Ein innerer Wellengang

Schockierende Begegnung mit dem Gesicht des früheren Freundes, der einst so laut, so überzeugt von sich, so über alle Maßen demonstrativ und widerständig schien. Aufgedunsen, still, verharrend im Abwarten auf das, was ihn ereilen mag. Man hat nie mit ihm sprechen, immer nur reden können. Sprechen mit ihm hieß stets, nach Bedeutungen zu suchen in seiner demonstrativen Sprache, dem Sich-kund-und-groß-Tun über Frauen, Musik, Bücher, Leute, Politik, Autos, seine vor sich her getragenen Ansichten. Alles hat dich geprägt. Alles konntest du verwerfen – oder umformen und dir anverwandeln. Sein hilfloses, nein ratloses Gesicht. Das vertraute Antlitz. Selbst einigen deiner Gedichte ist es eingeschrieben, und endlich – sagst du dir erleichtert – zeitigt es die ihn von Anfang an aufzehrende Verlassenheit. Für deine Zuwendung aber ist es lange schon zu spät, zu spät, zu spät. Zu spät! (Uhlenhorst, 18.2.)

Ein innerer Wellengang, der Blutzuckerspiegel.

Oh du schönes, anschauliches Beispiel für die Zermürbungsmechanik meines Gedächtnisses (dieses angebliche „Sich-erinnern“): Nie vergessen habe ich Robert Kellys auf Deutsch nur in einem Rowohlt-Literaturmagazin erschienenen Gedichtzyklus „Postkarten aus der Unterwelt“ – woran genau aber ich mich entsinne, ist, abgesehen von dem spröde-erstaunten Ton der Gedichte, lediglich eine einzige Metapher: „In der Unterwelt ist es so eng wie in einem Toaster.“ Wo habe ich das seinerzeit, Mitte der Neunziger wohl, gehört oder gelesen? Wiedergefunden über das Internet (verzeichnet auf einer kalifornischen Uni-Seite) und das Buch endlich (wieder?) selbst in Händen (Rowohlt „Literaturmagazin“ 34, „Über das Darstellbare“, Reinbek bei Hamburg, September 1994), liegen vor mir die Scherben eines Textes, den es nie gegeben hat. Bei Kelly (in der Übersetzung von „Frederic C. Hosenkeel“ aka Schuldt) heißt es zu Beginn des 24. und abschließenden Teils von „Postkarten aus der Unterwelt“: „In jenem Land gibt es eine Entfernung / die zwischen zwei Menschen paßt wie Brot in einen Toaster.“

Retzlaff & Stoffregen

Hier ist nichts. Keine Seele. Die Leute, allesamt freundlich, scheinen zu warten, die Zeit totzuschlagen mit dem Warten darauf, wieder arbeiten zu können. Morgens weckt dich das Branden des Verkehrs. Die Wagen brausen heran und hinein in den Tunnel unter der Stadt, um rascher in die Großstadt zu gelangen. Endlich wieder aus dem Haus! Zur Arbeit! Du gehst durch graue Siedlungen, alles ist friedlich, alles geordnet und ordentlich, pragmatische Paläste mit Vorgärten und Müllhäuschengassen. Das Altglas fällt metertief in unterirdische Behälter. Roboter auf den Straßen, die Hunde(roboter) ausführen, würden nicht verstören, kaum auffallen. Vom Zug aus siehst du einen Schriftzug auf einem Bürogebäude: ANGST & PFISTER. Es ist alles gut so. (11.2.)

Und war sie unzufrieden mit ihrem Äußeren, ihrem Gesicht, ihrem Augenglanz, dann schnitt sie sich den Pony kurz, radikal kurz, so kurz, dass sie vor dem Spiegel erschrak.

Die erschrockenen Gesichter Giacomettis und Walsers auf den 100- und 200-Franken-Banknoten.

Der Schnee bleibt liegen im Schatten der Waldungen oben auf den Hängen und Hügelkuppen. Der weiße Schatten. (Lenzburg, Goffersberg, dem „Gofi“, 13.2.)

Drôle de mère.

Bin ich etwa selbst der Retzlaff?

Im Schwimmbad hörst du den Beginn, den allerersten Satz eines Gesprächs zwischen zwei einander fremden Jungs: „Wollen wir Freunde sein?“ Dann beginnt das Spielen.

Mein Exemplar von Simenons „Die Phantome des Hutmachers“ hat auf dem Schmutzblatt ein Exlibris: „Dr. Stoffregen 28.10.82“. Der Roman – er beschäftigt meine Fantasie seit Jahrzehnten (und immerzu regnet es), beginnt, nein es ist der zweite Absatz, in dem es heißt: „Und es regnete seit dem 13. November. Ja, man konnte behaupten, es regnete ohne Unterlass seit zwanzig Tagen.“

Flämmchen

Die Wörter sind undankbare Begleiter. Man muss sie liegenlassen und, statt sie im Kopf herumzuwälzen – unter der Schädeldecke, in der Mundhöhle, am Gaumensegel –, den Leuten ins Gesicht blicken: „Ich gebe nicht auf. Ich fange noch mal von vorne an“, wie Lars Gustafsson schrieb.

Das 122. Fragment Heraklits aus „Über die Natur“ besteht aus einem einzigen Wort: „Annäherung“.

Jedes Zündholz, das abbrennt, waagerecht gehalten, zeigt in seinem Flämmchen deinen Namen.

Die Namen der Kornblume: Blaufruchtblust, Blaumütze, Bloch Kühreblome, Chorenpluem, Flessän-Durt, Hunger, Hungerblom, Karenbloimeken, Karnblume, Kleinblume, Korenblum, Kooreblome, blau Kornnägelein, Kürnbleamen, Kwast, Rockenblum, Roggeblöme, Roggenblom, Roggenblume, Rogghebloem, Ruschelinc, Schanelke, Schneider, blaue Schneider, Sechel, Sichelblume, Strämpsen, Thremse, Trämpst, Trehms, Trembsen, Tremisse, Trempen, blagen Trems, Tremse, Weydblum, Weitblum, Zachariasblume, Ziegebock, Ziegenbein, Zyane.

„Denken Krabben, dass Fische fliegen?“, fragt das Kind.

Wo keiner liebt, wohnt niemand.

Wenn sie einsam war, redete sie mit ihrem Lieblingspullover: „Heute nimmst du mal ein Bad. Keine Widerrede!“

Die Birnenkonferenz!

Handtaschen

In den Handtaschen deiner Mutter gibt es
ein Gerät, wenn du das anknipst, hört man
wie früher den Staubsauger im Kinderzimmer.
Fotos von dem Chaos nach einem Zugunglück
liegen verborgen hinter den Reißverschlüssen.
Mach jede Tasche auf, es regnet darin immer.
Aber es gibt keine Unwetter dort im Dunkeln,
nur Tränenschauer. Jede Handtasche weint.

In der Handtasche von Oma Käte war nichts
außer ihrem Schlüsselbund, einem Päckchen
Papiertaschentücher und dem Faltregenschirm.
Ihre Handtasche war ein Beutel, dünn, eine Haut,
mit zwei Omafingern kleinzuknüllen auf die Größe
einer Rosine, eines Reiskorns. Eine Handtasche,
sagte sie, wozu das, hm, Krimskrams, Plunder?
Ständig gab sie Opa Sachen: „Da, steck ein.“

Eine Landkarte des wiedervereinigten Korea,
Pokémon-Figuren und Plastikkaninchen, leere
Karamellpuddingbecher und kaputte Ladekabel
liegen in den Handtaschen deiner Töchter neben
irgendeiner Tasche ihrer Oma und der Beutelhaut
von Uroma Käte. Manchmal kriecht eine Tochter
in die Handtasche der anderen und schläft dort.
Jede ihrer Handtaschen ging bislang verloren.

In der Handtasche deiner Frau lebt eine Unke,
apfelgrün ist sie und schön. Umher schwirrt darin
ein Mückengeschwader, das Futter für den Lurch.
Alle Handtaschen von allen deinen Freundinnen
sind in der Tasche deiner Frau. Deine Geliebte
hat deshalb keine Handtasche, dein Liebling
entwirft Handtaschen. In der deinen wächst
Gras. Still ist es darin, wie im Universum.

Avignon

Das Blau der Seen von Estarron und Ste. Croix ist dunkelgrün, ihr Wasser so kalt wie Schnee. Terrassenstufen die Ufer. Niemand ist dort im Winter, wo in den heißen Sommermonaten der ganze Luberon zu baden und zu lachen scheint.

Die Dohlen von Volx! Jetzt, da die Feigenbäume kahl sind, schwirren sie spottend um den Kirchturm.

Jean Giono über sein Geburtshaus in Manosque: „Zu dritt: Mein Vater, meine Mutter und ich, wir hatten allen Platz, den wir brauchten – ein riesiges Haus (Grand-Rue Nr. 14) mit mehr als zwanzig Räumen, alle groß genug, um darin auf einem Pferd zu reiten, und mit einer Zimmerdecke höher als die Nacht. Wir waren so frei wie die Luft. Ah! Natürlich, das Haus war völlig heruntergekommen: Der Fußboden schwankte wie die Brücke eines Schiffs … Das Dach hatte Löcher wie ein Sieb. Es regnete auf mein Bett.“

Kein Augenblick, noch nicht mal der schlimmste, dauert länger als ein anderer. In Avignon, im Verlauf eines dreiminütigen Halts des TGV, wird dir aus dem geschlossenen Koffer der Laptop gestohlen – und du verlierst große Teile der unsichtbaren Fundamente deines Werks. Selbst schuld, wenn du die Gedichte und Übertragungen nicht sicherst, wenn du dein Gepäck im Rücken verstaust und wenn du einen schmierigen Kleinkriminellen, der mit dir im Abteil sitzt und es gar nicht für nötig befindet, sein Naturell zu verbergen, nicht im Auge behältst. Ist hier die Grenze der Poesie? Nein. Auch hier, selbst hier, bei diesem Raub eines Stücks deines Lebens, findest du sie nicht. Verloren ist unter anderem das rote Tuch, mit dem du immer die Laptop-Tastatur abgedeckt hast, ein Tuch, das du 1983 gekauft hast – bei „Michelle“ am Hamburger Glockengießerwall, um damit deine Schallplatten staubfrei zu wischen –, blass-schwarz stand ANTI-STATIC darauf. Der Dieb dürfte den richtigen Moment abgepasst haben: In Avignon gingen die Waggontüren auf, da stand er schon in deinem Rücken, er öffnete den Kofferreißverschluss, nahm die Laptop-Tasche heraus, schloss den Kofferreißverschluss wieder (womit er sich als der Besitzer ausgab – clever, mon frère) und stieg aus … indem er die gestohlene Tasche in seinem Rucksack verschwinden ließ. Du vermisst dein australisches Reisejournal „Erzähl es den Bienen“. Du vermisst eine Handvoll Übersetzungen von Gedichten Emily Dickinsons. Du vermisst an die hundertfünfzig Gedichte. Du vermisst Übertragungen von Gedichten von Robert Creeley, E. E. Cummings, Frances Leviston, Walt Whitman … und vieles mehr. Es ist ein tiefgreifender Einschnitt. Aber es ist weit mehr, wenn du das Ganze poetisch betrachtest – als Lebensereignis – und deine Lektion in ihrer existenziellen Tiefe zu begreifen versuchst.

Den ganzen Tag lang Bonnie „Prince“ Billy gehört. „For an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy, for an hour I was happy – and then it all went a-black“. „One of maybe 140 humans alive today“, schreibt auf Youtube „hermeschbird“ über Will Oldham.

Im Jahr 2118

Liebe Linda Jahilo,

im Jahr 2118 wird meine Urururenkelin ein altes Buch aus Papier mit Gedichten ihres Urururgroßvaters zur Hand nehmen und darin lesen. Sie wird Linda heißen, so wie Sie, eigentlich aber, weil ihre Mutter, meine Ururenkelin, ihre Tochter nach einer Romanfigur von mir benannt hat – ein junges Mädchen, das in meinem Roman „Lichter als der Tag“ das Elsternkind genannt wird und das zusammen mit ihrem Vater im Musée des Beaux Arts in Lyon ein Gemälde von Camille Corot stiehlt. Linda hat nicht mehr sehr viele Bücher aus Papier in ihrem unterirdischen Wohnturm. Sie liebt aber die Stimme, die aus der Tiefe der Zeit zu ihr spricht, die Musik der Wörter, die ihr auch eine Musik der Bedeutungen zu sein scheint. Die Gedichte in dem Band, der genau 100 Jahre alt ist und ein leeres rotes Bett vor einer grünen Wand zeigt – er heißt „Wimpern und Asche“ –, bewahren für sie eine seltsame Kraft auf, eine Stärke, die sich auf sie überträgt, weshalb sie immer wieder in den Gedichten liest und sie wie einen Schatz verwahrt. Linda glaubt, den Reichtum der Welt zwischen den Zeilen hindurchleuchten zu sehen, eine Pracht, die unvergänglich ist und keinen Namen benötigt.