Das Sklett

Denk zurück an den Tunnel von Vereina. 22 Kilometer lang Dunkelheit, zusammen auf dem Rücksitz des Autos mit einem Dichterfreund, dem die Angst durch den Leib steigt. Der Autozug donnerte durch den Berg, und ich dachte, glücklich, das erleben zu können, an Peter Handkes „Die Wiederholung“, wo Filip Kobal durch genau so einen, nur etwas weiter östlichen Tunnel läuft, von Kärnten nach Slowenien, nicht Südtirol in Richtung Liechtenstein, und sich müde in eine Nische zum Schlafen niederlegt. Jedes Ding in der Nische erzählt ihm von sich. Krachend braust ein Zug an ihm vorbei, keinen Meter entfernt der Lärm des Lebens. Handke überträgt die unvergessliche Szene – oder hat sie deshalb überhaupt erdacht, vielleicht erträumt – auf sein Schreiben, den eigenen Tunnelblick dessen, der erzählt: „mein einziger Weg zu einer Menschheit ist es, den Dingen des stummen Planeten, dessen Häftling ich, Erzähler sein wollend – selber schuld! –, bin, die Augen eines mich begnadigenden Worts einzusetzen.“

Auf dem Bahnsteig sitzt in sich versunken ein Einarmiger und wirkt verzweifelt. In seiner Hand ein Beutel Tabak, „Samson“. Während es zu nieseln beginnt, dreht er sich unter dem Bahnsteigdach einhändig eine Zigarette. Nur ein einziges Mal in 33 Jahren Rauchen ist dir das gelungen.

Cos-Player: Versuch, die eigene Lieblingsfigur (die in ihrer Unwirklichkeit gefangen ist) nicht nur selber darzustellen, sondern mit Leben zu erfüllen. (4.7.)

Tiersinn – an der Dicke des Bluts dessen Süße zu erkennen.

Morgen die Abiturfeier deines Sohnes. Weißt du noch, seine bange Frage irgendwann, an deiner Hand: „Hat eigentlich jeder, ich meine wirklich jeder, in sich drin ein Sklett?“

„Jedes Arschloch ist anders“, sagt die fette Frau im Zug zu ihren Freunden, alle vier offenbar Mediziner. Sie erzählt von ihren ganz erstaunlichen Erlebnissen mit Paketkurieren und beim Einkauf. Ja, jedes Arschloch ist anders, schon anatomisch, Frau Doktor, aber auch jedes Antlitz. (Wittenberge, 9. Juli)

Wenn du künftig schwimmen gehst in der Ostsee, wirst du da nicht auch in der Asche deines Vaters baden?

Am Morgen nach dem Streit, bevor du das so elende wie triumphale Streitross deines Körpers aus dem Bett hievst, bringen sich die Worthülsen und Redewendungen in Stellung, die dir seit Jahrzehnten jedes Sprechen, jeden wirklichen Austausch verunmöglichen. Erbärmlicher Knecht.

„And I am so sensitive that I seem to be insane; even the stars in heaven discountenance me.“ John Cheever

Hatsune Miku

Drei Lebensbeschreibungen gelesen – Schande, wie erbarmungswürdig mir seither die Gestalt des Andreas Gryphius erscheint! Aber hilflos, ohnmächtig ist doch in Wirklichkeit nur die wissenschaftliche, verwissenschaftlichte Biografieschreibung, die kein bisschen Leben, nichts Zweifelhaftes, kein Spucken, kein Äugen zulässt von dem vor 400 Jahren begonnenen Leben zwischen Glogau, Leiden, Glogau, Danzig, Glogau, Breslau, Glogau. Kein Bild von Andreas Greif – vom „Gryph“, wie der zackige Walter Jens ihn ewigbeflissen von oben herab nennt. Dennoch spricht gerade aus den frühen Sonetten deutlich der Jugendliche, der gestenreich ungestüme, zweifelnde und neugierige junge Mann. (27.6.)

„Magensäure“, sagt das Kind, „könnte in sieben Sekunden ein Fahrrad auflösen.“

Heute wieder Keats. Da in der Publikation von „Die Poesie der Erde ist nie tot“ neun leere Seiten zu bestücken sind, suche ich alte, bisher unveröffentlichte Sonettübertragungen heraus – vor 25 Jahren entstanden, so alt, wie Keats nur wurde. Ich muss schon da wie ein Bekloppter geschrieben haben, auch wenn es sich leichter anfühlte als heute (Trugschluss). Wer ist der, der das alles zusammenstückelte, tausende und abertausende Seiten? Ich fühle mich nicht identisch mit diesem „Mirko“. „That what I want I know not where to seek“, las ich heute in meiner fremden Handschrift von 1991. Und in einem Notizheft von 1988: „Der König ist entthront. Er hat immer nur gelogen.“ Damit konnte nicht Herr Erdogan gemeint sein, denn der war da gerade 34 und dabei, als die türkische Wohlfahrtspartei zur Tugendpartei wurde. Ich erinnere mich, dass der, der das damals notierte, an meinen oder seinen Vater dachte. Auch der hatte allerdings mit Wohlfahrt oder Tugend nichts am Hut.

Das Kind sagt, es freue sich auf die Vollnarkose. „Ich werde herausfinden, wie lange ich widerstehen kann gegen die Ohnmacht.“ (1. Juli)

Hatsune Miku Hatsune Miku hat Millionen Anhänger, es gibt Devotionalien jeder Art von ihr, sogar Ganzkörperkissen, die der verliebte Fan ins Bett mitnehmen kann. Hunderte haben Hatsune Miku bereits geheiratet, und jedem war und ist dies möglich, denn Hatsune Miku ist kein lebendiger Mensch, aber auch tot ist sie nicht, sie ist eine virtuelle Figur eines japanischen Software-Konzerns, die allerdings im Laufe von zehn Jahren eine Art künstlerisches Eigenleben entwickelt hat. Hatsune Miku singt, ihre Gestalt tanzt und schreitet über den Bildschirm, der in Bühnengröße über der Bühne aufgespannt ist, und tausende ihrer Anhänger hören ihr im Saal zu, schwenken ihre Smartphones und singen Hatsune Mikus Songs mit: „Tell your world“, „World’s end dancehall“ und „World’s end umbrella“.

Achte auf die, die zögern, „ich“ zu sich zu sagen. Sie suchen das Gespräch.

Ein gutes Projekt: sieben Jahre Gras.

Ein Schein, ein Scheinen, ein Schreien

„Ich hasse Tabletten!“, ruft das Kind. „Sie machen es nur schlimmer! Sie schmecken nicht! Sie sind nicht mal bunt!“

Das Licht, wie es durch das vielfältige Grün fällt – und die Vielfalt erst erzeugt? Das Licht ist der Sommer, nur ein Schein, ein Scheinen.

Seit drei Wochen brütet eine Ringeltaube in dem Jelängerjelieber-Busch, der bis zum Balkon emporgewuchert ist – und allmählich, fast, fasst sie Zutrauen. Es steht in ihren Augen, und sie zeigt sie dir, beide.

Schlagzeile am Morgen des britischen Referendums für den Austritt aus der EU: „Auf und davon in die Drachensaison!“

„Thank you for entertaining us“, sagt die Amerikanerin zu dem jungen Mann, der ihrem Gatten und ihr zwei Stunden lang im Zug Fragen stellte und aus seinem Leben erzählte, dann steigt sie aus. (Zürich, 24.6.)

Grillfest unter Kirschbäumen im Garten des Bürgermeisters. Über die Berge kommt mit Blitzen und Donnern ein Sommerunwetter, und einer am Tisch sagt: „Die Schwalben fliegen tief und wollen uns das wissen lassen.“ Du hörst das Hochwasser der Etsch vorüberbrausen. Die Kinder des Bürgermeisters räumen die Tische ab. Wir trinken Lagrein. Die Frauen sind alle schön in dem späten Sommerabendlicht, erst recht die über siebzigjährigen Damen mit dem Schmuck der ganzen bereisten Welt. (Glurns, 24.6.)

„Pündericher Bahndammschatten“, sagt der alte Dichter bei Tisch, „Fusel.“ Später, inzwischen gibt es guten Wein, erzählt er: „Als Österreich merkte, die Lombardei geht verloren …“ In seinen weißen Augenbrauen könnten Vögel nisten.

Der Rhein führt schmutziges Hochwasser. Gestern der Platzregen am Bahnhof, vor dem du in einen Imbiss voller Bauern und Busfahrer geflohen bist. Immer wieder die großen Blitze überm Vinschgau. Und am Abend, in der linden Sonne, kamen in zerfetzten Scharen Dohlen aus den Bergen herabgesegelt nach Glurns. (Basel, 26.6.)

Die alte Dame, ein greises Mädchen. Sie ist großzügig, warmherzig, neugierig. Sie erzählt, wie es war, Klaus Kinski zum Freund zu haben. „Ein schwieriger Mensch! Aber er war stets zur Stelle. Er war aufrichtig und zuverlässig.“ Kannst du das glauben? Tu’s.

Der Höhepunkt des deutschsprachigen Biografiegedichts, Günter Eichs „Dauthendey in Java“:

Die kahlen Rebhänge: Randersacker!
Oder der tropische Wald im Regengetropf?
Das Heimweh verwirrte sein kindliches Herz,
der Whisky den Kopf.

Ein williger Leib, javanisch braun.
Und er sann über Muschel und Stein.
Tagelang mochte er nichts essen
und wachte nachts auf und begann zu schrein.

Oboe

Schließ den Mund über der Oboe,
die weißen Töne strahlen
die Luftröhre hinunter
auf dein nacktes Herz.
Frühmorgens, am Tisch
die Milchjahre, eingetauscht
gegen die Angst der Hand vorm Papier,
Einen im Rücken, nah, dass er jede
Silbe zwischen den Zeilen errät.
Wortmulm, Eroberungen des Maulwurfs.
Wo denn ein Land finden, wie zwei Schritt weit
folgen einem Gedanken, da zurückmündet
in die Schuhspitzen der Meridian.
Schließ sie über der Oboe,
deine Lippen. Milch
fließt durch die Röhre, und
wir bilden einen Gesangkreis. Ich
tausche die Bissstellen
im Tisch gegen eine
geheime Musik ein, und du
komm, du komm einmal um die Welt.

Die Welt retten

Kleists Kohlhaas noch einmal. Wie damals die Verstörung, wie nah das Ganze in den Bildern Kafka ist. Diese furchtbaren Rappen. Ob nun Opfer, Streitgegenstand, verwahrlost oder durchgefüttert – die Abgründe des Gemüts als Pferde. Und diese ganzen abscheulichen Zufälligkeiten! Am schlimmsten aber ist Heinrich von Kleists erbarmungsloser Satzbau. Wer sonst hat das Übel des jedem Deutschen aufgepfropften Beamtentums so knallhart hingeschrieben? Das, Kleist, ist’s, ha!, woran, ja, Sie, ich, wir, wohl, ha!, noch alle stets zerbrechen.

Nach den Starkregenwochen stehen die Leute in kleinen Gruppen auf den Brücken und starren fassungslos auf die gewaltig unter ihnen hindurch brausende Isar. Braun, grün, schlammig, böse, gemein fließt der Fluss sonstwohin. Ah, trüge er uns mit sich fort in die lebendige Gegenwart! (München, 16.6.)

Nein, nein, nein!

Fast.

Wenn sich dein Vater kurz vor seinem Tod die Sterbeversicherung hat ausbezahlen lassen – wodurch alle (etwaigen) Kosten seiner (eventuellen) Bestattung auf seine Kinder übergingen –, was glaubst du da: dass er womöglich dachte, er würde ewig leben?

„Die Vielzahl der Formen bringt dich durcheinander und macht dich glücklich.“ John Cheever

Am Schluss eines Absatzes über Tennessee Williams, dessen Werken er nachsagt, sie hätten „eine Form, die wenige Hemmungen kennt und ihren eigenen Gesetzen folgt“, schreibt Cheever weder an sich selbst gerichtet noch an jemanden sonst: „Gut zu schreiben, leidenschaftlich zu schreiben, weniger gehemmt zu sein, wärmer zu sein, selbstkritischer zu sein, anzuerkennen sowohl die Macht als auch die Kraft der Lust, zu schreiben, zu lieben.“ (20.6.)

Die Illusion, die Welt, die ganze Welt retten zu können mit ein paar Handgriffen, tausend, hunderttausend wiederholten, den Anderen aufoktroyierten Handgriffen. Nichts als Eitelkeit. Die Welt – die es gar nicht gibt – braucht nicht gerettet zu werden, sie rettet sich selbst, eher als du dich versiehst. (23.6.)