Zwischen Rhône und Durance

Die Rhône bei Avignon, so breit und weit das Auge reicht. Hochwasser bis zum Horizont. Über die silbernen Wasserebenen ziehen Vogelschwärme hin, ganz so, als gäbe es die Menschen nicht mehr. Nebelbänke fluten durch die Engpässe des Hügellands. Baumreihen und Wäldchen sind versunken, die Scheunen und Weiden auf den Inseln im überschwemmten Strom verlassen. Dies ist die Landschaft des neuen Romans „Letzte Linie zum Meer“.

Die Felshänge, die das Hochplateau von Valensole, dem „Tal in der Sonne“, begrenzen, sind am Ende des Winters – denn hier ist der Winter so gut wie vergangen – vom genau selben blassen und matten Graugrün wie die endlosen Reihen des Lavendels auf den Felderweiten – abgeblüht, schlafend, wie träumend kurz vor dem neuerlichen Erwachen. (St. Kurs, 28.1.)

Nichts hat Bestand von deinen Kindheitsorten, nur in deiner Erinnerung – weshalb das wohl ihre Aufgabe sein wird. In Bras d’Asse, rechts der heruntergekommenen Brücke (sie ist eine alte Madame, Jahrgang 1881, Victor Hugo lebte noch) über den Asse-Fluss, der Pont d’Asse, stand vor dreißig Jahren eine kleine Bar, ein Imbiss für die Familien, die auf dem Schotter des Flussbetts ihre Sommernachmittage verbrachten. Als hätte es dieses Häuschen nie gegeben, ist an dem Fleck heute alles verwildert, überschwemmt, mit Schutt zugeschoben. Solange dort niemand geht, der als Kind dort spielte, ist alles verschwunden, was einmal anders war … Erst mit der Erinnerung, die lebendig wird mit den Schritten hier, lebt auch der Ort wieder auf und wird Ufer. Die Stille der sich fortwährend verändernden Welt ist zu hören, durch die Erinnerung hört die Stille der Welt auf zu schweigen.

Der Mistral trocknet die Wäsche auf der Terrasse in einer halben Stunde.

Nebenan wohnt die Orthophonistin.

Was wir nicht sind

Zwei weitere kurze Auszüge aus Richard Fords „Memoir“ „Between Them“, „Zwischen ihnen“, übersetzt von Frank Heibert: 1. „Dieser Aspekt der Beziehung zu unseren Eltern wird oft übersehen oder geringgeschätzt: Sie verknüpfen uns in unserem begrenzten Lebensrahmen mit etwas, das wir nicht sind; das sorgt für Nähe und Fremdheit zugleich und schafft ein fruchtbares Geheimnis – sodass wir auch umgeben von ihnen in gewisser Weise allein sind.“ 2. „Diese Lektion [wie andere Leute die eigene Mutter sehen – M.B.] lernt man natürlich am besten früh – niedlich, klein, schwarzhaarig, eins vierundsechzig –, weil das umfassende Kennenlernen unserer Eltern zu den größten Herausforderungen für uns alle gehört – vorausgesetzt, sie leben lang genug und es ist lohnenswert, sie kennenzulernen, und überhaupt physisch möglich. Je umfassender der Blick auf unsere Eltern ist – ein Blick, der letztlich einschließt, wie die Welt unsere Eltern sieht –, desto größer unsere Chancen, auch die Welt so zu sehen, wie sie ist.“

Tubus

Nach Erich Fried

Es ist unter-
drückt, sagt
die Verein-
zelung. Es
ist, was es
zerfrisst, sagt
der Tubus.
Es ist verun-
sichert, sagt
die Brechung.
Es ist vernich-
tet, sagt die
Annexion.
Es ist un-
säglich, sagt
die Ausgren-
zung. Es ist,
was es zerfrisst,
sagt der Tubus.
Es ist gelähmt,
sagt das Beben.
Es ist eine Leiche, sagt das Gedicht. Es ist unmenschlich,
sagt das Schweigen. Es ist, was es zerfrisst, sagt der Tubus.

Ausflug in die Nekropole

„Ich betrachte dieses Heft, ich habe nur das Datum geschrieben, ich hebe den Kopf, ein Sperling schlägt am Himmel die Flügel, und voilà: Meine Seite ist geschrieben, der Vogel trägt gerade den ganzen Tag auf seinen Flügeln.“ Christian Bobin

Im Regal – dem „Sideboard“ – stehen sechs Geräte und blinken vor sich hin. Was ist ihre Aufgabe, ich meine: Was bedeuten sie? Was wollen die? Etwas wissen? Etwas mitteilen? Etwas vergessen oder vergessen machen? Etwas vermitteln oder unvermittelbar halten?

Seit vier Tagen schüttet es. Auf den Straßen keine Seele. Nur die Katze kommt frühmorgens, mittags und abends zu dir. Liegt auf deinem Schreibtisch vor dem grauen Garten, als würde sie sagen: „Schreib nicht, okay? Was soll das Ganze?“

Wunder geschehen – ich weiß es –, und mitunter sind sie elektrisch. Der Elektro-Installateur ist ein Amateur im besten Wortsinn: Er liebt, was er da tut. Für die Reparatur des Geschirrspülers will er kein Geld, auf keinen Fall. „Ich mache das für Sie“, sagt er, „ich mache das aber auch für mich, aus Neugier, als Herausforderung.“

In Marseille erkenne ich an den Hauswänden die alten Graffiti und Wandsprüche wieder, nicht die gleichen von vor 20 Jahren – Januar 1998 –, sondern dieselben. Auch in diese Stadt bin ich immer wieder zurückgekehrt – zufällig? Wohl kaum. Wie Frankfurt und Innsbruck ist Marseille eine der Hauptstädte in meinem poetischen Kosmos. Einige der besten Passagen aus „Ein langsamer Sturz“ nehmen in Marseille ihren Ausgang. In Marseille, im C.I.P.M., dem internationalen Poesiezentrum, einer der bedeutendsten Lyrikbibliotheken Europas, las ich im Sommer 1997 zum ersten Mal Gedichte von Ghérasim Luca und fing an, ihn zu übertragen. „Die verzweiflung hat drei paar beine …“ Die kürzeste Erzählung in meinem Band „Feuerland“ heißt „Tauchen“ und spielt in Marseille – sie ist ursprünglich ein ausgegliedertes Kapitel aus „Ein langsamer Sturz“, doch ich habe die Geschichte 15, 17 Jahre lang immer wieder bearbeitet und umgeschrieben. Ich war dafür immer wieder in Marseille, zumindest in meiner Vorstellung. Hier nahm mein Leben eine Wendung, die nicht abgefälscht werden konnte durch Geldverdienenmüssen und das Unheil der sogenannten Sachzwänge. In Marseille erfuhr ich im Januar 1998 vom Tod meiner Großmutter. Im Januar 2011 reiste ich mit einer Delegation des PEN nach Sanary-sur-Mer, um eine Plakette zur Erinnerung an deutschsprachige Exilautoren zu enthüllen, eine Reise, die auch nach Marseille führte, zu einer Lesung in einem Café am Alten Hafen. Ich sah im Panier, dem alten Korbmacherviertel, wo heute größtenteils Nordafrikaner leben und Künstler ihre Ateliers haben, die Straße wieder, in der meine Wohnung seinerzeit war. Marseille ist meine Nekropole. Fast alle Freunde, mit denen ich je dort war, sind keine Freunde mehr. (27.1.)

Fotos: Treppe zum Bahnhof Marseille-St. Charles (1), Bibliothek des Centre international de poésie Marseille (2), Rue du refuge, Marseille (3)

A so chli gsi

„Dass wir das Leben unserer Eltern nur unzureichend erfassen, sagt nichts über ihr Leben aus. Nur über unser eigenes. Es ist höchstens ein Ausdruck von Respekt, wenn man anerkennt, dass man nicht alles weiss, Kinder haben ohnehin einen verengten Blickwinkel auf alles, was sie umgibt. Das Nichtwissen hingegen, das blosse Spekulieren über das Leben eines anderen lässt diesem Leben die Freiheit, mehr zu sein, als es wirklich war“, so Richard Ford in seinem „Memoir“ vom Leben seiner Eltern, „Between Them“, „Zwischen ihnen“, übersetzt – immer wieder sehr glücklos – von Frank Heibert.

In der Nacht scharrt das Bergland ans Fenster, und du wachst auf und bist wieder Kind, verwandelt vom Regen. Am Morgen überall der Schnee auf den Feldern und in den Wäldern. (Looren, Zürcher Oberland, 17.1.)

„Drr Chella Gotfritt!“, ruft eine so kleine wie breite Schweizerin, als sie im Kunsthaus Zürich in den Saal platzt und ein Bildnis Gottfried Kellers erblickt. „Drr isch a so chli gsi!“ So klein sei der gewesen! Und die Beule von Frau zeigt auf ihren sich in den Raum stülpenden Bauchnabel.

Jacottets Gedichte gelesen, eingeschlafen über dem silbernen Leuchten des Zürichsees.

Noch einmal Ford, in seiner Vorbemerkung zu „Between Them“ notiert er: „Das Eindringen in die Vergangenheit aber ist in jedem Fall eine heikle Sache, weil die Erinnerung uns zu den Menschen machen will, die wir sind, und immer wieder halb daran scheitert.“