, Keats würde vielleicht sagen: deine Sorgen willkommen zu heißen als eine Hälfte deines schönen Lebens. (7.6.)
Nie, sagt Joe Frazier, habe er sich größer gefühlt als in Muhammad Alis Schatten.
Musper
Die vielen bunten Blüten auf den Grasfeldern kurz vor Berlin – warum rühren sie dich? Ist diese Rührung oberflächlich, manirierte Emotion, oder reicht sie tiefer, ist Erinnerung? Ein Gegensatz? Jede Suche nach Wahrhaftigkeit oder Schönheit ist gefährlich, schreibt John Cheever. Und ich schreibe: Die Schönheit braucht keine Erklärung, und ich bin nicht der Archäologe meines Lebens, sondern der, der es zu leben hat. (Berlin, 29.5.)
Heute, mit einem Mal – unvermittelt? – nein –, die großen gelben Fußnägel des Vaters vor dir gesehen, der im Sterben liegt. Und das: manirierte Erinnerung, wohliger Schmerz?
„Musper“, sagte mein Sohn, als er klein war, Musper statt Muster.
Die Sprache seiner Mutter, die Staubsaugerspuren auf den Teppichen der Kindheit, der Jugend. Das Ordnungsmuster.
Jetzt, jetzt, jetzt!
Fast.
„Das Tier ist mein Versteck und die Buchstaben versuchen, mich wiederzufinden.“ Yoko Tawada
Ex libris
Schwimmendes Messer
In Greifswald ist ein freilebender Wolf fotografiert worden, der kein Wolf ist, weil er ein Goldschakal ist, der nur hunderte Kilometer weiter südlich noch „vorkommt“ – ein unmöglicher Goldschakal in einer Greifswalder Fotofalle. Viva Las Vegas!
In Österreich keine Goldschakale in Sicht. Aber man hat – oder glaubt, man habe! – den rechtspopulistischen Bundespräsidenten Hofer verhindert, mit 50,3 gegen 49,7 %. Immerhin. Ein kräftiges Vivat, Austria! Austria felix. (Fünf Wochen später werden „Unregelmäßigkeiten“ festgestellt, weshalb die Wahl wird wiederholt werden müssen.)
Ein Messer, das schwimmt. „Gebt mir ein schwimmendes Messer!“
Gegen das Kinderzimmerfenster gebrettert: zwei junge Meisen, seit gestern flügge. Taumelten das Glas runter und hockten dann schwer keuchend, im Glasscheibenschock, auf dem Sims, bis die Mutter aus der Douglasie trötete. Erleichtertes, zu Luft gekommenes Zurückflöten. Ja, wir leben. Ja, wir sind noch da! (25.5.)
Aufgabe, sagt Papst Franziskus: „den Mitmenschen zu geben, was ihnen wirklich fehlt.“
Die Allgegenwärtigkeit des Unsichtbaren!
Das Stofftier in der Erde. „Ich musste mein Stofftier begraben!“
Ein Bewegen und Verschieben
Jede Stunde untersucht jetzt einer die Container auf dem Parkplatz, sucht wonach, Verwertbarem? Ist das die Grenze der Poesie? Nein. Im Grunde ist es der Beginn. Einer hängt sich hinein in den Altkleidercontainer, bis nur noch seine Unterschenkel und beschuhten Füße herausRAGEN. Seine Familie steht derweil im Halbkreis vor dem Container und beobachtet Papi bei der Arbeit. Ihr Lächeln, ihr Lachen, ihr Klopfen auf den Hintern des in der Tonne hängenden Vaters. Und ihre Anerkennung, wenn er Dinge hervorfischt, die keiner von uns für möglich hielt. Ein anderer fischt Blätter aus dem Altpapiercontainer, die er lesend davonträgt – ein Leser. (19.5.)
„Wir sind alle verletzt“, sagt Peter Handke im Radio, in einem Feature über Hermann Lenz, dessen Vergessenwerden er nicht verhindern konnte.
„Everyone is a burning sun.“ Wilco
Wandspruch, mitten im Einkaufsdorf: „Lebenswert – geheuchelt“.
Schluss des Auftakts von Hermann Lenz’ Roman „Verlassene Zimmer“, mit dem er 1966 seine Eugen-Rapp-Saga beginnt: „Dies geschah in einem Weingärtnerdorfe gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts und war nicht mehr als ein Bewegen und Verschieben weniger Minuten, in das die Weite hineinreicht, die unermeßlich bleibt.“
Kleines Mädchen mit Plastikblüte im Haar fragt dich: „Wen suchst du?“ Dass du dein Kind suchst, antwortest du, und das Mädchen fragt, wie dein Kind aussehe und warum du es verloren hast. „Ich kenne dein Kind“, sagt das Mädchen. „Es ist eins von denen, die mich behandeln wie Luft.“ – „Wie Luft?“ – „Dein Kind hat zu mir gesagt, ich habe Augen aus Glassplittern.“ Du sagst dem Mädchen, dass dein Kind soetwas nie sagen würde. Aber es glaubt dir nicht. „Ich habe es gesehen!“ (Stellingen, 22.5.)
Der Garten im Buch
Einhelligkeit der Dohlen
Fast haben wir es gesehen, das Licht,
Flackern, wie es den Blitzen vorausgeht,
fast war es ein leuchtendes Stocken, oben
am Himmel, über den es da so zuckte,
mit seinem magnetischen Laub
fast ein elektrisches Geäst.
Als die Stille und die Ruhe dann
fast wiedergekehrt waren, haben wir sie
gehört, nahezu alle, die Vögel, die Dohlen,
fast glaubte ich, es werden Krähen sein,
nur wenn, dann wie zersprengte, denn
fast wirkten sie einzelgängerisch,
wie sie in Pulks, so als wäre
oben in kühler Luft ihr Schwarm
fast zerrieben worden, herabtrudelten
ins Tal mit dem Gasthof zum grünen Baum,
fast als hofften sie bei uns Zuflucht zu finden,
ja als meinten sie uns! Wir blickten einander
wie Liebende in die Augen. Ergreifend war,
fast zu schön, die Innigkeit mit den Dohlen,
Einhelligkeit mit ihrem schwarzen Blitzen,
das zerplatzt war jenseits der Blicke,
fast aber war es Reden mit uns,
das Licht, die Stille, der lange Tag.
Fast war er zu Ende, und es war gut,
zum Schluss beinahe glücklich,
fast ein glücklicher Tag.
Für Antje Landshoff-Ellermann